Als Vincent Keymer im Oktober auf der Isle of Man den Großmeistertitel jagte, haben wir an dieser Stelle das große Begleitprogramm abgespielt. Kein deutscher Schachspieler interessiert die Menschen so sehr wie der Wunderknabe aus Mainz, kein Schachthema ist in der öffentlichen Wahrnehmung annähernd so groß, nach keinem wird bei Google so oft gesucht wie nach dem Aufstieg des famosen Vincent.
Für eine junge, wachsende Schachseite galt es, dieses Interesse so gut wie möglich zu befriedigen. Nicht anderswo, sondern bei den Perlen vom Bodensee sollten möglichst viele Leute über Keymers Abenteuer auf der Isle of Man lesen, bei der Gelegenheit diese Seite entdecken, hängen bleiben und wiederkommen.
Also das volle Programm, kalkuliert und geplant: Vorab galt es, Spannung zu erzeugen und die Dramatik der Lage zu erklären. Das Turnier auf der Isle of Man hätte ja auch ein weiterer Akt einer monatelangen Tragödie werden können, ein weiterer vergeblicher Anlauf.
Dann Aktualität sicherstellen. Der Text über die entscheidende neunte Partie würde schon fertig sein müssen, bevor die Partie gespielt ist, sodass er nach der Partie sofort online geht, während anderswo die Leute noch schreiben müssen. Die Frage würde nur sein – mit welcher Überschrift würde er online gehen? „Wie Vincent sich die dritte Norm holte“ oder „Wie Vincent wieder knapp scheiterte“?
Und schließlich die „Stimme zum Spiel“, ohne die Sportberichterstattung nicht auskommt: Nah dran sein, Authentizität transportieren. Was sagt der junge Held, nachdem er diesen Meilenstein hinter sich gelassen hat? Ist er erleichtert, euphorisch? Gibt er sich pragmatisch?
Das volle Programm hat super funktioniert. Tausende Leute haben während der Keymer-Festspiele auf der Isle of Man die „Perlen“ entdeckt und schauen nun immer wieder mal vorbei. Die vier Keymer-Texte etablierten sich unmittelbar als die mit Abstand meistgelesenen auf dieser Seite. Das würde wahrscheinlich auf Monate hinaus so bleiben, weil es im deutschen Schach kein größeres Thema gibt als Vincent Keymer.
Dann kam der 14. November. Per elektronischem Brandbrief hatte zwei Tage zuvor der DSJ-Vorsitzende Malte Ibs die Vorsitzenden der Landesverbände und die der Schachjugenden informiert, dass der Schachbund entschieden hat, den langjährigen DSJ-Geschäftsführer Jörg Schulz binnen zwei Tagen erst freizustellen und dann zu entlassen. Malte Ibs, als DSJ-Vorsitzender Präsidiumsmitglied des Schachbunds, war in diese Entscheidung nicht eingebunden. Er wurde kurzfristig informiert.
Im deutschen Schach brach ein Proteststurm los, wie es ihn wahrscheinlich nie gegeben hat. Die Schachjugenden protestierten geschlossen, einzelne Landesverbände noch dazu. Eine Petition gegen die Kündigung verbreitete sich für Schach-Verhältnisse rasant. Verdiente und exponierte Vertreter des deutschen Schachs positionierten sich gegen die Kündigung. Genannt seien nur Hamburgs jahrzehntelanger Schach-Motor Christian Zickelbein oder Thomas Cieslik, bislang stummer Öffentlichkeitsreferent des DSB, der nach einem Jahr im Amt nun erstmals öffentlich das Wort erhob – und sich gegen sein Präsidium stellte.
Fünf Mal so interessant wie Vincent Keymer
Der Schreiber dieser Zeilen hat die Stärke dieses Sturms anfangs bei weitem unterschätzt. „Sorry, keine Zeit, wir berichten am Wochenende“ hatten die Facebook-Fans dieser Seite gelesen, als sich die am Bodensee längst vorliegende Ibs-Mail öffentlich verbreitete. Aber das ließ sich angesichts dieses Sturms nicht halten. Die Schachszene war auf den Barrikaden wie nie zuvor, ein Bericht musste her. Die Fakten hatte ich ohnehin weitgehend beisammen, die Entwicklung war ja abzusehen gewesen, eine Schulz-Fenner-Geschichte schon in Arbeit. Ungeplant und unkalkuliert entstand am 14. November „Der Fall Schulz“.
