Wie du stärkere Gegner schlägst

Wenn ich auf einen höher bewerteten Gegner treffe, gehe ich in die Partie, um ihn oder sie zu schlagen. Immer. Passivität? Ein Remis ansteuern? Keine Optionen. Ich will mein eigenes Spiel spielen, das Kommando übernehmen und aus einer Position der Stärke heraus gewinnen. Anstatt Angst vor meinem Gegner zu haben, vertraue ich meiner Intuition. Anstatt passiv zu spielen und auf den Glückstreffer zu hoffen, spiele ich aktiv und versuche, Fehler zu erzwingen.

Jüngster Großmeister der Schweiz, mehrfacher Schweizer Meister und Nationalspieler, Elo 2582: Noël Studer hat seine Profikarriere 2021 beendet. Jetzt hilft er anderen, besser im Schach zu werden. | Fotos: Hartmut Metz

Um dir die ganze Wahrheit zu erzählen: Dieser Ansatz kann dich kurzfristig einige Punkte kosten. Aber mittel- und langfristig wirst du erheblich davon profitieren. Wer im Schach besser werden will, muss sich Herausforderungen stellen. Verlorene Partien sind Teil des Prozesses. Sie lassen sich nicht vermeiden.

Nehmen wir an, du hast ein Rating von 1500 und spielst gegen einen Gegner mit einem Rating von 1600 – kein allzu großer Abstand. Bestimmt willst du nicht nur passiv dastehen und versuchen, ein Remis zu bekommen. Würdest du dich derart limitieren, würdest du nie lernen, einen 1600er aus einer Position der Stärke heraus zu schlagen. Und dieses Prinzip gilt auch, wenn der Rating-Abstand zum Gegner größer ist als 100 Punkte.

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Dein Rating kannst du auch als der oben beschriebene passive Remisspieler steigern, vielleicht kommst du auf 1600. Aber du wirst auf diesem Level stecken bleiben, weil du dir nie erschlossen hast, wie du Gegner auf diesem Level besiegen kannst. Du hast deine vollen Punkte ja nur gegen deutlich schlechtere Gegner gemacht und dich gegen bessere darauf beschränkt, einen halben Punkt zu bekommen.

Wenn du versuchst, auf den ganzen Punkt zu gehen, wirst du die eine oder andere Partie verlieren. Aber sobald du bereit bist, wirst du die 1600er reihenweise schlagen, einen nach dem anderen. Du weißt ja, wie es geht, du hast es vorher schon versucht, gelegentlich mit Erfolg. Und davon profitierst du, sobald du die nächste Stufe erklommen hast.

Schmerzhafte Verluste

Eines meiner schmerzhaftesten Turniere war ohne Zweifel das GM-Turnier in Biel 2017, das bis dahin stärkste Turnier, an dem ich je teilgenommen hatte. Sieben von neun Gegnern hatten ein Rating über 2650. Mit 2493 war ich einer von zwei großen Außenseitern in diesem Turnier.

Angesichts solcher Gegnerschaft hätte ich versuchen können, so solide wie möglich zu spielen und Niederlagen möglichst zu vermeiden.

Ich habe mich entschieden, in jeder Partie Komplikationen zu suchen.

Jede Partie gegen einen stärkeren Gegner ist eine kostenlose Möglichkeit, etwas zu lernen. Du kannst dich mit jemandem vergleichen, zu dem du aufschaust, du kannst fühlen, was dir fehlt, um selbst auf dieses Niveau zu kommen. Es ist wie eine kostenlose private Lehrstunde. Verschenke solche Gelegenheiten nicht!

Du siehst, mein Ergebnis in Biel 2017 war eine Katastrophe. Je länger das Turnier dauerte, desto schwieriger war es, meiner Herangehensweise treu zu bleiben. Aber ich habe bis zum Ende gekämpft, obwohl mich die Ergebnisse frustierten. Keine schnellen Remis’, kein passives Schach.

Ich hatte zwei Gewinnstellungen und stand einige Male besser. Diese Vorteile in Punkte umzumünzen, ist mir nicht gelungen. Aber ich habe mir selbst bewiesen, dass ich in der Lage bin, meine Einstellung zum Schach durchzuziehen: Kurzfristige Verluste erleiden, sie bewusst hinnehmen, um daran zu wachsen und auf lange Sicht besser zu werden.

Runde zwei gegen Turniersiegerin Hou Yifan. Vielleicht wäre es anders gelaufen, hätte ich diese Partie gewonnen.

Der andere Außenseiter, mein Landsmann Großmeister Nico Georgiadis, spielte fantastisch: fünf Punkte aus neun Partien – mit einem ganz anderen Ansatz. Ihm ging es darum, die maximale Punktzahl zu erzielen. Das zahlte sich aus, alle sprachen über Nico und sein tolles Turnier. Mein desaströses Ergebnis kostete mich die Einladung zum GM-Turnier 2018, wo Nico die Chance hatte, gegen Carlsen, Mamedyarov und Co. anzutreten.

