Elisabeth Pähtz kommentiert: Jungstar mit Wissenslücken

Heute reiht sich die beste Schachspielerin, die es jemals in Deutschland gab, in die Riege unserer Gastautoren ein. Elisabeth Pähtz hat unlängst beim Grand Prix im russischen Skolkovo ihre Zugehörigkeit zur Weltklasse eindrucksvoll unterstrichen. Exklusiv für die “Perlen vom Bodensee” kommentiert Pähtz zwei ihrer zentralen Partien dieses Turniers, dessen Teilnehmerinnen um zwei Plätze für das kommende Kandidatenturnier stritten.

Die brutalstmögliche Standortbestimmung stand Pähtz schon in der zweiten Runde bevor: Schwarz gegen Aleksandra Goryachkina, zweifache russische Meisterin, zweifache U20-Weltmeisterin, Elo 2564, Nummer drei der Weltrangliste. Erst im Juni war Goryachkina mit 9,5/14 durch das Kandidatenturnier 2019 gepflügt. Demnächst wird sie ein WM-Match gegen Weltmeisterin Ju Wenjun spielen. Würde Elisabeth diese Partie überstehen, würde sich alles, was danach kommt, ganz leicht anfühlen.

Beim Kandidatenturnier im Juni war Elisabeth Pähtz auch anwesend. Nicht am Brett, aber abseits davon als Kommentatorin, wo sie neben ihrer schachlichen Klasse ihre individuelle Kenntnis der Teilnehmerinnen einbrachte (siehe Interview). Pähtz hat diese Gelegenheit genutzt, um sich ein noch besseres Bild künftiger Gegenspielerinnen zu machen. Die folgende Abwehrschlacht hat sie auch unfallfrei überstanden, weil sie um Tendenzen und Vorlieben, Stärken und Schwächen der jungen Russin wusste.

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Im Juni war Aleksandra Goryachkina (20) durch das Kandidatenturnier gepflügt, Anfang 2020 wird sie um den WM-Titel spielen. Jetzt beim Grand Prix wollte sie an Elisabeth Pähtz vorbei, aber das war gar nicht so einfach. Die Deutsche wusste nämlich genau um Stärken und Schwächen ihrer Gegenspielerin. (Foto: David Llada)

Elisabeth Pähtz kommentiert

Goryachkina, Aleksandra (2564) – Pähtz, Elisabeth (2479)
Women’s Grand Prix Skolkovo, 14. September 2019

Im Nachhinein entpuppte sich diese Partie als wegweisend. Sie war für mich der Beweis, dass ich in guter Form bin und mir in diesem Turnier keine großen Unfälle passieren sollten. Und so kam es.

1. d4 d5 2. c4 c6 3. cxd5

Eine Überraschung, aber nur eine kleine: Goryachkina liebt statische Bauernstrukturen. Das ist ihre große Stärke – und die kenne ich, weil ich während des Kandidatenturniers ihre Partien kommentiert habe. Darum kenne ich auch Goryachkinas Schwäche. Zu der kommen wir noch im Lauf der Partie 😉

3… cxd5 4. Bf4 Nc6 5. e3 Nf6 6. Bd3

Genau zu diesem Zug gibt es das schöne Foto von David Llada, der mein
Erstaunen (ich sah diese Zugfolge zum ersten Mal) im richtigen Moment
festhielt. Die Idee hinter dieser Zugfolge allerdings ist relativ leicht erkennbar. Weiß verhindert die “Lg4-Db3”-Variante 6. Nc3 Bg4 7. Qb3 Na5 8. Qa4+ Bd7 9. Qc2 Rc8 mit unklarer Stellung.

6.Ld3, was ist das? (Foto: David Llada)

Jetzt kann Weiß

6… Bg4

mit

7. Ne2

beantworten und auf Db3 verzichten.

7… Rc8

Vielleicht die erste Ungenauigkeit, denn es ist nicht klar, ob im späteren Verlauf der Partie nicht der andere Turm nach c8 rücken sollte. Mein oberstes Gebot galt, den Zug …a6 einzusparen, der unnötig die schwarzen Felder schwächt.

