Wenns beim Weltschach dringlich ist: Minimallösung plus Disziplinarverfahren

Die FIDE-Führung unter dem russischen FIDE-Präsidenten Arkady Dvorkovich hat jetzt in einer Dringlichkeitssitzung eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen, die den russischen Verband, russische Organisatoren und russische Sponsoren treffen. Die russischen Großmeister und lautstarken Unterstützer des Putin-Kurses Sergey Karjakin und Sergey Shipov erwartet überdies ein Disziplinarverfahren.

Nachdem die FIDE in den ersten Tagen nach dem Einmarsch nur vage von der „Sorge über eine sich rapide verschlechternde geopolitische Lage“ gesprochen hatte, wird der Weltverband jetzt deutlicher: Man sei „tief besorgt über die Militäraktion Russlands in der Ukraine“, heißt es. Und, weiter unten: “Die FIDE steht vereint gegen alle Kriege. Sie verurteilt den Gebrauch militärischer Mittel, um politische Konflikte zu lösen.”

Anatoli Karpov (M.) hat den Überfall auf die Ukraine mit abgesegnet. FIDE-Ehrenmitglied bleibt er trotzdem, und anders als Sergey-Karjakin (r.) wird er sich keinem Disziplinarverfahren stellen müssen. | Foto: Alina l’Ami/Tata Steel Chess

Ein großer Wurf, ein überfälliger Schritt? Eher nicht. Weder will die FIDE russische Mannschaften oder Spieler ausschließen, noch ist sie konsequent beim Kappen der Drähte zu russischen Sponsoren. Und der Duma-Abgeordnete Anatoli Karpov, der den Überfall auf die Ukraine mit abgesegnet hat, ist weiter Ehrenmitglied.

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Der Verband tue nicht mehr als das notwendige Minimum, das nötig sei, um FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich für eine zweite Amtszeit wählbar zu belassen, analysiert der bekannte Großmeister und Trainer Jacob Aagaard. Der Däne sieht einen öffentlichen Balanceakt, der bei genauem Hinschauen die russische Dominanz innerhalb des Weltschachapparats offenbart.

Die wesentlichen Punkte der FIDE-Erklärung vom Sonntagabend:

  • Wettkämpfe der FIDE dürfen nicht in Russland oder Weißrussland stattfinden 
  • Russen und Weißrussen dürfen bei FIDE-Wettbewerben nicht unter ihrer Landesflagge spielen. Die Nationalhymnen beider Länder werden nicht gespielt
  • Die FIDE kündigt alle Sponsoring-Vereinbarungen mit russischen oder weißrussischen Unternehmen, die sanktioniert und/oder staatlich kontrolliert sind

Gewaltige Auswirkungen könnte der Punkt „kündigt Sponsorenvereinbarungen“ haben. Zu den Hauptsponsoren des Weltverbands gehören gleich vier große russische Firmen: der Gasproduzent Gazprom, das Bergbauunternehmen Nornickel, der Düngemittelhersteller PhosAgro und der Nuklearkonzern Rosatom.

Die FIDE-Website am Montagmorgen. Am Nachmittag war das Gazprom-Logo verschwunden. Nornickel und PhosAgro durften stehenbleiben. Es liegt nahe, dass der Sponsorenpassus “sanktioniert und/oder staatlich” gezielt darauf abgestellt war, sich nur vom international in Miskredit geratenen Gasriesen zu trennen, andere russische Sponsoren aber zu behalten. Anstelle des gelöschten Gazprom tauchte am späten Montagnachmittag oben links plötzlich Schachbranchenriese chess.com als “official partner” auf.

