Wäre Gernot (Name geändert) vor zwei Jahren beim SC Überlingen aufgetaucht, ich hätte ihn für einen Sonderling auf dem schachlichen Holzweg gehalten. Und nichts mit ihm anzufangen gewusst. Aber jetzt, am Ende von zwei Jahren, in denen unser Spiel neue Liebhaber und ein neues Publikum gewonnen hat, ist Gernot die bei weitem interessanteste Figur, die beim mühsam-spärlich wieder anlaufenden Vereinsleben in Überlingen anzutreffen ist.
Gernot hatte sich schon ein wenig mit dem Spiel beschäftigt, bevor er bei uns hereinschaute. Besonders interessieren ihn “Openings”, wie er Eröffnungen nennt. Gernot verfolgt schließlich ein Ziel. “Grandmaster”, wie er sagt, will er auf jeden Fall werden. Und ohne Openings kein Grandmaster-Titel, da hat Gernot zweifelsfrei Recht.
Also haben wir ein Brett zwischen uns aufgebaut und Openings angeschaut. Gernot entpuppte sich, die erste Überraschung, als d4-Spieler. Die meisten anderen Leute, die zum ersten Mal beim Schach vorbeischauen, haben vom Vater oder Opa oder aus ihrem ersten Schachbuch gelernt, dass 1.e2-e4 der beste Eröffnungszug ist. Gernot nicht.
Na, gut. Stellen wir also den Bauern nach d4, auch ein prima Zug, und lassen Schwarz seinen Bauern nach d5 bewegen. Mein Plan war, ein paar Züge orthodoxes Damengambit aufs Brett zu stellen und zu vermitteln, wie jeder Zug sich in die Logik des Geschehens einfügt, wie beide Seiten ums Zentrum kämpfen, um den Punkt d5 im Besonderen. Unterwegs würden wir sogar ein wichtiges taktisches Motiv kennenlernen: eine Fesselung, die entsteht, wenn der Lc1 nach g5 geht und den Gaul auf f6 an seine Dame fesselt.
Oder wir finden heraus, dass Gernot schon weiß, was eine Fesselung ist, das wäre umso besser. Mit derartigem Fachwissen gerüstet, hätte Gernot sich als Fortgeschrittener entpuppt, und wir könnten nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 sogleich seine taktische Schlagkraft testen: Hat Schwarz da nicht des gefesselten Springers wegen auf d5 einen Bauern eingestellt?
So weit kamen wir erst einmal nicht, wir kamen nicht einmal bis 2.c2-c4. Nach 1.d2-d4 d7-d5 wollte Gernot 2.Sb1-c3 ziehen. Den Einwand, dass der Springer dort schlecht steht, weil er den Hebel c2-c4 blockiert, quittierte Gernot mit hochgezogenen Augenbraunen. Warum, bitteschön, steht dann 2.Sb1-c3 in einem seiner drei Schachbücher, demjenigen, mit dem er sich am intensivsten beschäftigt hat: eine Abhandlung unter anderem über den Richter-Veresov-Angriff und das Blackmar-Diemer-Gambit.
“Okay, Gernot”, hörte ich mich sagen. “Wenn du mal ein starker Vereinsspieler bist, dann spielen wir 2.Sc3 und ergründen, warum das tatsächlich geht und was die Idee dahinter ist. Aber für den Anfang kämpfen wir ums Zentrum, entwickeln die Figuren, bringen den König in Sicherheit. Das ist unsere Eröffnung, mehr brauchen wir nicht, weder den Richter noch den Diemer und schon gar nicht den Veresov.”
Glücklich war Gernot mit dieser Ansage nicht, so hatte er sich Schachclub nicht vorgestellt. Er wollte ja mehr über Openings lernen, bevorzugt über die Openings aus seinem Buch. Aber letztlich ließ er 1.d2-d4 d7-d5 2.c2-c4 geschehen. Und hörte meine Frage: “Schwarz hat in dieser Stellung drei Züge, die Sinn ergeben. Welche, meinst du, sind das?”
Das war für Gernot eine Gelegenheit zu glänzen. “2…Sg8-f6 ist es jedenfalls nicht”, sprach er. Der Weiße könne sogleich auf d5 tauschen, Schwarz nehme mit dem Springer zurück, und Weiß baue sich per e2-e4 eine prächtige Phalanx im Zentrum, erklärte er.
“Stark, Gernot! Auf den Punkt!”, rief ich – und widerstand der Versuchung, Gernot mit der Klugscheißerei zu belästigen, dass auch diese schlechte Opening einen Namen hat, Marshall-Verteidigun Defense, und dass nach 1.d4 d5 2.c4 Sf6?! 3.cxd5 Sxd5 das feine 4.Sg1-f3! (gerichtet gegen …e7-e5) der genaueste Zug ist.
Im Prinzip hat Gernot ja Recht, Weiß wird e2-e4 spielen, Zeit gewinnen und Schwarz wird erst einmal ohne Zentrum dastehen.
Zurück zum Thema. Eine schlechte Antwort auf 2.c2-c4 hatten wir identifiziert, nun suchen wir die drei guten. Auch zu dieser Fragestellung präsentierte Gernot eine Lösung – eine, die mein didaktisches Konzept zum zweiten Mal pulverisierte: “Ich würde so spielen”, sprach er – und zog: 2…e7-e5.
Erst Richter-Veresov, dann Blackmar-Diemer, nun Albins Gegengambit? What the…?
