Mannschaftskampf in der Bodenseeliga: ein Drama in 31 Akten

Über Schach schreiben, das geht. Schach spielen? Oje. Aber es hilft ja nix. Es ist Sonntag, wir haben Mannschaftskampf, den ersten nach 18 Monaten: Saisonauftakt in der Bodenseeliga, SC Überlingen vs. SC Steißlingen.

Ein Drama in 31 Akten.


I

Meine Liebste ist nachweislich wesentlich klüger als ich, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch intelligenter. Trotzdem geht eines partout nicht in ihren Kopf:

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Wann Mann vom Schach zurückkommt, kann er vorher nicht sagen.

II

Jetzt, nach langer Pause, mussten wir es wieder deklinieren: „Wann kommst du zurück?“, wollte sie wissen.

Wird sie es je begreifen?

Die Antwort fand sie so unbefriedigend wie in den Jahren zuvor: „Wenn es gut läuft, bin ich nach drei Stunden fertig, wenn es schlecht läuft, werden es fünf.“

III

Am Spiellokal angekommen, fühlte es sich auf Anhieb an wie immer. Die Prä-Zeitnot-Banane in der einen Hand, das Kaltgetränk in der anderen, dazu der obligatorische Ärger des lernresistenten nikotinabhängigen Denksportlers: Wieder keine Selbstgedrehten auf Vorrat angefertigt.

Werde ich es je begreifen?

IV

Ob Lothar schon Kaffee aufgesetzt hat?

V

Nicht nur beim Schach geht’s wieder los. Hinter den erleuchteten Fenstern im Nebengebäude haben sich die Überlinger Briefmarkenfreunde zu ihrem sonntäglichen Treffen versammelt.

Wer glaubt, wir beim Schach seien alt, schaue einfach mal bei den Philatelisten rein.

VI

Bei uns wird heute Bezirksmeister Maxim (13) zum ersten Mal regulärer Teil der ersten Mannschaft sein. Solche Briefmarkenkinder vom Bodensee fehlen im Gefüge derjenigen, die nebenan Anatoli Karpovs liebstem Hobby nachgehen.

Maxim hatte sich unter anderem mit David Navara auf den Mannschaftskampf gegen Steißlingen vorbereitet.

VII

Geimpft, genesen, getestet?

Als es losgehen soll, fühlt es sich gar nicht mehr an wie immer. Das gab es noch nie beim Schach: Unser Käptn Klaus sagt, er lässt nur Leute ans Brett, die ihm ein „G“ vorzeigen können. So steht es in den Regeln des Verbands.

VIII

Von jetzt auf gleich Aufregung, erhebliche, befeuert von speziell einem unserer acht Gäste.

Impfnachweis vorzeigen, wo kommen wir denn dahin. Ob Klaus Polizeigewalt habe. Ob wir da anknüpfen wollen, wo wir vor 80 Jahren waren.

IX

Ähem, nein? Sonntag, 10 Uhr, wir wollen jetzt Schach spielen.

„Und du zeigst mir, dass du geimpft bist, oder du spielst nicht mit“, erklärt Klaus dem Wüterich. Der kommt nicht runter von seinem Trip: „Polizeigewalt!“ „Vor 80 Jahren!“

X

Ob wir für den historischen Kontext die Philatelisten von nebenan dazubitten? Vielleicht war ja einer von denen Teil der Heeresgruppe Mitte, die im Oktober 1941 (er)frierend Richtung Moskau marschierte.

XI

Wir brauchen die Briefmarkenfreunde nicht, Käptn Klaus lässt die Debatte über regelhörige Schäfchen und den Ariernachweis gar nicht erst aufkommen, er hat das im Griff. In aller Ruhe, in aller Konsequenz.

XII

Meine Vorfreude auf die Partie ist einem unkomfortablen Gefühl gewichen. Der aufgeregte Schachfreund mit seinen deplatzierten Analogien wird gleich mir gegenübersitzen, und ich fürchte um mein inneres Gleichgewicht.

