Neun Wochen bis zum Grenke Classic 2019: Was Vincent Keymer noch fehlt

Seinen Sieg beim Grenke-Open 2018 hatte Vincent Keymer ebenso wenig erwartet wie alle Beobachter. Als 99. der Setzliste ließ der 13-Jährige reihenweise Großmeister hinter sich. In der Schlussrunde besiegte er obendrein den Top-25-Spieler Richard Rapport.

Es ist nur natürlich, von so einem Erfolg derart überwältigt zu sein, verwirrt womöglich, dass es dauert, bis ein klarer Plan für das weitere Vorankommen gefasst ist. Als 2.470-IM, der gerade eine Weltklasseleistung hingelegt hat, wusste Vincent so gar nicht, wo er nun steht und was seine kurz- und mittelfristige Perspektive ist. Und so antwortete er auf die Frage nach dem Grenke Classic 2019, für das er sich mit seinem Sieg qualifiziert hatte: “Ich weiß nicht, ob ich da mitspiele. Die sind ja so viel besser als ich.”

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Keymers Sieg über Richard Rapport: Nicht nur vor einem Jahr in Karlsruhe, auch unlängst in Wijk an Zee hat Magnus Carlsen dem jungen Deutschen über die Schulter geschaut. Er muss ja davon ausgehen, dass ihm der 14-Jährige Ostern gegenübersitzt. (Foto: Souleidis/Grenkechess)

Wahrscheinlich eine authentische Aussage, die widergab, was Vincent Keymer im Moment seines Sieges gefühlt hat. Sie führte zu einem zehnmonatigen Rätselraten. “Spielt Vincent das Grenke Classic?”, die Gretchenfrage des deutschen Schachs seit Ostern 2018.

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Offiziell ist nichts bestätigt, die Frage ist offen, und doch haben wir uns in der Vergangenheit an dieser Stelle mehr als einmal aus dem Fenster gelehnt und die Frage sogar schon beantwortet, bevor das immer noch abwägende Duo Keymer/Leko selbst einen Entschluss gefasst hatte: Natürlich spielt er mit. Was sonst? Mit der Qualifikation für das Superturnier hat sich Vincent Keymer ein Geschenk gemacht. Nun soll er es auspacken und sich daran erfreuen.

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Auf der Isle of Man hatte Vincent Keymer Gelegenheit, selbst Weltmeistern über die Schulter zu schauen und sich an die Gegenwart der ganz Großen zu gewöhnen. (Foto: Saunders)

Vincent Keymer ist ein ambitionierter Schachspieler, und einem solchen kann nichts besseres widerfahren als die Gelegenheit, im Wettstreit mit der bestmöglichen Konkurrenz zu wachsen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, würde Vincent dieser fantastischen Gelegenheit nicht schon seit Wochen entgegenfiebern. Außerdem: Was wäre die Alternative? Sich im Open mit elenden Nichtskönnern wie dem Schreiber dieser Zeilen herumschlagen? Oder gar nicht hinfahren? Zuschauen, wie auf der Bühne die ganz Großen miteinander wetteifern, anstatt selbst auf der Bühne zu sitzen? Frustrierend wäre das, sonst nichts.

“Die sind ja so viel besser als ich” gilt gleichwohl immer noch. Aber Vincent Keymer hat aufgeholt, und das nicht nur, weil sein Elo die 2.500 längst überschritten hat. Sein Turnierprogramm in den Monaten nach dem großen Sieg haben Keymer und sein Trainer Peter Leko gezielt darauf ausgerichtet, den Wettkampf mit möglichst starken Gegenspielern zu suchen. Beim Challengers in Wijk an Zee ergab sich obendrein die Gelegenheit, Rundenturnier zu üben und sich an die Gegenwart von Carlsen&Co zu gewöhnen.

Eine Lehrstunde in Sachen praktischer Spielstärke

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Vladislav Kovalev. (Foto: Alina l’Ami/Tata Steel Chess)

Nicht nur Keymers Sieg über Boris Gelfand auf der Isle of Man zeigte, dass der junge Mann längst das Potenzial hat, auch den ganz Großen des Schachs wehzutun. Gelegentlich zumindest. Was noch fehlt, ist praktische Spielstärke und Konstanz.