Fallen diese vier großen FIDE-Geldgeber unter den Passus „sanktioniert und/oder staatlich kontrolliert“? Aus dem FIDE-Papier geht das nicht hervor. Wenn ja, wäre das finanziell wie politisch ein gewaltiger Einschnitt. Die FIDE-Website am Montagmorgen suggerierte allerdings das Gegenteil. Unverändert firmierten dort Gazprom, Nornickel und PhosAgro als „offizielle FIDE-Partner“:

FIDE-Generalsekretär Emil Sutovsky betont unterdessen, die finanzielle Lage der FIDE sei stabil. Soziale und Entwicklungsprojekte würden mit denselben Mitteln fortgeführt wie bislang. Das mag damit zusammenhängen, dass der FIDE-Beschluss nach eigener Wahrnehmung Nornickel und PhosAgro nicht berührt. Während am Montagnachmittag das Gazprom-Logo von der FIDE-Seite verschwunden war, blieben diese beiden stehen.

Dass nur Gazprom verschwindet, ist ein weiteres Indiz, dass die Dvorkovich-FIDE nur die Schritte gehen will, um die sie nicht herumkommt. In diesem Fall die Trennung von einem russischen Staatsunternehmen, auf die der Passus „sanctioned and/or state controlled“ offenbar abgestimmt war. Nornickel und PhosAgro, beide in russischem Privatbesitz, dürfen FIDE-Sponsoren bleiben.

Die russische Flagge oder der Begriff “Russland” sind bei internationalen Wettkämpfen ohnehin verboten. Vor der ersten WM-Partie Nepomniachtchi-Carlsen musste die FIDE kurzfristig Nepos Flaggenschild tauschen. Dort hatte “Russia” gestanden. Zu Beginn der Partie stand dort “CFR”. | Fotos via chess24

Die ersten beiden Punkte der FIDE-Erklärung gehen über den Status Quo hinaus, repräsentieren aber kaum eine gravierende Neuerung. Aufgrund der Doping-Sanktionen gegen Russland dürften dort ohnehin keine Wettkämpfe auf dem WM-Level stattfinden, und russische Spieler wie Mannschaften dürfen bei solchen Wettbewerben nicht unter ihrer Landesflagge antreten.

Prominentestes Beispiel dafür: Das WM-Match 2021 zwischen Magnus Carlsen und Ian Nepomniachtchi, bei dem die FIDE kurz vor der ersten Partie das Nepomniachtchi-Emblem am Spieltisch austauschen musste. Zwar sollte Nepo den Bestimmungen gemäß statt unter seiner Flagge unter der seines nationalen Verbandes spielen, aber am Spieltisch hatte „Chess Federation of Russia“ gestanden. Und den Begriff „Russia“ zu zeigen, wäre nicht erlaubt gewesen. Kurzfristig wurde ein neues Nepo-Schild organisiert, auf dem stattdessen „CFR“ stand.

Die Olympia-Liebedienerei des Schachs

Im Wesentlichen folgt die FIDE mit ihrer Entscheidung, Russland als Austragungsort, die russische Flagge, die Hymne und die Nennung des Landes zu untersagen, der Linie des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). So sehr auch das Komitee und seine Spiele zur emotionslosen Geldmaschine degenerieren, Mitglied zu sein und zu bleiben, ist für den Schachverband seit Jahrzehnten von großer Bedeutung. Auch wenn der Traum von Schach bei Olympia selbst zur FIDE-100-Jahr-Feier mit einer Ohrfeige endete, kein Schachfunktionär wagt den überfälligen Vorstoß, die Prioritäten des Schachsports neu auszurichten und der Olympia-Liebedienerei ein Ende zu setzen.

Im internationalen wie im nationalen Sport ist die von der FIDE befolgte IOC-Flaggentausch-Linie gegenüber Russland und seinen Sportlern längst unter Beschuss geraten, die Linie des IOC wackelt. Das zaudernde Lavieren geht vielen Beteiligten und Beobachtern nicht weit genug. Während die deutschen Athleten ein ernsthaftes, signifikantes Zeichen in Form des generellen Ausschluss‘ Russlands und russischer Sportler fordern, diagnostiziert Jens Weinreich, profunder Kenner des internationalen Sports, mit einem Blick in andere Länder das „neuerliche Versagen der deutschen olympischen Dachorganisation (Fachverbände gleichfalls) auf internationalem Terrain“:

Beim Schach schreckt der Weltverband vor einer konsequenten Lösung zurück, schließt weder russische Sponsoren noch russische Spieler generell aus – und schafft sich damit eine ganze Reihe von Baustellen.

Die erste wird ab Dienstag beim Grand Prix in Belgrad zu sehen sein, an dem fünf russische Großmeister teilnehmen, gefolgt vom Grand Prix in Berlin. Auch dort sollen fünf Russen starten, aber weder ist klar, wie sie angesichts eines für russischen Flugzeuge gesperrten Luftraums nach Berlin kommen sollen, noch, ob sie dort willkommen wären. Paul Meyer-Dunker, Präsident des Berliner Schachverbands, findet einen Berliner Grand Prix mit Russen im Feld “unvorstellbar und nicht vertretbar. Ein Ausschluss muss sofort erfolgen.” FIDE und World Chess müssten die Zeit bis zum Start nutzen, Ersatz zu finden, fordert Meyer-Dunker.

Die konsequente Linie könnte sich nun als Folge der treuen Gefolgschaft des Schachs gegenüber Olympia ergeben. Am Montagnachmittag wurde bekannt, dass das IOC wahrscheinlich doch beschließen wird, generell russische und weißrussische Sportler von Wettbewerben auszuschließen. Käme es dazu, würde das Schach wahrscheinlich folgen.

Von sich aus ohne IOC-Druck wird das Weltschach eher den Status Quo beibehalten. Und dann stehen mit der der Mannschafts-WM im April und der Schacholympiade 2022 (für die es laut Sutovsky noch einen weiteren Bewerber neben Indien gibt) gleich weitere Problemfelder vor der Tür.

Sollen russische Teams starten? Nach jetziger FIDE-Auffassung durchaus. Und wenn anderen Teams den Wettbewerb mit den Russen boykottieren? Genau das hat der norwegische Journalist Tarjei Svensen schon prognostiziert, und es erscheint nicht aus der Luft gegriffen.

Außerdem steht das Kandidatenturnier 2022 vor der Tür, für das, Stand jetzt, zwei Russen qualifiziert sind. Würde den Kriegsgegner Ian Nepomniachtchi ein Bann ereilen, das wäre schade für diesen ehrenwerten Sportsmann, aber das wäre eben auch die erforderliche Signalrakete, die die russischen Verantwortlichen trifft und schmerzt.

Dürfte Nepomniachtchi mitspielen und Sergey Karjakin nicht, das wäre inkonsequent – aber zu rechtfertigen. Die Reizfigur Karjakin hat nicht erst seit dem Einmarsch in der Ukraine ihr Möglichstes getan, sich selbst aus der Schachgemeinschaft auszuschließen.

Eine Reizfigur – schon bevor er begann, den russischen Überfall zu preisen und die Ukraine zu verhöhnen.

Eine ganze Reihe bizarrer Tweets über das „Regime“ in Kiew und dessen vermeintliche Nazitruppen gipfelte jetzt in einer Ehrerbietung Karjakins gegenüber Vladimir Putin.

Großmeister Sergey Shipov teilt die putintreue Gesinnung mit Sergey Karjakin – und verbreitet sie in russischen Schachforen ebenso wie auf Facebook. Jetzt werden sich die beiden dafür vor der Ethik und Disziplinarkommission der FIDE verantworten müssen. „Der FIDE-Rat verurteilt jede öffentliche Äußerung eines Mitglieds der Schachgemeinschaft, die ungerechtfertigte Militäraktionen unterstützt“, heißt es in dem Beschluss von Sonntag.

Inwieweit sich das auf die berufliche Zukunft der beiden Herren auswirkt, ist offen. Sergey Shipovs Tage als offizieller Kommentator für russischsprachige FIDE-Streams dürften gezählt sein. Und Karjakins Zukunft als Schachprofi? Nach aktueller FIDE-Lesart dürfte er unter Verbandsflagge spielen, aber nach seinem öffentlichen Ukraine-Hohn und Putin-Preisen wird gewiss eine Vielzahl potenzieller Gegenspieler die sportliche Auseinandersetzung verweigern.

Putin-Vasall Karjakin wäre im Falle eines generellen Ausschluss’ russischer Spieler einer der ganz wenigen Russen, den die Beobachter und Kollegen nicht vermissen würden. Die überwiegende Mehrheit der russischen Schachprofis ist in den vergangenen Tagen mit besonnenen, kriegskritischen, nachdenklichen Botschaften aufgefallen.

Alexandra Kosteniuk, ein Beispiel von vielen, sagte auf Facebook: “Ich bete für ein schnelles Ende dieses schrecklichen Albtraumes. Lasst es mit Sanktionen, mit Boykott und mit der völligen weltweiten Isolation Russlands sein, aber vor allem mit einem Minimum an Opfern auf beiden Seiten.”

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Bernd Simonis
Bernd Simonis
2 Jahre zuvor

Gerade Schachspieler sollten erkennen können, wer hier der Aggresor ist. Wie kann es sein, das sich die strategischen Fähigkeiten der russischen Schachspieler in Luft auflösen? Wo bleibf der kritische Intellekt, können die keine Propaganda erkennen? Dazu kommt der Unterschied zwischen einer Schachfigur und menschlichem Leben. Eine taktische Waffe auf dem Brett ist noch keine Rakete, mit Raketen “spielt” man nicht., niemals.

Roland Schmitt
Roland Schmitt
2 Jahre zuvor

C. Schormann: <<Anatoli Karpov (M.) hat den Überfall auf die Ukraine mit abgesegnet. >>

Wo kann man das nachlesen (Quelle)?

trackback

[…] für DSB-Verhältnisse mutige Erklärung, ging sie doch über die Minimallösung der FIDE hinaus. Allzu mutig war sie gleichwohl nicht, steht sie doch im Einklang mit dem, was in der […]

kumagoro
kumagoro
2 Jahre zuvor

Karjakin werde ich nicht vermissen. Mit seinem offenen Brief an den Kriegsverbrecher Putin hat er sich selbst mattgesetzt. Wichtiger ist jedoch, dass ich weder dem angeblichen seriöseren Touch der FIDE vertraue noch ein plötzlich intelligentes Handeln vom DSB erwarte. Der Weltschachbund wird geführt von einer Clique, die sich von kleinen Mitgliedsländern im Gegenzug gegen “Aufbauhilfe” wählen lässt. Fehler im System. Damit repräsentiert die FIDE eben nicht das Schach in der Welt. Dass die Clique derzeit einen Russen an der Spitze hat, ist da (fast) nebensächlich. Und nun noch ein paar Worte des Vertrauens in die Spitze des DSB: .. ..… Weiterlesen »

Holger Sturm
Holger Sturm
2 Jahre zuvor

Ich finde die Aussage von Frau Alexandra Kosteniuk keine besonnenen, kriegskritisch, noch nachdenkliche Botschaft. Sie setzt die Beendigung von Sanktionen, Boykott und Isolation Russland vor der Erwähnung der Unschuldigen Opfer und des Ursachers Putin, den sie nicht erwähnte, Sie sollte nicht beten, sondern die sofortige Beendigung des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine fordern und die Toten und die in Angst lebenden Menschen erwähnen . Selbst mit einem sofortigen Stop der Angriffe hat sich Putin und ein Teil der Russen mehrere unverzeihbaren Morden schuldig gemacht. Man sollte nach dem Ende des Krieges nicht zur Tagesordnung (Normalität) zurück gehen.

Julius
Julius
2 Jahre zuvor

Der Ausschluss aller aggressiven Nato Nationen wäre dann auch überfällig.

Immerhin ist der Wortbruch der Nato über die Ostererweiterung der Hauptgrund für diesen unnötigen Krieg. Hatte gehofft die Nato wird ihren Wortbruch korrigieren sieht aber nicht so aus. Hatte nie gedacht Mal den Chinesen zuzustimmen, aber in dem Punkt haben die Mal ausnahmsweise Recht.