Dieser Spontanbeitrag ist fünf Mal so oft gelesen worden wie jeder der drei gezielt auf maximale Reichweite angelegten deutschsprachigen Keymer-Beiträge, mehr als doppelt so oft wie der englischsprachige. Daraus lässt sich ablesen, in welchem Maße Ibs‘ Brandbrief Engagement generiert hatte. Deutschlands Schachspieler nahmen Anteil und redeten mit, eher zu zehntausenden als zu tausenden.
Es wäre naiv gewesen zu prophezeien, dass Schachbund und Schachjugend angesichts dieses Sturms in ihren Lagern am kritischen Wochenende 15./16. November die Reißleine ziehen, eine Kehrtwende hinlegen und sich auf ihr gemeinsames Anliegen besinnen. Eine derartige öffentliche Aufregung in positive Energie zu verwandeln, würde dem deutschen Schach zwar einen Riesenschub geben, aber die Situation schien zu verfahren, die Beteiligten zu gefangen in ihren Animositäten, Ergebenheiten und Scharmützeln, dass jemand diese nie dagewesene Lage als Chance hätte verstehen können.
Umso erstaunlicher die gemeinsame Erklärung, die DSB-Präsident Ullrich Krause und DSJ-Vorsitzender Malte Ibs am Morgen des 17. November veröffentlichten. Unsere beiden Schach-Chefs sahen die Chance – und nutzten sie.
Krause und Ibs erklärten, dass sich in ihren Lagern eine Situation zugespitzt und hochgeschaukelt hatte, die dem Schach schadet. Beide erklärten ihr Bedauern, dass es so weit gekommen ist. Beide räumten ein, dass sie es versäumt haben, rechtzeitig einen konstruktiven Weg zu finden und ihre Truppen darauf zu führen. Nun habe sie die gewaltige öffentliche Erschütterung um die Causa Schulz zur Besinnung gebracht. Es gelte, einen Strich zu ziehen und neu anzufangen. Das Lagerdenken im deutschen Schach sei mit sofortiger Wirkung abgeschafft. Künftig wollten Schachbund und Schachjugend das gemeinsame Anliegen über alles andere stellen. Alle Schachspieler seien eingeladen mitzuhelfen, anzupacken und sich einzubringen. Und Jörg Schulz? Ja, der sei strengstens ermahnt worden. Aber auch er, ebenso wie jeder andere, werde künftig allein daran gemessen, ob er der gemeinsamen Sache dient.
Boah. So geht Anführer.
Schachdeutschland konnte es kaum glauben. Die Welle der Begeisterung, des Miteinanders und des Aufbruchs, die Krauses und Ibs‘ Befreiungsschlag auslöste, ist bis heute nicht abgeebbt. Das deutsche Schach reitet darauf einer goldenen Zukunft entgegen.
Tja. So hätte es laufen können. Naiv? Vielleicht. Aber viel besser als das, was tatsächlich passiert ist.
Die Spannung am Tag nach der Sitzung des Hauptausschusses in Hamburg war greifbar. Was ist mit Schulz? Was mit der DSJ? Ist das deutsche Schach noch eins? Oder zerbrochen?
Erst einmal schien es, als zerbreche das deutsche Schach-Internet unter der plötzlichen Last. Erst war die Website der Schachjugend offline, später die des deutschen Schachbunds und des Forums „schachfeld“, in dem sich unter den Titel „DSB versus DSJ – Entlassung Jörg Schulz“ mittlerweile mehr als 400 Einträge finden. DSJ wie DSB erklärten das Versagen ihrer Websites mit individuellen technischen Schwierigkeiten, keine Folge des Besucheransturms. Trotz dieser Erklärungen bleibt der Umstand, dass am Tag des größten Interesses am deutschen Schach seit Jahren fast zeitgleich drei der großen deutschen Schachwebsites in die Knie gingen.
Jörg Schulz bleibt, die DSJ soll ein e.V. werden
Bis zum späten Montagabend dauerte das allgemeine Warten und Debattieren möglicher Szenarien, während aus der DSB-Ecke durchsickerte, es werde „auf einen Kompromiss“ hinauslaufen. Dann folgten Erklärungen, die das Durchgesickerte mit vagem Inhalt füllten: Jörg Schulz bleibt vorerst, und die DSJ soll ein eingetragener Verein werden, damit der DSB nicht länger in der Verantwortung/Haftung für deren Treiben steht.