Die eine oder andere Lehrstunde in Sachen praktischer Spielstärke und Zähigkeit hat Vincent Keymer zuletzt bekommen. Die wahrscheinlich eindrucksvollste erteilte ihm neulich in Wijk an Zee der weißrussische Großmeister Vladislav Kovalev, der nach komplett versemmelter Eröffnung so lange wühlte und stichelte, bis sein junger Gegner ihm Chancen gab. Und die nutzte er.

Ähnliches wird Vincent Keymer voraussichtlich beim Grenke-Turnier widerfahren. Aber da sind Ergebnisse nun wirklich piepegal. Ob er am Ende nun bei 0/9 oder 2/9 aufschlägt: Vor allem möge er die Gelegenheit genießen.

Vincent Keymer (2.500) – Vladislav Kovalev (2.687)
Wijk an Zee, 11. Januar 2019

Der Turniersieg im Challengers war zu dieser zehnten Runde für Vincent Keymer außer Reichweite, aber der Großmeistertitel noch drin. Würde er nicht verlieren, gewinnen gar, wäre Keymer auf Kurs. Für den fast 200 Elo schwereren Schwarzen ging es derweil um die Qualifikation für das Tata-Steel-Masters 2020.

Gegen den jungen Deutschen will Schwarz mit Macht einen vollen Punkt, und darum spielt er “irgendetwas”, macht freiwillig Zugeständnisse, um dem Weißen einen Kampf aufzuzwingen, ähnlich wie es unlängst in Spanien Anton Demchenko gegen Keymer tat. Auch Demchenko geriet mit seinem “beschleunigten Damenindisch” bald in eine kritische Lage. Aber in dieser Partie greift Kovalev noch ärger daneben als vor ein paar Monaten Demchenko. Die Eröffnung endet nicht mit einem offenen Kampf bei moderatem Vorteil für Weiß, sondern fast mit einem Desaster für den Schwarzen.

1. c4 g6 2. d4 Bg7 3. Nf3 d6 4. g3 e5 5. Nc3

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So weit, so gut. Jetzt beginnt Kovalev herumzukaspern.

5… Nc6?!

(5… exd4 6. Nxd4 Ne7 7. Bg2 Nbc6 sollte angenehm für Weiß sein, ist aber allemal spielbar.)

6. dxe5 dxe5?!

(6… Nxe5 += ist Pflicht.)

7. Qxd8+

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Sieben Züge gespielt, und dem Schwarzen geht Material verloren. Besser kann eine Partie gegen einen 2.700er kaum beginnen.

7… Kxd8

(7… Nxd8 8. Nb5 Ne6 9. Ng5 hilft auch nicht.)

8. Bg5+ f6 9. O-O-O+ Ke8 10. Nb5

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Gewinnt den Bauern c7. Schwarz ist im Eimer, mehr oder weniger. Andererseits: Nichts ist schwieriger, als eine gewonnene Stellung zu gewinnen.

10… Kf7 11. Nxc7 Rb8 12. Be3 Nh6

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Dem Sc7 winkt kurz- und mittelfristig der wunderbare Vorposten d5. Sich ohne Not dieser Perspektive zu berauben, verdirbt nicht die Partie, macht die Sache aber
schwieriger.

13. Nb5?! Nf5 14. Bc5 a6 15. Nd6+ Nxd6 16. Bxd6 Ra8 17. e3 Be6 18. Nd2 Rhd8 19. Bc5 f5 20. Be2 e4 21. Bb6 Rdc8 22. Kb1 Ne5 23. b3

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Weiß hat immer noch einen Bauern mehr, aber darüber hinaus nicht viel. Der Umstand,
dass kein schwarzer Turm die d-Linie betreten darf, stört den Schwarzen vorerst wenig. Weiß hat keinen guten Plan einzudringen, dafür aber drei Problemkinder in seinen Reihen: auf d2, e2 und h1. Ohne baldiges f2-f3 wird Weiß kein Spiel finden.