XIII

Vorbereitung bringt nichts, der Gegner spielt eh etwas anderes. Das habe ich in mehr als 30 Jahren Mannschaftsschach wieder und wieder erfahren.

XIV

Aber ich hätte zumindest die fundamentalen Hausaufgaben erledigen sollen: ein paar Taktik-Einheiten absolvieren, damit meine eingerosteten Neuronen wenigstens rudimentäre Rechenoperationen ausführen können.

XV

Immerhin: Ich habe in den Tagen zuvor auf meinem eBoard vier Lichess-Schnellpartien mit Schwarz gespielt, um zumindest mal wieder die Puppen in der Hand gefühlt zu haben.

XVI

Vier Partien, vier Siege, was ist das wert?

Einer der Lichess-Gegner hatte ein Rating von knapp 2100, die anderen waren deutlich schlechter. Und der Wüterich, der mir heute gegenübersitzt, hat eine Deutsche Wertungszahl über 2000, eine ganz andere Liga als die Lichess-2000er. Und nominell etwa auf Augenhöhe mit mir.

XVII

Nach etwa 20 Minuten verschwendeter Lebenszeit aller Beteiligten hat auch mein Gegner sein „G“ vorgezeigt, und Käptn Klaus pfeift das Match an.

XVIII

Zum Glück ist unser Neuzugang Gernot nicht da. Dem habe ich neulich erklärt, dass er nach 1.d4 d5 nicht 2.Sc3 zu ziehen hat, weil das den Hebel mit dem c-Bauern blockiert. Und was kriege ich heute vorgesetzt? Natürlich.

1.d4 d5 2.Sc3.

Zwei Züge gespielt, ich bin aus dem Buch.

XIX

4 Züge gespielt, 15 Minuten verbraten.

„Sollte jetzt aus irgendeinem Grund 5.e4 gehen, dann ist das halt so“, ist in etwa mein Denkprozess zu 4…c5.

Dass nach 5.e4 cxd4?? 6.Sb5! +- Weiß schon gewinnt, fällt mir nicht auf.

XX

8…h5 oder 8…h6? Eine wahrscheinlich auch für gute Spieler interessante Frage.

Nach 20 Minuten entscheide ich mich für 8…h6, weil ich nicht sehe, wie ich 8…h5! 9.g5 Sg8 10.Ld3 Lxd3 11.Dxd3 g6 (10…e6! =+) 11.Db5 mit Doppelangriff auf d5 und b7 ausweichen soll.

XXI

18.h5 musste er spielen, seinen Raumvorteil am und Grip über den Königsflügel zementieren.

Als stattdessen 18.Sa4 auf dem Brett steht, löst sich meine Anspannung. Jetzt bin ich mir zum ersten Mal sicher, dass ich keine Probleme habe.

XXII

Mit der Anspannung geht der Fokus über Bord. Wenn doch Weiß 18.h5 spielen musste, wäre es nun logisch, weißem h5 mit 18…h5! vorzubeugen. Aber nach 19.Sf4 g6 sehe ich schwarzfeldrige Gespenster auf dem Königsflügel.

Dann verliebe ich mich in die vage Larifarihaftigkeit …b6, …Kb7, Sachen auf die c-Linie stellen und dort Spiel finden…

XXIII

…und muss feststellen, dass ich in dem Moment, in dem ich mich zu ersten Mal komfortabel fühlte, die Partie weggeworfen habe.

18…b6 19.Se5! und Schwarz ist so gut wie im Eimer.

XXIV

18…b6?, wie blöd kann man sein.

XXV

23.Sxb6, nice! Also, für den Gegner.

Die Stellung ist verloren, leider noch nicht aufgabereif. Hoffentlich knipst er mich jetzt schnell aus, dann komme ich wenigstens zeitig nach Hause.

XXVI

Käptn Klaus hat die Spielberichtskarte versteckt.

Kann mir jemand sagen, wie es steht? Wir führen? Ah, prima. Ich verliere wahrscheinlich.

XXVII

Stunden später…

XXVIII

Was macht ein anständiger Schachspieler hier? Nein, nicht aufgeben. Er zieht 52…Sc8 und bereitet seinem Gegner die Freude, ein schönes Matt aufs Brett zu stellen.

