Sich auf ein Match mit Garry Kasparow vorzubereiten, war während der Regentschaft des Russen eine kaum zu bewältigende Mammutaufgabe. In der Breite und Tiefe ausgearbeitet wie kaum ein anderes, war das Eröffnungsrepertoire des Russen gespickt mit Neuerungen, Fallstricken und Ideen. Legendär waren bis Mitte der 80er seine bestens gehüteten, mit Eröffnungswaffen gefüllten Notizbücher, später dann seine Eröffnungsdateien, in die er als Mitentwickler und erster Chessbase-Kunde (“Beta-Tester” würden wir ihn heute nennen) sogleich den Inhalt seiner Notizbücher übertrug.
Ja, Kasparow war der überragende Spieler seiner Zeit, der unser Verständnis von Dynamik im Schach auf eine neue Stufe gehoben hat. Unter welchen Umständen Initiative und/oder Angriff wertvoller sind als eine integre Struktur und/oder Material, anhand welcher Faktoren wir das einschätzen können, das verstehen wir heute besser, weil wir es anhand von Kasparows Partien studieren können. Aber für die Meister, die es mit ihm zu tun bekamen, ging es erst einmal darum, den Beginn der Partie zu überleben.
Wie schwierig allein das war, erlebte Visvanathan Anand 1995 in New York beim WM-Match gegen Kasparow im World Trade Center. In beinahe jeder Partie lief die Eröffnung unbefriedigend (oder noch schlechter) für den Herausforderer, so dass der schließlich aus Verzweiflung zur Skandinavischen Verteidigung griff. Die ist zwar auf allerhöchster Ebene nicht gänzlich konkurrenzfähig, stellte aber sicher, dass Anand nicht wieder auf eine Eröffnungsmine Kasparows trat.
Video: Wie Anand Lautiers Überraschungswaffe zum Bumerang machte
Nach dem Match profitierte Anand von der immensen Eröffnungsarbeit, zu der ihn ein Gegner wie Kasparow gezwungen hatte. Als ihn 1997 der Franzose Joël Lautier mit Skandinavisch überraschen wollte, musste Anand sich nur Erinnerung rufen, was er sich 1995 zur Vorbereitung auf die WM-Partie angeschaut hatte. Dann gelang es ihm auch noch, am Brett die Eröffnungstheorie um eine neue Idee zu bereichern, und am Ende krönte er die Partie mit einem spektakulären Damenopfer (siehe Video).
Einst angetrieben vom übermächtigen Kasparow, gilt Anand heute höchstselbst als die Koryphäe in Sachen Eröffnungsvorbereitung, was er neben seiner ungebrochenen Arbeitskraft auch seinem Sekundanten Radoslaw Wojatszek verdankt. Der polnische Großmeister, selbst ein Spieler der erweiterten Weltklasse, füttert seinen indischen Chef stets mit Varianten und prüft alles, womit Anand am Brett konfrontiert werden könnte, auf Herz und Nieren.
Bevor Anand seine Memoiren und ein Buch über moderne Eröffnungstheorie schreibt, können wir Normalsterblichen derweil weiter von Kasparow lernen. In den fünf Giganten-Matches Kasparow-Karpow ab 1984 haben die beiden Kontrahenten das Spitzenschach allgemein und die Eröffnungstheorie auf eine neue Stufe gehoben, auf der ihre Nachfolger aufbauen konnten.
Der Revolution auf den 64 Feldern, die in den K&K-Wettkämpfen kulminierte, hat Kasparow nach dem Ende seiner Karriere ein Denkmal gesetzt – und nicht den Umstand vernachlässigt, dass er und Anatoli Karpow selbst auf den Schultern von Giganten standen, speziell eines Giganten: unter dem Einfluss von Bobby Fischers Vermächtnis krempelte sich das Eröffnungsspiel schon in den 1970ern um, und das setzte sich fort, bis Kasparow und Karpow ab 1984 all die neuen Erkenntnisse in ihren Matchpartien anwandten.
Ein Eröffnungslesebuch ohne Varianten-Dschungel
“Modern Chess” ist im Vergleich zu “My great predecessors” die weniger bekannte (und weniger kostspielige) Buchreihe Kasparows, die wir als Ganzes, speziell aber den ersten Teil empfehlen: “Revolution in the 70s” beschreibt, wie über 50 Jahre nach den Hypermodernen noch einmal ganz neue Ideen im Schach Einzug hielten, wie sich zum Beispiel der Igel-Aufbau etablierte und dessen Gegenspieler erst mühsam lernen mussten, was dahintersteckt. Ein Eröffnungs-Lesebuch, das Entwicklungen aufbereitet und skizziert, anstatt den Leser in einen Dschungel von Varianten zu lotsen.
Als noch einmal besonders herausragender Kenner gilt Kasparow bis heute auf dem Gebiet seines geliebten Najdorf-Sizilianers, den er im Zusammenarbeit mit Chessbase separat aufbereitet hat. Wahrscheinlich würden wir auch diese DVD-Serie empfehlen, stünde sie denn bei uns im Schrank.
Dort steht aber die DVD “Kasparow: Wie man Damengambit spielt”, ein monumentales Werk über eine weitere Eröffnung, die er und Karpow seinerzeit ausgiebig geübt haben. Auch diese DVD beginnt mit einem historischen Überblick: Wie hat sich die Eröffnung entwickelt, was sind die Ideen, in welche Systeme unterteilt sie sich, und wer hat die eigentlich erfunden.
Dann geht es in die Tiefe, und das mitunter so rasant, dass dem Betrachter während dieser Damengambit-Druckbetankung seines Gehirns schwindelig werden kann. Aber es gibt schlimmere Schwindelgefühle als jene, die sich einstellen, wenn Kasparow seine Zuschauer durch Eröffnungsgefilde schleift. Außerdem hat der elektronische Garry eine Pause- und Zurück-Taste, wie praktisch.
[…] Karpow 1986 profitierte der technikaffine Garry Kasparow davon, mit diesem revolutionären Werkzeug besser vertraut zu sein als jeder andere […]