Ein Schach-Gasthaus Unter den Linden: Wie World Chess in Berlin Fuß fassen will

Das Hotel Adlon, die Staatsoper, die Kaiserhöfe oder die US-amerikanische sowie die russische Botschaft. Zur illustren Nachbarschaft an der Berliner Prachtstraße Unter den Linden wird sich jetzt ein Schachclub gesellen. Das russische Unternehmen World Chess (vormals Agon) plant, im Herzen der Hauptstadt den „World Chess Club“ zu eröffnen, ein stylisches Gasthaus, das ganz dem Schachthema gewidmet ist. Auf Anfrage dieser Seite teilt eine Sprecherin des Unternehmens mit, man habe ein Objekt langfristig gemietet. Wo genau an der 1,5 Kilometer langen Straße der „World Chess Club“ sich befinden wird, will World Chess noch nicht verraten.

Zwischen Kathedrale und Brandenburger Tor: An der Prachtstraße Unter den Linden wird demnächst Schach gespielt – im “World Chess Club Berlin”. | via Wikipedia

Unter den ersten Besuchern werden eine Reihe von Weltklassegroßmeistern sein. Im „World Chess Club“ soll ab dem 3. Februar der erste Grand Prix und ab dem 21. März das dritte und finale Turnier der Grand-Prix-Serie ausgetragen werden. Teil des Teilnehmerfelds: Vincent Keymer. Die zwei Erstplatzierten der Grand-Prix-Serie qualifizieren sich für das Kandidatenturnier Mitte 2022, dessen Gewinner Anfang 2023 den Weltmeister herausfordern soll.

Ursprünglich sollten alle drei Grand-Prix-Turniere in Berlin stattfinden. Laut einem chess24-Bericht hat nicht näher spezifizierte “Hinterzimmerschachpolitik” dazu geführt, dass das zweite in Belgrad ausgetragen wird.

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Die beiden letzten offenen Plätze im 24-köpfigen Feld des Grand Prix sind seit gestern besetzt. Die FIDE vergibt ihren Freiplatz an US-Großmeister Hikaru Nakamura, Veranstalter WorldChess seinen an den russischen Großmeister Daniil Dubov.

https://twitter.com/bennedik/status/1473001334932656129
Neues Format: Jeder Grand Prix beginnt mit vier vierköpfigen Vorrundengruppen, die ein doppelrundiges Rundenturnier spielen. Die vier Sieger dieser Gruppen bestreiten die beiden Halbfinals, deren Sieger das Finale.

Speziell die Entscheidung für Nakamura ist ein Zugeständnis der FIDE ans neue Publikum des Zuschauersports Schach. Der einstige 2800er aus den USA hat seit 2,5 Jahren keine Turnierpartie gespielt. Im Oktober hatte Nakamura am Grand Swiss teilnehmen wollen, aber aufgrund der Pandemielage verzichtet.

Als Folge dieses Verzichts ist Nakamura wegen Inaktivität aus der Weltrangliste gestrichen. Zum Kreis der Favoriten zählt der WM-Kandidat von 2016 beim Grand Prix 2021 eher nicht. Aber er dürfte der mit Abstand populärste der 24 Teilnehmer sein. Die 2,5 Jahre abseits der Bretter aus Holz hat Nakamura trefflich genutzt, um sich an den virtuellen Brettern ein Millionenpublikum aufzubauen. Dieses Nakamura-Publikum soll jetzt den WM-Zyklus der FIDE verfolgen.

2019, Grand Prix in Hamburg: Seit seiner Niederlage gegen Veselin Topalow hat Hikaru Nakamura keine gewertete Turnierpartie mehr gespielt. | Foto: World Chess

Die Entscheidung für Dubov ist eine am Expertenpublikum ausgerichtete. Der 25-Jährige gilt als einer der originellsten Spieler unserer Zeit, ideenreich, kompromiss- und furchtlos. Wo immer Dubov spielt, steht er im Fokus der Berichterstattung.