Weiß am Zug, Matt in 2.

XXIX

Der Gegner entpuppt sich am Ende des mehr als fünfstündigen Kampfs unerwartet als freundlicher, objektiver Schachspieler, der mit seiner, naja, umständlichen Gewinnführung hart ins Gericht geht.

„Guter Typ“, hätte ich gedacht, wäre nicht das Theater zu Beginn gewesen.

XXX

5:3 für Überlingen, das ist das Wichtigste.

Tatsächlich haben an diesem Sonntag in unserer Liga vier von fünf Matches stattgefunden, nur eines ist kampflos entschieden worden. Ausgerechnet die Bodenseemetropole Konstanz hat keine Mannschaft an die Bretter bekommen.

XXXI

Eigentlich will ich ja noch herausfinden, wer den Twitter-Account der Steißlinger führt. Aber die sind schon weg. Okay, dann schnell abbauen.

„Nicht mehr als fünf Stunden“, hatte ich gesagt. Gleich 16 Uhr. Das gibt Ärger.

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Gerhard Streich
Gerhard Streich
3 Jahre zuvor

Für Küchenpsychologen stellt sich die Frage: Wie hätte sich der Wüterich nach der Partie verhalten, wenn er diese verloren hätte? Merke: Schach stimmt aggressive Männer milde. Wenn sie gewonnen haben.

Smicek
Smicek
3 Jahre zuvor

Hübsch geschrieben :-).

Schachtürke
Schachtürke
3 Jahre zuvor

Ein schöner Artikel! Für das nächste Mal 1. d4 d5, 2. Nc3 empfehle ich, die Stellungen nach …Sf6, 3. Lf4 e6! gefolgt von …Lb4 zu studieren. Falls 4. Sb5 dann Sa6, der weiße Springer wird später mit c6 vertrieben. Schwarz steht hier recht bequem. Es lohnt sich, das ein wenig anzuschauen, da viele Club-Spieler sich den “Jobava-London”-Aufbau bei Simon Williams abgeschaut haben…

Analyst
Analyst
3 Jahre zuvor

53.Te8+ Kd7 54.Dxc8+ Kxd6 ist zwar aufgabereif aber noch nicht matt, oder?

Analyst
Analyst
3 Jahre zuvor

53.Te8+ Kd7 54.Dxc8+ Kxd6 55.Dc5+ Kd7 56.Te7+ Kd8 57.Dd6+ Kc8 58.Te8# ist matt in 6, oder hab ich was übersehen?

Analyst
Analyst
3 Jahre zuvor

Ok, Hilfsmatt in 2 ist schöner, ich gehöre allerdings eher zur Aufgeben-Fraktion 😉

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[…] Mannschaftskampf in der Bodenseeliga: ein Drama in 31 Akten […]

Troc
Troc
3 Jahre zuvor

Wunderschöner Bericht – sehr genau beobachtet – eine Hoffnung für das reale Schach

Simon
Simon
3 Jahre zuvor

Punkt Nummer 7 ist schon ein riesiger Skandal, bedeutet nämlich defakto die Ausgrenzung von Gesunden oder wer soll sich für jeden Mannschaftskampf einen 25€ teuren Test löhnen können ??? Unglaublich, da bin ich unglaublich empört diese Diskrimierung lässt bei mir Erinnerungen aus den dunkelsten Zeiten der Geschichte aufkommen …. jetzt darf man nach 2 Jahren Schachverbot immer noch nicht seinem Hobby frei nachgehen

schwichtd
schwichtd
3 Jahre zuvor

Also bei uns ist man mit der lästigen 3G-Kontrolle bzw. der damit einhergehenden Drohung einer Diskussion so umgegangen…

… man hat einfach nicht kontrolliert. Ein einfaches Nicken auf die Frage, ob man geimpft sei, reichte völlig aus. Wir gehen davon aus, das da auch jeder ehrlich ist. 🙂

Es hätte sowieso keiner einen gekauften Pass von einem Echten unterscheiden können.