Wo genau Gernot 2…e7-e5 aufgeschnappt hatte, blieb im Dunkeln, aus seinem Buch jedenfalls nicht. Anstatt einer Betrachung des Albinschen Gegengambits war es dringend an der Zeit, das Brett beiseite zu schieben und erst einmal im Zwiegespräch die bisherige schachliche Sozialisierung dieses ungewöhnlichen Neuzugangs zu erforschen.
Über die neuen, erwachsenen Schachanfänger aus dem Queen’s-Gambit-Pogchamps-Pandemie-Schachboom ist an dieser Stelle viel spekuliert worden, auch darüber, dass sie nun mutmaßlich unsere Vereine stürmen. Es stellte sich heraus, dass sich diese neuen Schachspieler sogar in der Schachwüste am Bodensee materialisieren.
Gernot spielt seit Monaten auf chess.com. Dass Taktik wichtig ist, weiß er, darum hat er sich einen Premium-Account zugelegt, den er in erster Linie nutzt, um unbegrenzt Puzzle Rush zu spielen. Schachbücher hat er auch, drei sogar, zwei über Grundlagen und das Genannte über Openings. Damit beschäftigt er sich in erster Linie, in die anderen beiden hat er kaum hereingeschaut. Außerdem guckt Gernot gerne Schach in bewegten Bildern, bevorzugt Gotham Chess und die Botez-Schwestern.
Von einer klassischen Schachausbildung ist Gernot so weit entfernt wie ein Fisch vom Fahrradfahren. Sollten nächste Woche beim Vereinsabend Philidor, Steinitz und die Italienische Eröffnung zur Sprache kommen, davon hat er mit höchster Wahrscheinlichkeit noch nie gehört. Aber wenn ich “Kugelbuch” sage und “Stafford-Gambit”, dann wird sich seine Miene wahrscheinlich aufhellen. Das sagt ihm bestimmt etwas.
Würde es Sinn ergeben, Gernot (31) in eine klassische Schachausbildung zu pressen? Ihm Stappenhefte an die Hand zu geben und ein wöchentliches Taktik-Pensum (ohne Rush). Ihm Blitz und Bullet und jegliches Gerushe madig zu machen, ihn stattdessen zu bewegen, lange Partien zu spielen, diese hinterher auf Fehler durchzusehen und sie gerne auch zur gemeinsamen Analyse zum Vereinsabend mitzubringen. Und wenn Twitch/YouTube, dann besser Bartholomew als Botez. All die bewährten und bekannten Rezepte halt, die dazu führen, dass der Schachspieler besser wird.
Würde ihm das Spaß machen? Das ist wahrscheinlich die wichtigste Frage. Zu der Einsicht, dass er nie Grandmaster werden wird, gelangt Gernot früher oder später von alleine. Wichtig ist, dass er dran bleibt, eine Ahnung davon bekommt, auf was für eine großartige Enteckungsreise er sich begeben hat, und dafür ist die Freude an der Sache unverzichtbar.
Rooks connecten, Bishops saccen
Damit er Spaß hat, werde auch ich umlernen müssen, meinen 30 Jahre lang gewachsenen Schachclub-Duktus von jetzt auf gleich in die Tonne treten und so mit Gernot sprechen, wie er das in den vergangenen Monaten auf YouTube gehört und sich zu Eigen gemacht hat. Beim Schachtraining mit Gernot werden wir Rooks connecten und unsere Bishops auf h7 saccen. Gernot soll in erster Linie das Spiel lernen. Welches Vokabulars er sich bedient, ist egal. Ihn zu zwingen, so zu sprechen wie die anderen Leute im Schachclub, hilft seiner Spielstärke kein bisschen.
Und vielleicht gibt es einen Weg, die Gotham-Botez-Sozialisierung mit einer Ausbildung zu kombinieren, die tatsächlich Spielstärke generiert? Aufs Fundament zu pfeifen, Lucena und Philidor in der Mottenkiste zu belassen, Quatsch-Openings auszuprobieren, Spaß daran zu haben – und letztlich doch besser zu werden.
Es hat sich ein Verbündeter offenbart, der diesen Weg zeigen könnte, jemand, von dem ich das nie erwartet hätte, jemand der sich einer klassischen Schachausbildung mit Verve verweigert. Zu Schachfreund KugelBuch stellte sich mir bislang ausschließlich diese Frage: Ist der wirklich so, oder inszeniert er sich als Karikatur seiner selbst?
KugelBuch hat in den vergangenen Monaten viel Spott gehört, manchen Spruch einstecken müssen, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, mit Neugierde und Begeisterung dranzubleiben. Und jetzt, Lohn der Mühe, ist KugelBuch tatsächlich ein 2000er. Willkommen im Club!
Der Sieg, der KugelBuch auf sein bisheriges Rapid-Peak von 2011 gehoben hat, nötigt mir Respekt ab: eine dominante Eröffnung gespielt, die Truppen gezielt gegen den gegnerischen Monarchen in Stellung gebracht, dessen Bastion gezielt aufgeweicht und sie dann erstürmt.
Wilhelm Steinitz hätte nichts zu meckern. Und Gernot könnte sich eine Menge abgucken.
Chapeau! Du hast hier einen Aspekt aufgearbeitet, der wahrscheinlich vielen so gar nicht bewusst war oder ist.
Gleiches gilt für die Webpräsenz vieler Vereine. Wer keinen halbwegs aktuellen Internetauftritt hat, braucht sich auch nicht wundern, wenn sich Menschen, die hauptsächlich in diesem Medium unterwegs sind, trotz Schachboom nicht für den Verein interessieren.
Sieht man den “Gernot” nächsten Sonntag auch am Brett? Schließlich startet die neue Saison so, wie die alte vor Corona endete – mit dem (schachlich wenig) interessanten Derby Überlingen – Steisslingen.
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