Frohe Weihnachten, euer Magnus

Magnus Carlsens direkt nach dem WM-Sieg über Ian Nepomniachtchi angekündigte Absicht, seinen Titel nur gegen Alireza Firouzja verteidigen zu wollen, hat die Schachgemeinde aufhorchen lassen. Jetzt hat Carlsen in einem Blogbeitrag für seinen Sponsor Simonsen Vogt Wiig spezifiziert, was er meint und worin seine Beweggründe liegen.

Für des Norwegischen nicht mächtige Leser gibt es mittlerweile Zusammenfassungen des Beitrags auf Deutsch (bei ChessBase) und auf Englisch (bei chess.com). Wir empfehlen die englische.

Der Beitrag “Magnus Carlsens Weihnachtsansprache” bei ChessBase verfehlt die für den Fortgang des WM-Zyklus wichtige Essenz dessen, was Carlsen mitzuteilen hat: “…Alireza Firouzja, wäre noch einmal eine Herausforderung. Alles andere nicht”, steht dort, obwohl Carlsen genau an dieser Stelle jetzt ein wenig zurückgerudert ist bzw. seine ursprünglich Aussage verallgemeinert hat.

Werbung

“Es ist unwahrscheinlich, dass ich noch einmal ein WM-Match spiele – außer der Herausforderer repräsentiert die nächste Generation”, schreibt Carlsen.

Magnus Carlsen wünscht uns ein frohes Fest und sich einen WM-Gegner, der kein üblicher Verdächtiger ist. | via Play Magnus/YouTube

Nicht “Firouzja”, sondern die “nächste Generation”. Dem Weltmeister geht es vor allem darum klarzustellen, dass ein weiteres Match gegen einen Caruana, Karjakin oder Nepo ihn nicht reizen würde. Ihm geht es weniger darum, einen WM-Wunschgegner zu benennen, wenngleich sein Fokus naturgemäß auf Firouzja liegt, der nun als 18-Jähriger den zweiten Platz der Weltrangliste erobert hat und fürs Kandidatenturnier qualifiziert ist.

Dafür qualifiziert ist auch Jan-Krzysztof Duda (23). Würde zum Beispiel der Pole als WM-Herausforderer 2023 aus dem Kandidatenturnier 2022 hervorgehen, er ließe sich schwerlich als weiterer Vertreter der Generation klassifizieren, die nun das vierte Lebensjahrzehnt beginnt und drei vergebliche Anläufe auf den WM-Thron hinter sich hat.

Duda wäre ein attraktiver Gegner.

Wahr ist allerdings, dass sich bis auf Firouzja und Duda die von Carlsen herbeigewünschte “nächste Generation” unter den WM-Kandidaten rar macht: Nepomniachtchi (31), Caruana (29), Karjakin (31), liest sich vielmehr wie eine Liste verdienter, aber eben üblicher Verdächtiger. Der Vierte im Bunde, Remiskönig Teimour Radjabov (34), macht diese Liste nicht attraktiver, im Gegenteil. Radjabov blockiert einen Platz für einen Spieler, dessen Schach zu verfolgen Freude bereitet.

Zwei Plätze im Kandidatenturnier sind noch frei, sie sind für die beiden Erstplatzierten des Grand Prix (ab 3. Februar in Berlin) reserviert. Aber es ist unwahrscheinlich, dass aus diesem Grand Prix ein Vertreter der nächsten Generation als WM-Kandidat hervorgeht – weil Vertreter dieser Generation im Grand Prix erst recht rar sind. Auch dort führen die (angehenden) 30er die Setzliste an.

Die in Berlin zu erwartende Versammlung alter Leute berührt die Kritik von Verteidigungsminister Sergej Karjakin und seiner Gattin an der Entscheidung von FIDE und World Chess, die Grand-Prix-Freiplätze an Hikaru Nakamura und Daniil Dubov zu vergeben:

Insbesondere stört sich Familie Karjakin an dem Umstand, dass der sportlich knapp gescheiterte Andrey Esipenko (19) keinen der beiden Freiplätze bekommen hat. Im World Cup war dieser Andrey Esipenko übrigens nach einem knappen, dramatischen Match an einem gewissen Magnus Carlsen gescheitert, zu dem Karjakins nicht ganz zu Unrecht fragen, was der in einem WM-Qualifikationsturnier zu suchen hat.

Gewiss würde Magnus Carlsen auch einen Andrey Esipenko als spannenden Herausforderer sehen. Tja. Dass der kommende Mann des russischen, vielleicht des Weltschachs in diesem WM-Zyklus noch einmal zuschauen muss, liegt daran, dass Carlsen ihn höchstselbst rausgekegelt hat. Andererseits: Dass Magnus Carlsen ein WM-Match gegen Daniil Dubov nicht reizen würde, ist unvorstellbar.