(Genauer wäre gewesen 7… e6 8. Qb3 Qd7 9. Nbc3 Be7 10. O-O O-O 11. Ng3 Nh5 12. Nxh5 Bxh5 = 0-1 (53) Aleksandrov,A (2588)-Ter Sahakyan,S (2611) Mumbai 2019)

8. h3 Bh5 9. O-O e6 10. Qb3

10… Nb4

Unnötig und natürlich nicht sonderlich logisch. Im Blitzschach hätte ich immer 10… Qd7 gezogen, aber ich hoffte, die Stellung zu verkomplizieren, wohl wissend, dass Goryachkina kein großer Fan von Verwicklungen ist.

11. Bb5+ Nd7

Noch ein Grund, warum ich mich gegen 10… Dd7 entschied. Ich dachte, dass man dieses Feld im Slawisch-Abtausch in der Regel für den Springer brauchen würde.

12. a3 Nc6 13. Nbc3 Be7

14. Bh2?!

Eigentlich frech, für diesen Zug ein “fragwürdig” zu geben, aber ich möchte zeigen, dass der aufstrebende Jungstar Goryachkina trotzdem noch hier und da Lücken hat. Der Läufer gehört nämlich nach g3! Zum einen, weil man den eigenen König nicht auf Grundreihenmatt stellt, zum anderen kann die Option, den Läufer nach h4 zu bringen, sich als nützlich erweisen.

14… Bg6 15. Nf4

An dieser Stelle habe ich sehr lange überlegt. Wie so oft kam nichts Gutes dabei heraus.

15…Nb6?!

(15… Bd6 sah ich als Option, damit ich nach Tausch auf g6 die anderen Läufer ebenfalls abtauschen kann und nicht gegen das Läuferpaar spielen muss. Nachteil jedoch: 16. Bg3! und nun drohen allerlei Abzüge. 16…Nb6 17. Na4 +=) (15… Bf5!? 16. g4 (16. Rac1 h6 unklar) 16… Bg6 unklar.)

16. Nxg6 hxg6 17. Na4

17… Nxa4?!

(17…O-O 18. Nc5 war meine Befürchtung, aber: 18… Na5! (18… Bxc5 19. dxc5 Nc4 (19… Nd7 20. Rfc1 mit großem weißen Vorteil) 20. Bxc4 Na5 21. Qb5 Nxc4 22. b3 Nd2 23. Rfc1 mit großem weißen Vorteil) 19. Qb4 (19. Qc3 Nbc4 20. b3 Nd6 21. Qd3 Nxb5 22. Qxb5 b6 =+) 19… Nbc4! Diesen Springerzug hatte ich in meiner Berechnung leider nie auf dem Schirm. (19… Nac4 20. b3) 20. b3 b6 mit ausgeglichener Stellung.)

18. Qxa4 a6 19. Bxc6+ Rxc6 20. Rfc1 Qb6 21. Rxc6

21… Qxc6? 

Schlimm an diesem Zug ist nicht die Tatsache, dass ich 22.Dd1 übersehen habe (denn das hatte ich nicht wirklich), sondern dass meine Hand automatisch diesen Zug ausführte, ohne dass ich irgendeinen Einfluss darauf hatte. Mein Gehirn hatte in diesem Moment abgeschaltet und das wiederum beängstigte mich, denn es ist ein Zeichen von Unkonzentriertheit bzw. schlechter Form.

(Besser wäre 21… bxc6 22. Rc1 Kd7 23. b4 Qb5 24. Qc2 und Schwarz sollte deutlich weniger Sorgen haben, als in der Partie.)

