Die Reizfigur

Mit einem Sieg über Praggnanandhaa hatte sich Sergey Karjakin eine prächtige Ausgangsposition für die zehnte Runde beim Tata Steel Chess erkämpft. Gegen Magnus Carlsen würde er die weißen Steine führen. Ein Sieg in der Neuauflage der WM-Paarung von 2016, und bei drei noch zu spielenden Runden säße der Russe dem Norweger mit einem halben Punkt Abstand im Nacken.

Karjakin weiß ja, dass er Carlsen schlagen kann. Beim Norway Chess im September 2021 hatte er den Weltmeister zum ersten Mal seit dem WM-Match 2016 besiegt, Carlsen hat seitdem keine Turnierpartie verloren. Jetzt war das Feld für einen neuerlichen Zweikampf auf der Zielgeraden des Tata Steel Chess bereitet.

Carlsen als alleiniger Tabellenführer mit Schwarz wollte und brauchte keinen Kampf auf Biegen und Brechen. Statt seines Sizilianers setzte er Karjakin die Berliner Verteidigung vor. Die solidestmögliche Lösung zwar, trotzdem eine heikle Wahl: Als Mitglied von Team Ian Nepomniachtchi war Karjakin daran beteiligt, seinen Landsmann für den Fall zu präparieren, dass in Dubai Berlin auf dem Brett steht. Aber das stand es nicht. Die WM-Vorbereitung Nepomniachtchis auf die Berliner Verteidigung ist unverbraucht.

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Nach 20 Minuten war alles vorbei. Carlsen bleibt vorne, Karjakin wird nicht um den Turniersieg mitspielen. Dafür hätte er Carlsen schlagen müssen. | Foto: Tata Steel Chess

Eine Chance für einen bis in die Haarspitzen präparierten Karjakin, Carlsen auf diesem Feld zu testen? Carlsen zufolge durchaus: „Ich glaube zwar, dass meine Eröffnungswahl ihn überraschend getroffen hat, aber ich war auch selbst im Unklaren darüber, was mich erwarten würde.“

Die Chance, mit dieser Unklarheit zu arbeiten, verstrich ungenutzt. Karjakin entschied, keine Geheimnisse zu enthüllen. Das berlinimmanente Remisangebot des Schwarzen nahm er nach kurzem Nachdenken an, indem er die Partie in ein bekanntes Remisabspiel steuerte.

„Vielleicht hatte er ein paar Ideen, für die er sich aber nicht bereit fühlte, und hat deshalb schnell Feierabend gemacht. Eine verpasste Chance auf einen Kampf mit einem starken Gegner ist immer schade, aber turniertechnisch ist es für mich in Ordnung“, sagte Carlsen nach der Partie.

Gegenüber norwegischen Schachmedien wurde er deutlicher: Karjakin habe die Chance, ein schnelles Remis zu bekommen, mit beiden Händen ergriffen.

“Wenn das die WM-Vorbereitung war, traurig.”

16 Züge und 20 Minuten hat die Partie gedauert. Aber das Nachspiel, ausgelöst von einem Karjakin-Tweet, war das längste und emotionalste aller in Wijk gespielten Partien, es hält bei Veröffentlichung dieses Beitrags noch an.

Neben dem halben Punkt in der Turniertabelle gewann Karjakin durch das Remis 1,7 Elo. Carlsen auf seiner Mission 2900 büßte ebenso viele Ratingpunkte ein. Darauf bezog sich Karjakins Tweet unmittelbar nach der Partie:

Wäre es ein Tweet von Anish Giri gewesen, er wäre als der Scherz durchgegangen, als der er wahrscheinlich gemeint war.

Bei der Reizfigur Karjakin versteht die Schachgemeinde keinen Spaß. Das hängt nicht nur mit der Neigung des Weltranglisten-17. zu schnellen Friedensarrangements zusammen. Bei seiner Kritik an Daniil Dubovs Mitgliedschaft im Carlsen-Sekundantenteam und seiner Kritik an der Entscheidung, Dubov den Freiplatz für den Grand Prix zu geben, sah ihn jeweils eine Mehrheit der Beobachter auf dem Holzweg.

Daniil Dubov im Grand Prix? Das findet Sergey Karjakin nicht richtig.

Und dann noch die vergiftete Unterstützung für Dubov in der Masken-Debatte. Als Dubov gegen Giri nicht mit Maske spielen wollte, weil er das so nie vereinbart hatte, verkündete Karjakin sogleich öffentlich, er würde niemals eine Schachpartie mit Maske spielen.

Wer nicht genauer hinschaute, konnte glauben, Karjakin stelle sich in dieser Sache vor Dubov. Tatsächlich stellte er sich mit seiner Fundamentalverweigerung in die Reihe der Radikalen, die das Tragen einer Maske beim Schach prinzipiell ablehnen.

“Würde niemals eine Schachpartie mit Maske spielen.”

Beim WM-Match 2016 hat sich Karjakin den Ruf eines fairen, freundlichen Sportsmanns verdient. Gut fünf Jahre später hat er sich in der öffentlichen Wahrnehmung an einen Punkt manövriert, an dem er nicht einmal mehr einen Scherz machen kann, ohne dafür kritisiert zu werden.

Natürlich bekam Karjakin nach seinem 2900-Tweet sogleich jede Menge Gegenwind zu spüren – was dazu führte, dass er meinte, sich fürs Kurzremis gegen Carlsen rechtfertigen zu müssen…

…allerdings mit einem untauglichen Whataboutism. Karjakin zeigte eine Reihe Carlsen-Weißremis’ im selben Abspiel, allerdings gespielt als Teil von Online-Schnellschach-Matches bei der Carlsen-Tour. Das bekam er sogleich vorgehalten. “Willst du jetzt auch noch Bongcloud-Remisen zeigen?”

Vom neuesten Karjakin-Remis-Arrangement ging die Debatte sogleich zum generellen Remisproblem und möglichen Methoden, ihm zu begegnen, über.

Karjakin nicht mehr einladen, Radjabov nicht mehr einladen, Problem gelöst? Ausrichter könnten auch anhand von David Smerdons Kampfgeist-Index ermitteln, wer gut fürs Turnier wäre und wer nicht. Karjakin steht in diesem Index gar nicht so schlecht da.

In den Sozialen Medien eskalieren die Dinge ohnehin schnell, beim Schach geht das noch schneller, weil auf Twitter die FIDE-Oberen Nigel Short und Emil Sutovsky nicht fern sind, sobald es emotional wird.

Auch Anish Giri als Teil des jüngsten Twitter-Dramas war nicht fern. Carlsen hatte Giri in Wijk vorgehalten, er habe nicht an einem Ruhetag gegen Maskenverweigerer Dubov spielen wollen, auch das Gegenstand einer langen Debatte, die mittlerweile abgekühlt ist. Nun, wenige Tage später, war Giri mit der Zuschauerrolle zufrieden, konnte sich aber, bevor er zum Popcorn griff, eine Ruhetag-Anspielung nicht verkneifen.

Als ob das Kurzremis-Problem nicht ausführlich genug erörtert gewesen wäre, meinte schließlich Emil Sutovsky, sich für seine Kurzremisen der Vergangenheit rechtfertigen zu müssen. Was wiederum Carlsen-Sekundant Peter Heine Nielsen auf die Bühne lockte, der in aller Regel nicht fern ist, sobald Sutovsky oder Short sich äußern.

Zu Guter Letzt erfuhren wir von DSB-Öffentlichkeitsarbeiter und Meme-Spezialist Paul Meyer-Dunker, dass er immer alles auskämpft.

To be continued.


Stand der Dinge in Wijk an Zee nach zehn Runden.

(Titelfoto: Lennart Ootes/Tata Steel Chess)

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Anton Schwaiger
Anton Schwaiger
2 Jahre zuvor

Auch wenn ich die ganze Aktion inkl. Tweet von Karjakin unsympathisch finde, fällt es objektiv doch schwer ihm für das Unentschieden einen Vorwurf zu machen. Ein Fall von “Don’t hate the player, hate the game” für mich.
Notorische Unentschieden-Spezialisten nicht mehr für wichtige Turniere einzuladen halte ich zwar für eine wirksame Methode, aber gleichzeitig auch für ein bisschen unfair. Und was wären überhaupt die Kriterien dafür? Karjakin scheint ja objektiv betrachtet gar kein so schlimmer Unentschieden-Spieler zu sein. Und das eigentliche Problem, dass sich aus den Schachregeln selbst ergibt, wäre damit ja auch nicht gelöst.
Eine schwierige Sache alles …

trackback

[…] Die ReizfigurEine Reizfigur – schon bevor er begann, den russischen Überfall zu preisen und die Ukraine zu verhöhnen. […]

Gerhard Lorscheid
Gerhard Lorscheid
2 Jahre zuvor

Tatsächlich stellte er sich mit seiner Fundamentalverweigerung in die Reihe der Radikalen, die das Tragen einer Maske beim Schach prinzipiell ablehnen.”
Nennt man Radikale auch noch so wenn sie die übergroße Mehrheit sind? Der Anteil der Schachspieler, die mit Maske spielen ist sicher näher bei 10 als bei 50 Prozent.

Julius
Julius
2 Jahre zuvor

Was soll die dauernde Bezeichnung “Maskenverweigerer” finde diese Fraining unsäglich – und übrigens der Verweis auf Kinder und Jugendschach ist totaler Quatsch, weil dort ein Maskenzwang herrscht und dementsprechend Kinder, welche sich diesen Fetzen nicht aufzwingen wollen nicht erscheinen. Habe letztens ein Turnier gespielt da gab es mindenst 80% die keine Maske freiwillig getragen hat – nur eine kleine Minderheit tut dies aus Überzeugung und will es anderen immer aufdrücken

Last edited 2 Jahre zuvor by Julius