Wenn wir allerdings ausschließlich das Kriterium “nächste Generation” anlegen, wird es nicht ganz leicht, im Feld der verbliebenen Ausnahmekönner weitere potenzielle Herausforderer nach Carlsens Geschmack zu finden.

Bild
Vielleicht jetzt? Wei Yi, jüngster 2700er der Schachgeschichte. | Foto via chess.com

Hier ist noch ein Name: Wei Yi (22). Grasping at straws? Ja, vielleicht. Aber wer weiß? Womöglich löst der immer noch der nächsten Generation angehörige Chinese im WM-Zyklus 2021-23 das Versprechen ein, das er vor sechs Jahren als bis heute jüngster 2700er der Schachgeschichte (mit 15!) gegeben hat. Beim Grand Prix werden wir es sehen.

Nichts gegen den Grand-Prix-Teilnehmer Amin Tabatabaei (20), aber der steht hier nur, weil er erst 20 ist und damit der zweitjüngste unter den alten Leuten, die sich jetzt in Berlin zur Kandidatenkür versammeln werden. Bei allem Respekt, fürs Kandidatenturnier wird sich der Großmeister aus Teheran nicht qualifizieren.

https://twitter.com/MSC1836/status/1420705335573102598
In der Schachbundesliga gibt es den Hamburger SK und darüber hinaus 15 Vereine, die es offenbar nicht schert, was ihre Spitzenspieler abseits der Mannschaftskämpfe anstellen? Das war einmal. Jetzt gibt es mit dem Aufsteiger Münchner SC 1836 einen zweiten Bundesligisten, der die Turnierabenteuer seiner Profis pfiffig begleitet.

Fehlt noch einer? Ach ja, Vincent Keymer (17). Das Carlsen-Kriterium “nächste Generation” erfüllt der jüngste Grand-Prix-Teilnehmer allemal. Und wahrscheinlich werden nicht nur am Bodensee die Daumen blutig gedrückt, wenn der angehende Abiturient nach bestandener Reifeprüfung jetzt zum ersten Mal in seiner jungen Karriere (und zum ersten Mal als 100-prozentiger Profi) in einem WM-Zyklus nach den Sternen greift.

Aber, ganz ehrlich, für Keymer ist es schon ein Riesenerfolg, überhaupt dabei zu sein. Dieses Mal gilt es, sich im Wettbewerb mit den Besten zu stählen, Erfahrung zu sammeln. Die Sterne hängen aller Voraussicht nach noch zu hoch.

https://youtu.be/MTAPLy-VYvM

4.8 8 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

5 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
Frank
Frank
2 Jahre zuvor

Kann nichts verwerfliches daran finden, dass Esipenko nicht im Grand Prix mitspielt: er hatte ja eine Chance im World Cup und im Grand Swiss, konnte sie aber nicht nutzen. ELO-mäßig reichts leider auch nicht. Die Freiplätze bestimmen FIDE und der Veranstalter (“World Chess”), die haben sich halt auch anders entschieden. Meiner Meinung nach gibt es keinen “moralischen Anspruch” auf einen Freiplatz.

Stefan Meyer
Stefan Meyer
2 Jahre zuvor

Frohe Weihnachten liebe Perlen vom Bodensee und liebe Schachgemeinde! Für einen Schachweltmeister gibt es meiner Meinung nach zwei ehrenvolle Möglichkeiten, mit seinem Titel umzugehen. Erstens, man verteidigt ihn so lange bis man sportlich besiegt wurde oder zweitens man tritt unbesiegt ab und zwar idealerweise bevor der Herausforderer ermittelt wurde. Diese jetzt von Magnus Carlsen erwogene Mischform (“ich mache das abhängig davon, wer mein Herausforderer wird”) gehört nicht dazu und ist reichlich respektlos gegenüber den anderen Beteiligten. Wer immer sich im Kandidatenturnier durchsetzt, hat es verdient, ein WM-Match zu bestreiten (es sei denn, der Weltmeister hatte schon vorher angekündigt, dass er… Weiterlesen »

trackback

[…] wir verlinken einen  Beitrag der Perlen vom Bodensee „Frohe Weihnachten, Euer Magnus“ mit einer Passage zu Janek Duda als „Hamburgs […]

trackback

[…] Gammelfleischparty“, das Jugendwort des Jahres 2008. Mit diesem Ausdruck nehmen Jugendliche Ü-30-Partys aufs Korn, also Feiern für alte Leute im vierten Lebensjahrzehnt. Magnus Carlsen, der die Dreißigerschwelle vor einem Jahr überschritten hat, brauchte keine drastische Formulierung wie diese, als er seinen Widerwillen bekundete, weitere WM-Matches gegen alte Leute spielen zu müssen. Ein Match gegen einen Vertreter der „nächsten Generation“ wünschte er sich. […]