22. Qd1! Qb6 23. Qc2

23… Kd7

(23… Qc6 24. Qd2 Bd6 25. Bxd6 Qxd6 26. Rc1 +=)

24. Rc1 Bd6 25. Bxd6

(25. Be5!? empfand ich in der Partie als deutlich unangenehmer. Man könnte meinen, dies ist Geschmackssache, aber ich würde es indirekt wieder als eine minimale Schwäche meiner Gegnerin bezeichnen: Strukturänderungen oder die Umwandlung in dynamische Stellungsbilder wendet die Russin nur im äußersten Notfall an. 25… Bxe5 26. dxe5 Ra8 27. g3 +=)

25… Qxd6 26. Qb3

26… Rb8?

Das richtige Feld, die falsche Figur.

(26… Qb8! 27. Rc5 Rc8 28. Qa4+ Ke7 29. Qb4 Kd7 30. h4 +=)

27. a4

(27. h4! wäre wichtiger gewesen. Denn es fixiert die “zweite Schwäche”!})

27… b5?! 28. Rc5

28… Qb6

(28… bxa4 war mein Plan gewesen, sonst hätte ich gar nicht erst einen Zug
wie … b5 in Erwägung gezogen. Allerdings übersah ich folgende Variante in
meiner Berechnung} 29. Qxa4+ Ke7 30. Rc6 Rb4 und nun 31. Qxa6, das war mir entgangen, als ich 27…b5 zog.)

29. axb5 axb5 30. Qb4 Qa6 31. b3 g5!

Für mich eine superschwere Entscheidung, denn mir war durchaus bewusst, dass ich meine Gegnerin zu dem Bauernvorstoß 32. e4 förmlich einlade. Jedoch half mir wiederum mein Wissen, welches ich mir dank des Kandidatenturniers aneignen konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Goryachkina hier e4 spielt, ist ebenso hoch wie die, dass eine Gunina es  nicht spielt! Ohne …g5 hatte ich große Bedenken, dass meine Gegnerin irgendwann doch beschließt, mich mit h4 festzunageln. Laut dem Prinzip der zwei Schwächen würde dies bedeuten, dass ich jedes Turmendspiel verliere. Also Augen zu und durch.

32. Rc1

Ab hier fing sie an, einige Ungenauigkeiten zu machen, sodass ich es schaffte, meine schwache Königsstellung zu verbessern.

(32. e4! Laut Rechner natürlich kein Problem, aber für einen Menschen wäre dieses Endspiel unglaublich schwer zu verteidigen. 32… Qa1+ 33. Kh2 dxe4 34. Rxg5 (34. d5? Qe5+ und Schwarz hat erheblichen Vorteil.) 34… Qc1!! (Diagramm) Einziger Zug, und den muss man erstmal finden! (34… g6 35. Rxb5 Rxb5 36. Qxb5+ Ke7 37. Qb7+ Kf8 38. Qxe4 und Weiß gewinnt) 35. Rxg7 Qf4+ 36. Rg3 Qxf2 37. Rg4! e3 (37… Qc2! verhindert Dc5, und Schwarz hält.) 38. Qc5 e2 39. Qa7+ und Weiß gewinnt.)

32… Qd6 33. Qa5 Qb6

34. Qc3 

Meines Erachtens ist es unnötig, … b4 zu provozieren, denn es hilft mehr Schwarz als Weiß.

(34. Qd2 b4 35. e4!)

34… b4 35. Qd3 g6 36. Rc5 Ke7

37. Qc2

(37. e4!?)

37… Kf6 38. Qa2 Rb7 39. Qa8 Rb8 40. Qa4

40… Qb7

(40… Qd8! 41. Qa7 Ra8 42. Qb7 Ra1+ 43. Kh2 Qd6+ 44. g3 Qa6 45. Qxa6 Rxa6 46. Rb5 Kf5 47. Kg2 Ke4 48. Rxb4 f5 = (Diagramm) Dieses Endspiel ist trotz weißem Mehrbauer ausgeglichen, weil die schwarze Aktivität am Königsflügel das Materialminus kompensiert. Aber darauf kommt kein Mensch, erst recht nicht, wenn er sich im 40.Zug unter Zeitdruck dafür entscheiden soll.)