Ob das ein Sieg oder eine Niederlage für die DSJ ist? In deren Reihen gibt es angesichts der andauernden Querelen und Demonstrationen von Geringschätzung seitens der DSB-Leute seit längerem die Forderung, sich vom Muttertanker zu lösen. Nun soll das in gewissem Maße tatsächlich geschehen.
Der Weg bis zum Status eines e.V. ist lang und mit Unebenheiten gepflastert. Während der DSB genüsslich zuschaut, wird die DSJ vor dem Jahr ihres 50-jährigen Bestehens Ressourcen für Sachen verbrauchen, die sie nicht gut kann, die sie ihres Elans, ihrer Ideen und ihrer Dynamik berauben: Paragrafenreiten und Verfahrensfeinheiten. Und selbst wenn sie den Weg unfallfrei absolviert, kann Mitte 2020 der DSB-Kongress immer noch ein unpassierbares Stopp-Schild aufstellen. Eine Reise ins Ungewisse.
Kein Aufstand der Länder
Jörg Schulz, die seit 30 Jahren wichtigste DSJ-Ressource, ist zum 30. Juni 2020 gekündigt und bis dahin lahmgelegt. Vorerst bleibt er, aber mit beschnittener Kompetenz. Entscheiden und steuern darf er dem Vernehmen nach nicht mehr in eigener Verantwortung. Stattdessen wird die eh schon lange Liste von Dingen, die sich die Geschäftsstellenmitarbeiter von Marcus Fenner absegnen lassen müssen, noch länger. Bevor irgendetwas von Jörg Schulz Erarbeitetes nach draußen geht, muss es vom DSB genehmigt sein. Kontakt mit Menschen, mit denen der DSB in Rechtsstreitigkeiten verwickelt ist, ist Schulz während der Arbeitszeit untersagt.
Aus dem Umfeld des DSB-Präsidiums heißt es, die Führungsriege des deutschen Schachs sei mit dieser Entwicklung ebenso zufrieden wie mit dem Verlauf des Hauptausschusses. Ullrich Krause habe sich präsidiabel gegeben, sei bestens präpariert gewesen und habe die Vertreter der Landesverbände genau dahin gesteuert, wo er sie haben wollte. Eine lange Debatte um den Fall Schulz gab es zwar, aber zum befürchteten Aufstand aus den Ländern kam es nicht.
Tatsächlich haben sie 40 Funktionäre mitgenommen, deren Mehrheit mit Schach außerhalb von Gremien allenfalls am Rande zu tun hat, deren Mehrheit nicht mitbekommen und deswegen nicht verstanden hat, in welchem Maße der sonst eher nebensächliche Hauptausschuss dieses Mal im Fokus stand. Und was sich mit der Masse der gespannten Zuschauer hätte bewegen lassen, wenn man sie mitnimmt, anstatt die neueste Unsäglichkeit durch den Ausschuss zu mogeln, egal, wie das nach draußen aussieht.
Integrierend, integer, eigenständig?
Einige Ländervertreter beurteilen den Verlauf der Sitzung so, dass sie das Präsidium wegen eines Fehlers an die Kandare genommen und selbst die jetzt gefundene Lösung vorangetrieben hätten. Diese Sichtweise ist mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch. Wahrscheinlich wäre ein Arbeitsverbot für Schulz aus DSB-Sicht tatsächlich das Sahnehäubchen gewesen. Aber wie sehr das Präsidium auch mit der jetzigen Lösung einverstanden ist, zeigt, dass ein hochrangiger DSB-Funktionär sofort zurückgepfiffen wurde, als er nach dem Hauptausschuss öffentlich Stimmung gegen Ibs und für Krause machte und den Konflikt erneut anzuheizen versuchte. Einen neu entflammten Konflikt, womöglich einen Wechsel an der DSJ-Spitze will der DSB gar nicht. Er hat ja jetzt einerseits Kontrolle über Schulz, andererseits Ruhe vor der in den kommenden Monaten mit sich selbst beschäftigten DSJ.