Sportlich berühren beide Entscheidungen einen Härtefall: Andrey Esipenko (19, Russland) wird beim Grand Prix zuschauen müssen, nachdem er sich per Rating knapp nicht qualifiziert hat und beim World Cup (an Magnus Carlsen) sowie beim Grand Swiss knapp gescheitert war. Diese für den kommenden Mann des russischen Schachs unglückliche Konstellation rief sogleich Galiya Karjakina auf den Plan, Gattin des linientreuen WM-Kandidaten Sergey Karjakin, einer der schärfsten Kritiker des Carlsen-Helfers Dubov.

Karjakinas Kritik geht nun in einer andere Richtung. In den Freiplätzen für Nakamura und Dubov sieht sie eine rein geschäftlich motivierte Gefälligkeit, die sich im professionellem Sport nicht gehöre (eine Übersetzung Karjakinas ausführlicher Einlassung am Ende dieses Beitrags).

Die komplette Liste der Grand-Prix-Teilnehmer:

#NameRatingWorld rankQualified via
1Ding Liren27993Rating
2Levon Aronian27726Rating
3Anish Giri27727Rating
4Wesley So27728Rating
5Shakhriyar Mamedyarov27679Rating
6Alexander Grischuk276410Rating
7Richard Rapport276311Rating
8Maxime Vachier-Lagrave276112Grand Swiss
9Leinier Dominguez275215Rating
10Hikaru Nakamura2736(19* — inactive)Presidential nominee
11Nikita Vitiugov273119Rating
12Wei Yi272921Rating
13Vidit Gujrathi272722World Cup
14Dmitry Andreikin272423Rating
15Daniil Dubov272024Organiser nominee
16Yu Yangyi271327Grand Swiss
17Sam Shankland270829World Cup
18Alexei Shirov270431Grand Swiss
19Vladimir Fedoseev270432World Cup
20Alexander Predke268252Grand Swiss
21Grigoriy Oparin268155Grand Swiss
22Vincent Keymer266474Grand Swiss
23Amin Tabatabaei2643108World Cup
24Etienne Bacrot2642111World Cup

Ungeachtet der sportlichen Klasse von Dubov und Nakamura, mit der “geschäftlich motivierten Gefälligkeit” hat Karjakina zumindest nicht Unrecht: Beim letzten Turnier des WM-Zyklus‘, das World Chess für die FIDE ausrichten darf (mehr dazu weiter unten), soll die Teilnahme Dubovs World Chess beim Marketing in eigener Sache helfen.

Als einziges Geschäftsfeld unter dem FIDE-Dach bleibt World Chess die Online-Arena des Weltverbands. Auf dieser Spielplattform wird während des Grand Prix ein „Dubov-Bot“ online gehen, der Grand-Prix-Zuschauer locken soll, die FIDE-Arena zu besuchen, um dort gegen eine Dubov-Simulation zu spielen.

https://youtu.be/2o2J0331N-A
Daniil Dubov entkorkt ein Matt in 13 in einer der spektakulärsten Partien der jüngeren Geschichte. Mit diesem Sieg über Rasmus Svane rettete Dubov bei der Europameisterschaft 2019 seinen Russen das 2:2 gegen Deutschland.

Nicht zuletzt soll die Anwesenheit des genialischen Weltrangisten-24. Zuschauer in den World Chess Club Berlin locken. Dort sollen sie sich am Spiel der aktuellen Weltelite ebenso erfreuen wie am Flair vergangener Größen des Sports. Und am Geschmack ihnen nachempfundener Cocktails, am „Lasker“ zum Beispiel. Zu diesem Getränk heißt es in der Karte des Moskauer World Chess Club (des bislang einzigen seiner Art):

Ein Cocktail auf Basis der beliebtesten Getränke Deutschlands: Schnaps und Riesling. Zu diesem Paar wird ein Kiefernharzdestillat hinzugefügt, das auf die Heimat Laskers – die polnische Stadt Barlinek – verweist. Barlinek (deutsch: Berlinchen) ist klein, grün und von Wäldern umgeben. Und das Getränk ist sehr kohlensäurehaltig, nadelförmig, erfrischend.

Schon beim DSB-Kongress im Oktober hatte DSB-Geschäftsführer Marcus Fenner von dem World-Chess-Plan berichtet, eine dauerhafte Dependance in der deutschen Hauptstadt zu eröffnen, und den Delegierten bei dieser Gelegenheit seine Nähe zum „ideenreichen“ World-Chess-Chef „Ilya, ähem, Herrn Merenzon“ suggeriert.