41. Qa5 Qb6 42. Qxb6 Rxb6 43. Rc7

Ich wusste, dass ich auf lange Sicht diese Konstellation mit dem Turm auf der siebten Reihe nicht verhindern kann. An dieser Stelle hatte ich zwei Möglichkeiten. A) die aktive Verteidigung oder B) die passive. Letztendlich hatte ich keine Wahl, denn ich konnte nicht sehen, wie ich eine passive Verteidiung auf lange Sicht überleben soll.

43… e5!

(43… Rb8 44. Kf1 Kg7 45. Ke2 Rb6 46. Kf3 Kf6 47. Kg4 Rb8 48. Rc5 und selbst, wenn der Rechner das hält, ist es superunangenehm zu verteidigen und für einen Menschen kaum abschätzbar.)

44. dxe5+ Kxe5 45. Rxf7 Ke4 46. Rc7 Kd3 47. Rc5

47… Rf6!

Ein wichtiger Zug hinsichtlich allem Weiteren, denn nun muss sich meine Gegnerin am Königsflügel erklären.

(47… Ra6 48. g4 Ra3 49. Rxd5+ Kc2 50. Rxg5 Ra6 51. f4 Kxb3 52. f5 =)

48. g4

(48. f3 Ra6 49. Kf2 Ra3 50. Rxd5+ Kc2 51. Rxg5 Ra6 52. Rb5 Kxb3 53. e4 Natürlich sind solche Stellungen letztlich immer irgendwie Remis, aber praktisch ist es kein Kinderspiel, am Ende mit Turm gegen drei rennende Bauern zu bestehen.)
(48. Txd5? Kc3 und plötzlich spielt Schwarz auf Gewinn.)

48… Ke2 49. Rxd5 Rxf2 50. Rxg5

50… Kf3!

(50… Kxe3 hält auch remis, aber nicht so einfach. 51. Rxg6 Rb2 52. Rf6 Rxb3 53.
g5 Rc3 54. Kg2 Ke4 =)

51. Rxg6 Rb2 52. Rf6+ Kg3 53. Kf1 Rxb3 54. Ke2

54… Rb2+!

Ein letzter Schlüsselzug, damit der schwarze König nicht am Rand festgenagelt wird.

(54… Kxh3?? 55. Kf3 und Weiß gewinnt.)

55. Kd3 Kxh3 56. g5 Rg2 57. Rb6 Kg4 58. g6 Kf5 59. Rxb4 Kxg6

60. Rb6+

(60. Rf4 hätte ich noch versucht, doch auch das ist nach 60… Ra2 leicht remis: 61. e4 Ra3+ 62. Kd4 Ra4+ 63. Kc5 Ra5+ 64. Kb6 Ra1 65. Kc5 Ra5+ =)

60… Kf7 61. Ke4 Rg5 62. Kf4 Ra5 63. e4 Ke7 64. Rh6 Rb5 65. Rh7+ Ke6 66. Ra7 Rc5 67. Ra6+ Ke7 68. Ke3 Rb5 69. Kd3 Rh5 70. Kc4 Kd7 71. Ra7+ Ke6 72. Ra8 Ke7 73. Ra1 Ke6 74. Rd1 Re5 75. Kd4 Ra5 76. Ke3 Ke5 77. Rd3 Rb5 78. Ra3 Ke6 79. Kf4 Ke7 80. Ra7+ Ke6

1/2-1/2

(wird fortgesetzt)

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Claus Seyfried
4 Jahre zuvor

Sehr schön, dass Elisabeth Pähtz das so ausführlich kommentiert!

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[…] ihrem hart erkämpften Schwarzremis gegen WM-Herausforderin Aleksandra Goryachkina hatte sich Elisabeth Pähtz beim Grand Prix die […]

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[…] Abtausch-Slawe birgt einiges Gift und lässt sich durchaus als Waffe einsetzen. Aber eben auch als Remiseröffnung für Weiße, die […]

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[…] Aleksandra Goryachkina (r.) schlagbar ist, hat Elisabeth Pähtz schon bewiesen. | Foto: […]

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