Wir haben hier oft genug geschildert, in welchem Maße die einst verbündeten Nordlichter Krause und Ibs sich seit dem Frühjahr 2018 entzweit haben, wie sehr die Sprachlosigkeit zwischen diesen beiden die Arbeit für das Schach behindert und wie sehr beide in der Verantwortung standen, diesen Zustand zu beenden. Letzteres hat sich nun erledigt, mittlerweile ist es egal. Die DSJ ist jetzt mit der Arbeit über Verfahrensfragen und mit einem rundumentmachteten Geschäftsführer ruhiggestellt. Krause wird in diesem Jahrzehnt nicht mehr als integrierender, integrer und eigenständiger Präsident positionierbar sein, egal, was er tut. Immerhin, der Hauptausschuss ist ihm noch einmal gefolgt.
Malte Ibs muss sich im Nachhinein Gutgläubigkeit und Kurzsichtigkeit vorwerfen lassen. Wer gelegentlich mit Jörg Schulz Kontakt hat, der wusste seit mehr als einem Jahr, dass an seinem Stuhl gesägt wird. Schulz selbst erwartete seit längerem, er werde bald abgeschossen. Ibs muss das gewusst haben, und er hätte frühzeitig die Initiative suchen müssen, um nicht außen vor zu sein. Dachte er angesichts der Gemengelage in der Geschäftsstelle wirklich, es werde schon alles von alleine gut? War er wirklich überrascht, als Fenner/Krause ihn eine Woche nach einem vermeintlichen Versöhnungstreffen vor vollendete Tatsachen stellten?
Nicht genug für einen Rausschmiss
Dass speziell Schulz‘ Kassenführung im Fokus stand, wusste jeder, der es wissen wollte. Es genügt, den aktuellen Bericht der DSJ-Kassenprüfer oder den aus dem Jahr 2017 anzuschauen. Die darin aufgeführten Unregelmäßigkeiten, all die formalen Patzerchen müssen speziell DSB-Geschäftsführer Marcus Fenner ein Dorn im Auge gewesen sein.
Für einen sofortigen Rausschmiss, den ein Arbeitsrichter abnicken würde, hat es trotzdem nicht gereicht. Und das, obwohl der DSB laut Beobachtern Jörg Schulz und dessen Arbeitsgeräte so intensiv wie möglich durchleuchtet hat, um etwas Justiziables zu finden.
Jetzt steht in der abschließenden Erklärung ein Widerspruch: Einerseits ist das Vertrauensverhältnis laut Krause „vollständig zerrüttet“, andererseits darf Schulz bleiben. Wir dürfen angesichts der bisherigen Rigorosität des Vorgehens annehmen, dass gegen Jörg Schulz nichts strafrechtlich Relevantes vorliegt, wie es der DSB gegenüber seinem Schiedsgericht suggeriert hatte. Hätte der DSB etwas Substanzielles in der Hand, Jörg Schulz wäre heute schon Privatier.
Warum dann „vollständig zerrüttet“? Weil sich, so sagen es zwei Quellen, den DSB-Schnüfflern beim Durchleuchten Vorgänge offenbarten, nach denen sie gar nicht gesucht hatten. Jörg Schulz hat Interna seines Arbeitgebers dahin weitergegeben, wo er den Kontakt besser aufs Private beschränkt hätte.
Hier wird immer nur um Persönlichkeiten diskutiert und das Grundproblem mit all seinen Problematiken wird nicht beachtet:
Darf sich die ehrenamtliche Führung das darunter arbeitende angestellte Team selbst aussuchen?
Wie regelt man das Verhältnis von langjährigen Angestellten zu kurzfristigen ehrenamtlichen Chefs?
Das sind die Fragen für die Zukunft – im aktuellen Fall ist die Milch schon verschüttet!!
Conrad Schormann schreibt:
“Jörg Schulz hat Interna seines Arbeitgebers dahin weitergegeben, wo er den Kontakt besser aufs Private beschränkt hätte.”
Könnte da womöglich ein Zusammenhang mit einer kürzlich durchgeführten Hausdurchsuchung in Dresden bestehen, oder mit einer andauernden gerichtlichen Auseinandersetzung? Das wäre ein sehr schwerwiegender Verdacht und würde im Nachhinein einiges erklären.
[…] Als der „Fall Schulz“ eskaliert und das Schachvolk auf den Barrikaden war wie nie zuvor, gaben sie sich präsidial, und das reicht, um den gemeinen Schachfunktionär zu beeindrucken. In Hamburg gelang es ihnen, […]