Und ich? Ich fühlte mich wie ein Idiot.

Trotzdem: Die Gewissheit, dass sich mein Risiko auszahlen würde, blieb.

Belohnung

Und es zahlte sich aus. Bis zu meinem Rücktritt vom Turnierschach im August 2021 hatte ich zunehmend das Gefühl, dass ich an einem guten Tag jeden Spieler mit beiden Farben schlagen kann. Bewiesen habe ich das viele Male. Der wahrscheinlich größte Erfolg war ein Schwarzsieg 2019 über Großmeister Pentala Harikrishna, damals Elo 2749 und in den Top 20 der Welt:

Ich spielte die französische Winawer-Variante, eine der komplexesten der Schachtheorie, schon das eine Kampfansage. Nach einem frühen Fehler von ihm vermied ich die Zugwiederholung im 22. Zug. Von da an schaute ich nie zurück, nur dem vollen Punkt entgegen, der sich nach langem Kampf einstellte.

Als ich zum GM-Turnier in Biel 2020 zurückkam, hatte ich den gleichen Ansatz: Jede Partie auf Sieg spielen. Dieses Mal war mein klassisches Ergebnis von 2/7 immer noch enttäuschend, aber ich stellte erhebliche Verbesserungen fest.

GM Anton Guijarro habe ich klar geschlagen, dazu kamen drei Gewinnstellungen mit Schwarz. Zwar habe ich daraus nur einen halben Punkt gemacht, aber ich hatte das Gefühl, dass ich sehr nah dran war, gegen exzellente Konkurrenz ein starkes Ergebnis zu erzielen.

Fun Fact: Ein Freund kritisierte meinen letzten Zug (Th5-h6). Er wollte Thg5! sehen, damit alle Felder auf der g-Linie besetzt sind 🙂

Tatsächlich habe ich bei einigen Turnieren der jüngeren Vergangenheit stark gepunktet.

Solche Ergebnisse wirst du nicht schaffen, wenn du den leichten Weg gehst.

Ich bekam viele Nachrichten, auch von starken GM. Die Leute waren neugierig geworden: Wie ist es möglich, solche Ergebnisse gegen starke Konkurrenz zu erzielen?

Die Antwort ist einfach: Ich trainiere seit vielen Jahren dafür. Es war Zeit für die Belohnung.

Und jetzt du

Viel schlimmer, als mit 1/9 auf heimischem Boden gedemütigt zu werden, kann es nicht kommen. Und doch habe ich überlebt. Auch du wirst Rückschläge wegstecken, daran wachsen. Probiere es aus. Sei bereit, kurzfristig zu investieren, um langfristig große Gewinne zu erzielen.

Wenn du das nächste Mal gegen einen höher bewerteten Gegner antrittst:

  • Folge deiner Intuition.
  • Verfalle nicht in Passivität.
  • Angreifen!
  • Die Initiative suchen!
  • Wiederhole keine Züge, wenn sich deine Position gut anfühlt.
  • Biete NIEMALS remis an, wenn du besser stehst.

Die Gründe für seinen Rücktritt vom Profischach Ende 2021 hat Noël Studer auf seiner Website ausführlich dargelegt. Während Studer noch spielte, entstand schon seine Website “Next Level Chess”, deren Vielzahl pointierter, praxisnaher Beiträge zum Schachtraining und -mindset bald internationale Aufmerksamkeit erregte. Auf Deutsch waren Studers Einsichten bislang nicht zu lesen – bis jetzt. Eine Auswahl der besten Beiträge, leicht bearbeitet und gegebenenfalls aktualisiert, wird nach und nach bei den “Perlen vom Bodensee” erscheinen.

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Thorsten
Thorsten
2 Jahre zuvor

Guter Beitrag von Noel, der eine echte Inspiration ist. Leider wird in Deutschland nach meiner Beobachtung im Jugendschach und von vielen Jugendtrainern falsch gedacht. Das dürfte eine der wichtigsten Ursachen sein, weshalb die Zahl der herausragenden Talente in der Spitze im Vergleich letztlich wenige sind. Oder anders: Wenn schon Kinder mit Elozahlen von 1500 gesagt bekommen, dass ein Remis gegen einen 1600er (Beispiel) ein gutes Resultat ist, dann kann es langfristig nicht klappen.

Gerald
Gerald
2 Jahre zuvor

Gute Gedankengänge. Zu oft setzt man sich Ziele wie “Zumindest die Hälfte der möglichen Punkte.” und hat diese dann im Hinterkopf, wenn man gegen stärkere Spieler antritt nach dem Motto “Gegen Stärkere ein Remis und gegen Schwächere ein Sieg oder Remis und das Turnierziel ist erreicht.”

Last edited 2 Jahre zuvor by Gerald
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[…] im Schach zu werden, das, was gerade erst der neue Perlen-Autor Noël Studer jedem Schachspieler nahegelegt hat: Siehe Partien gegen starke Gegner als Gelegenheit, daran zu wachsen. Verschwende sie nicht, suche […]