Rumms!
Als Dieter Nisipeanu zum ersten Mal aufs Brett von Vincent Keymer blickte, frohlockte der 45-Jährige: Wie sollte nach diesem Springeropfer der ins Freie gezerrte schwarze König überleben? Aber ein Blick auf die Miene von Jonas Buhl Bjerre und auf die Uhr offenbarte Besorgniserregendes. Der Däne schien glücklich mit dem Verlauf der Dinge zu sein, und er pfefferte seine Züge in Sekundenschnelle aufs Brett. Vincent Keymer hatte ein Springeropfer entkorkt, auf das Bjerre vorbereitet war. Keymer würde nun nicht gegen den Dänen, sondern gegen dessen Computeranalyse spielen müssen.
Und so ereilte Vincent Keymer bei seiner Premiere in der Nationalmannschaft eine kalte Dusche (siehe analysierte Partie unten). Aber er war ja Teil einer Mannschaft, und die tat, was zu tun ist, wenn einer strauchelt: die Kohlen aus dem Feuer holen. Rasmus Svane mit einer strategischen Musterpartie (und trotz dänischen Passes) und Liviu Dieter Nisipeanu mit einem schwungvollen Angriff stellten den 2,5:1,5-Sieg der deutschen Herren über Dänemark sicher. Bei den Frauen war es auf den Brettern schwieriger, als es das letztlich souveräne Ergebnis spiegelt: 3,5:0,5 gegen Norwegen.
Am heutigen Sonntag stehen beiden Mannschaften Matches bevor, in denen sie nur gewinnen können. Die Herren treffen auf Aserbaidschan, angeführt von den Top-10-Spielern Shakh Mamedyarov und Teimour Radjabov. Die Damen spielen gegen die topgesetzten Russinnen mit 2600-GM Aleksandra Goryachkina am ersten Brett. Um 15 Uhr geht’s los.
Liveübertragung
Das Setting für Vincent Keymers Premiere in der Nationalmannschaft erschien wie gemalt: zum Auftakt mit den weißen Steinen gegen das seit Jahrzehnten größte Talent des dänischen Schachs, eine Partie, die wir in der Zukunft noch häufig sehen werden. Aber dann lief Keymer in eine Computeranalyse:
Gleichwohl drohte den Deutschen zu keinem Zeitpunkt eine Niederlage. Die drei anderen Partien entwickelten sich rasch günstig. Sogar Alexander Donchenko konnte mit den schwarzen Steinen gegen den Beton-Abtausch-Slawen seines Gegners zeitweise vom ganzen Punkt träumen.
Das 1:1 besorgte schließlich Nisipeanu:
Beide deutschen Mannschaften haben sich mit zwei Auftaktsiegen (ausführlicher Bericht über den Verlauf) in eine Position gebracht, in der sie sich im Kreis der Weltklasse wiederfinden. Jetzt kommt’s knüppeldick. Die Herren werden heute gegen Aserbaidschan an den ersten beiden Brettern nominelle Außenseiter sein, an den zweiten beiden etwa gleichwertig. Gänzlich außer Reichweite ist Aserbaidschan (erstmals seit fünf Jahren ohne Arkadij Naiditsch) nicht, aber es wird ein Sahnetag vonnöten sein, um Zählbares zu holen.
Die Damen sind gegen Russland an allen Brettern krasser Außenseiter. Aber auch hier sehen wir einen Hoffnungsschimmer. GM Aleksandra Goryachkina ist schlagbar. Wie sie sich besiegen lässt, hat Elisabeth Pähtz 2019 beim Grand Prix der Frauen nicht nur demonstriert, sie hat die Partie einst exklusiv für diese Seite kommentiert:
[…] EM begann für den Neu-Nationalspieler Vincent Keymer mit einer kalten Dusche, er lief in Computervorbereitung des Dänen Jonas Buhl Bjerre. Danach erzielte er fünf Punkte aus […]
[…] Bester Spieler des Teams war Rasmus Svane. 5,5/7 gegen einen 2480-Schnitt ergeben die 2710-Performance, von der es mehrerer bedurft hätte, um sich Richtung Podium zu orientieren. Aber in die Nähe einer 2700 kam ansonsten nur Debütant Vincent Keymer (2666), dessen Niederlage gegen Jonas Buhl Bjerre eigentlich aus der Wertung genommen gehört. Keymer hat ja gar nicht gegen Bjerre verloren, sondern gegen dessen Engine (kommentierte Partie in diesem Beitrag). […]
[…] EM: zweiter Doppelsieg für Deutschland, kalte Dusche für KeymerVincent Keymers erste Partie in der Nationalmannschaft verlief nicht nach Wunsch, er geriet in die Heimanalyse des Dänen Jonas Buhl Bjerre. […]