23… a5

Andererseits erfreut sich Schwarz für den Moment zwar eines gewissen Raumvorteils und der aktiveren Figuren, aber auch er hat keinen guten Plan, Fortschritt zu machen – außer diesem. …a4 mit Gegenspiel soll kommen. Weiß sollte das verhindern.

24. f3?!

(24. a4 verlangen die Engines, um Schwarz gar nicht erst Spiel zu geben. Folgen würde sukzessives Befreien des Weißen mit der Perspektive, in 20 Zügen ein (hoffentlich) gewonnenes Endspiel mit Mehrbauern auf dem Brett stehen zu haben.)

24… a4

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Und schon muss sich Weiß mit fiesen taktischen Tricks des Schwarzen auseinandersetzen. Wir dürfen feststellen, dass Keymer die Partie spätestens ab jetzt keinen Spaß mehr gemacht hat.

25. Bd4

(25. fxe4? axb3 26. axb3 Nc6! und Schwarz wäre schon am Drücker.)

25… Nc6!

Schwarz steckt einen zweiten Bauern ins Geschäft, um Spiel zu bekommen.

26. Bxg7 Kxg7 27. fxe4 fxe4

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28. Kb2

(28. Nxe4? axb3 29. axb3 Bf5 30. Bd3 Nb4 mit schwarzer Initiative.)

28… Nb4 29. Nxe4

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29… a3+!

Saustark und wahrscheinlich überraschend für Keymer. Der Wunderknabe aus Mainz muss jetzt nicht nur einen Gegner bekämpfen, der plötzlich auf 2.800-Level hochschaltet, nachdem er die Eröffnung wie ein Patzer versemmelt hat. Obendrein wird die Uhr zum Gegner. Zeitnot, beiderseits.

(29… axb3 sieht aus wie der natürliche, der selbstverständliche Zug, um den Ta8 mitspielen zu lassen. Aber tatsächlich kann Weiß sich nun aussuchen, wie er seinen Vorteil behalten will. 30.a3, 30.a4, sogar 30.axb3 Tc2+ 31.Kc3 ist jeweils gut für Weiß.)

30. Ka1 Rf8

Unangenehm für Weiß, der sich mit diversen schwarzen Sticheleien auseinandersetzen muss, während seine Puppen so gar nicht zusammenspielen. Objektiv hat Schwarz Kompensation für die beiden Bauern, und praktisch hat er das viel einfachere Spiel. Die Partie hat sich komplett gedreht.

(30… Nc2+?! 31. Kb1 Nxe3 32. Rd3 und Weiß wäre für den Preis eines Bauern koordiniert.)

31. Nc5 Rae8 32. Rd2 Rf2 33. Ne4 Rg2 34. Bf3 Rxd2 35. Nxd2 Rd8 36. Ne4 Rd3 37. Nc5 Rxe3 38. Nxe6+ Rxe6 39. Kb1 Re3 40. Rf1 b6

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Die Zeitkontrolle hat Weiß erreicht und obendrein einiges Material vom Brett getauscht. Erleichterung hat ihm das nicht verschafft, Befreiung ist nicht in Sicht. Der Weiße muss sich darauf beschränken, seinen Laden zusammenzuhalten. Die Grundreihe darf sein Turm wegen Matt nicht verlassen, und der König kommt nicht aus der Ecke heraus, soll nicht der a2-Bauer fallen. Schwarz kann derweil nach Herzenslust sticheln.

41. Bg4 h5 42. Bf3 Kh6 43. h3 g5 44. Ka1 Rc3

Die Drohung …Tc2 ist nicht zu parieren.

45. g4 Rc2 46. Be4 Rxa2+ 47. Kb1 Rb2+ 48. Ka1 Ra2+ 49. Kb1 Re2 50. Bf5 h4 51. Rd1 Kg7 52. Ka1 Ra2+ 53. Kb1 Rh2 54. Be4 Re2 55. