Siegertypen

Wer glaubte, das Fehlen der indischen 2600-Wunderknaben Praggnanandhaa, Gukesh und Nihal Sarin bei der Kramnik-Challenge mache die Aufgabe für Vincent Keymer leichter, den belehrte der deutsche Wunderknabe eines Besseren: Weniger direkte Konkurrenten im Feld bedeute weniger Gelegenheiten, sich durch Siege im direkten Vergleich von diesem Feld abzusetzen. Das erklärte Keymer am Sonntagabend, nachdem er die Kramnik-Challenge gewonnen hatte – unter anderem dank eines Sieges gegen einen direkten Konkurrenten in der vorletzten Runde:

Keymer blieben während der drei Turniertage Vergleiche mit dem indischen Trio erspart. Die drei hatten entschieden, auf die Kramnik-Challenge zu verzichten. Stattdessen verstärkten sie die zwei Dutzend Spieler starke Gruppe indischer Spitzen- und Nachwuchsspieler, mit denen sich Alexander Donchenko beim RTU-Open in Riga herumschlagen musste – indirekt zumindest. Zu direkten Vergleichen kam es nicht.

Das hängt auch mit Alexander Donchenkos Fehlstart zusammen, der schließlich in ein perfekt gespieltes Schweizer Gambit mündete. Nach 1,5/3 zum Auftakt legte Donchenko sechs Siege am Stück hin. Seine unglückliche Niederlage im Zeitnot-Drama gegen den 60-jährigen Ralf Akesson erinnerte an die kurz zuvor in Biel erlittene Niederlage gegen Georg Seul (siehe dieser Bericht). „Diese beiden Nullen waren das Ergebnis von wenig Zeit auf der Uhr. Wenn man in so einer Phase nur eine Minute aus der vollen Konzentration raus ist, reicht das schon aus“, erklärt Donchenko.

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Tolle Ergebnisse hatten die Inder in Riga nicht – aber Spaß.

In Biel statt beim German Masters hatte Donchenko teilgenommen, weil sich das Masters „angefühlt hätte, als würde ich das gleiche Turnier zum dritten Mal spielen“. Es fehlte die Herausforderung, das Neue. Der neuerliche Wettbewerb mit den deutschen Kollegen „hätte nicht zu viel Unterhaltung geführt“, sagt der 23-Jährige.

Unterhaltung bekamen Beobachter in Riga jede Menge, als Donchenko ab der vierten Runde zu seiner Siegesserie ansetzte, um sich einen Showdown um den Turniersieg in der neunten Runde zu erkämpfen. Anfangs gerieten die Partiegewinne des Gießeners noch ein wenig wackelig, dann zunehmend souverän und zum Schluss, als es im Nervenspiel mit Schwarz gegen den Co-Führenden Igor Kovalenko drauf ankam, dominierte Donchenko mit chirurgischer Präzision:

https://youtu.be/B0eDGHTZFwc

Die drei hochgelobten indischen Youngster hatte Donchenko im Lauf seiner Aufholjagd überholt. Sie kamen auf den Rängen 13 (Pragg, 6,5 Punkte), 18 (Nihal Sarin, 6 Punkte) und 26 (Gukesh, 6 Punkte) ein. Ihr Landsmann Großmeister Narayanan, der nach acht Runden gemeinsam mit Donchenko und Kovalenko mit 6,5 Punkten geführt hatte, beendete seine Neuntrunden-Schwarzpartie gegen Ilya Smirin mit einem schnellen Remis.

Das stand am ersten Brett nicht zur Debatte. Kovalenko gilt als Vertreter der Kompromisslosigkeit, und dem ebenfalls immer alles auskämpfenden Donchenko war es ganz recht, nicht frühzeitig von einem Friedensangebot in Versuchung geführt zu werden. „Wir haben beide unabhängig vom Tabellenstand gespielt“, sagt Donchenko: „Er, weil er das immer tut, und ich, weil ich mit seiner Einstellung rechnen musste.“

Freibauer im Niemandsland

Es folgte eine Partie, in der beide einander belauerten, bis die beiderseits mehr als vier Stunden lang heraufbeschworene Krise im Endspiel eskalierte (siehe Video). Nach 54 Zügen bot Kovalenko doch remis an, „aber da hatte ich kein Risiko mehr“, sagt Donchenko.

Zwei Züge später verpasste der Lette eine letzte Gelegenheit, auf dem Brett einen Remis-Anker auszuwerfen, dann ließ Donchenko ihn mit einer Serie genauer Züge nicht zurück in die Partie. Während des Letten Freibauern im Niemandsland strandete, entschied der des Deutschen die Partie.

Letzte Runde, erstes Brett, Showdown in Riga: Igor Kovalenko würde kein Remis anbieten und sich mit dem geteilten ersten Platz begnügen. Alexander Donchenko war das ganz recht so. Und als Kovalenko nach 54 Zügen doch remis anbot, wollte Donchenko nicht mehr. “Ich hatte ja kein Risiko mehr.” | Foto: Anna Shtourman

Wenige Stunden nach Donchenkos Triumph in Lettland hatte Vincent Keymer die große Gelegenheit, einen Titel zu holen. „Nailbiter“, Nagelbeißer, nennen Angelsachsen das, was sich am Ende der Kramnik-Challenge abspielte. Vor der vorletzten Runde lag Vincent Keymer einen halben Punkt hinter dem Amerikaner Awonder Liang. Um den zu überholen, brauchte Vincent einen Sieg auf Bestellung. Und der gelang mehr als überzeugend, siehe Video oben.

Nun würde in der letzten Runde ein Remis gegen die nominell deutlich schwächere Dinara Saduakassova reichen. Aber Vincent, oje, übersah früh eine nicht allzu schwierige Abwicklung, die ihm keine Wahl ließ, als eine Qualität für ein kleines Bisschen Kompensation zu geben.

Als diese Kompensation einige Züge später real wurde, griff der 16-Jährige abermals daneben. Und es gelang ihm ein zweites Mal, sich aus einer Fast-Verluststellung zurück in die Partie zu kämpfen. Am Ende führte Keymer ein kritisches Endspiel trotz Minusfigur sicher in den Remishafen

Endstand der Kramnik-Challenge. | via chess24

Eigentlich hätte bei beiden deutschen Gewinnern als nächstes die Europameisterschaft Ende August auf dem Turnierplan gestanden, bei Donchenko steht sie dort weiterhin. Über Keymer steht jetzt ein Fragezeichen. Dank seines Siegs in der Kramnik-Challenge ist Keymer für das nächste Turnier der Magnus-Tour qualifiziert, wo er eine der raren Gelegenheiten hätte, die Klingen mit der Weltklasse zu kreuzen.

Mehr Schach denn je

Allerdings überschneidet sich die Europameisterschaft mit dem Magnus-Turnier. Unabhängig davon, wie er sich entscheidet, die Carlsen-Seite chess24 deutet in ihrer Berichterstattung schon an, dass für Vincent dank seines Sieges auch eine spätere Teilnahme an einem Event der Online-Elite-Tour möglich sein sollte.

Über diesem konkreten Fall, auch über dem Fernbleiben der drei Inder bei der Kramnik-Challenge, steht das nun regelmäßige Auftreten eines neuen Phänomens:  Überschneidungen von Onlineturnieren und solchen am Brett. Nachdem es vor der Pandemie für Profis nur Schach am Brett gegeben hatte, gab es während der Pandemie nur solches online, später kam mit hybridem Schach eine Mischform dazu.

Jetzt existieren alle nebeneinander, klassisch, online, hybrid. Ist das ein Wettbewerb? Ergänzt es einander? Was ist den Spielern wichtiger? Antworten darauf gibt es noch nicht. Aktuell ist nur sicher, dass das Planen eines Turniers und das Finden von Lücken im Terminkalender so schwierig ist wie nie zuvor: Es gibt mehr Schach denn je.

(Titelfotos: Anna Shtourman, Christian Lünig/Arbeitsblende)

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