Ilya Merenzons Vorhaben, in Berlin ein Standbein zu bauen, dürfte mit der Suche von World Chess nach neuen Geschäftsfeldern zusammenhängen. Das eigentliche, ursprüngliche Geschäftsfeld, das Ausrichten von Turnieren des WM-Zyklus‘, bricht World Chess endgültig weg.

FIDE-Chef Arkady Dvorkovich (l.) mit dem DSB-Führungsduo (v.l.) Marcus Fenner und Ullrich Krause beim Grand Prix 2019 in Hamburg. | Foto: World Chess

Seit der Wahl Arkady Dvorkovichs zum FIDE-Präsidenten arbeitet die neue FIDE-Führung daran, den Draht zu World Chess zu kappen. Aber während die FIDE die Zuständigkeiten der für Pannen anfälligen Firma sukzessive beschnitt, demonstrierte World Chess unbeirrt Nähe zum Weltverband und Zuständigkeit für dessen WM-Zyklus. 2019 veröffentlichte die FIDE eine Mitteilung, in der sie den „irreführenden“ Verlautbarungen von World Chess energisch widersprach.

Zum WM-Match 2016 hatte Organisator World Chess ein Exklusivrecht auf die Live-Übertragung der Partien durchzusetzen versucht. Chess.com und chess24 ignorierten diesen Versuch, übertrugen trotzdem, wurden von World Chess verklagt – und gewannen.

Noch 2018 war World Chess fürs WM-Match zuständig. Im Kontext des 2018 andauernden Rechtsstreits mit chess.com und chess24 kam es rund um die WM-Übertragung 2018 zu einem bizarren Fall. World Chess verklagte eine Übertragungsplattform, die offenbar nur zu dem Zweck gegründet worden war, um sie erfolgreich zu verklagen und einen Präzedenzfall zu schaffen.

Was Alexander Grischuk nach der ersten Runde des Kandidatenturniers 2018 zu sagen hatte.

Zwei Turniere vergangener WM-Zyklen hat World Chess in Deutschland organisiert. Vom Kandidatenturnier 2018 ist Alexander Grischuks Toiletgate in Erinnerung, gefolgt vom Ausbruch des Russen, der gegenüber der Presse unsägliche Spielbedingungen anprangerte. Als im Jahr darauf beim Grand Prix 2019 in Hamburg nach zwei Tagen noch keine Katastrophe passiert war, war das dieser Seite eine Notiz der Überraschung wert:

Okay, ein an Betrug grenzendes Abo-Modell für Zuschauer und eine Verhohnepipelung des Großmeisters Ilja Zaragatski. Aber ansonsten lief der von World Chess 2019 in Hamburg ausgerichtete Grand Prix weitgehend rund – bis am Ende des Wettbewerbs Ilya Merenzon und Ian Nepomniachtchi aneinandergerieten.

Auf Anfrage dieser Seite hat die FIDE jetzt bestätigt, dass der Grand Prix 2021 in Berlin das letzte Turnier eines WM-Zyklus‘ sein wird, das World Chess organisiert. Unter dem Dach des Weltverbands bleibt der Betrieb der FIDE-Online-Arena fortan das einzige World-Chess-Betätigungsfeld.

Blitzturnier im Moskauer World Chess Club. | via ruchess.ru

Unter dem eigenen Dach in Moskau beackert World Chess seit 2017 schon ein anderes Geschäftsfeld, ein Vorbild für Berlin: Den „World Chess Club Moscow“, ein dem Schach gewidmetes Etablissement, dessen Besucher:innen in gediegenem Ambiente speisen, trinken, Kultur geboten bekommen – und eben Schach. Auf jedem Tisch findet sich ein Brett, der Club richtet Turniere aus oder lädt zum gemeinschaftlichen WM-Gucken in Ledersesseln bei feinen Cocktails.

Schachstunden an der Theke: Der World Chess Club in Moskau. | via tripadvisor

Offenbar funktioniert dieses Konzept. Die Vermutung liegt nahe, dass World Chess als Gastronomieunternehmen und Event-Agentur unfreiwillig eine Berufung gefunden hat, die den Fähigkeiten und Prioritäten seines Personals weit mehr entspricht als das Ausrichten von Turnieren des Schach-WM-Zyklus. Während es rund um World-Chess-Turniere immer wieder zu Pannen kam, hat sich nie jemand über die Präsentation beschwert – und über die Gastronomie erst recht nicht.

Nun soll sich zeigen ob sich das Moskauer Konzept auf das von Ilya Merenzon zur Welt-Schachhauptstadt erkorene Berlin übertragen lässt. Geplant seien Schach-Lehrgänge und diverse Angebote für die Schachgemeinschaft, teilt World Chess auf Anfrage dieser Seite mit. Der Plan, sich in Berlin niederzulassen, sei aus dem Publikumsinteresse fürs Kandidatenturnier 2018 erwachsen. “Wir sahen ein großes Interesse der Berliner am Schach. In Deutschland gibt es eine sehr starke Schachkultur”, erklärt World-Chess-Sprecherin Karina Bolshenkova.

Allerdings muss der „World Chess Club Berlin“ erst noch entstehen. Zum Zeitpunkt der Anfrage vor drei Wochen gab es nur virtuelle Pläne und noch keine Bilder, die Bau- oder Umbauarbeiten hatten noch nicht begonnen.

Sicher ist: Der World Chess Club Berlin soll eine permanente Einrichtung werden. WorldChess habe das Objekt langfristig gemietet und ein erfahrenes Architekturbüro damit beauftragt, es zu planen. Die Entwürfe würden bald zu sehen sein, teilt WorldChess mit. Es werde jede Anstrengung unternommen, um den neuen Club zu einer nachhaltigen, profitablen Einrichtung zu machen.

Als Organisator vom Turnieren des WM-Zyklus ist World-Chess-Chef Ilya Merenzon nun zur Tür hinaus. Als Als Schach-Gastronom und Event-Marketer kommt er wieder hinein. | Foto: World Chess
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acepoint
2 Jahre zuvor

Mit dieser obskuren Firma habe ich vor Jahren ganz schlechte Erfahrungen gesammelt. Ich weiß jetzt nicht mehr zu welcher WM oder Kandidatenturnier das war. Aber damals standen die relativ hohen Ticketpreise für das Online-Event in keinem Verhältnis zu dem präsentierten Ergebnis. Webseite und App waren total verhunzt und voller Bugs. Die eigentliche Präsentation der WM war extrem gewöhnungsbedürftig. Auf Hinweise zu Fehlern in der Software bzw. der Webseitendarstellung gab es eine unbefriedigende Baukastenantwort ohne Lösung. Weil ich penetrant auf Twitter nachgefragt habe, hat mich @worldchess dort blockiert. Fazit: ein arroganter, lernresistenter Haufen, der wohl auch die späteren WMs in den… Weiterlesen »

Last edited 2 Jahre zuvor by acepoint
Thorsten
Thorsten
2 Jahre zuvor

Mit den russischen Namen geht es gelegentlich in dem Text durcheinander. (Dubov-Karjakin) Ansonsten interessant.

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[…] im Kandidatenturnier sind noch frei, sie sind für die beiden Erstplatzierten des Grand Prix (ab 3. Februar in Berlin) reserviert. Aber es ist unwahrscheinlich, dass aus diesem Grand Prix ein Vertreter der nächsten […]

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[…] rankt sich ein ähnlicher Konflikt um den Grand Prix, der am 3. Februar im World Chess Club Berlin beginnen soll, statt “Schuh-Streit” ein “Kragen-Streit”. Die Großmeister […]

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[…] Ein Schach-Gasthaus Unter den Linden: Wie World Chess in Berlin Fuß fassen will […]

schwichtd
schwichtd
2 Jahre zuvor

TLDR “Russenmafia eröffnet Berlin-Niederlassung zwecks Geldwäsche.”

Aber man soll bekanntermaßen nicht im Übermaß kritisch sein. Schach hat halt eine lange Tradition was Regime, Diktatoren und Schein-Demokratien angeht. Und die Fifa ist ja auch nicht besser. Alles im grünen Bereich. Ich empfehle Wüstenigel als unseren Verbindungsmann.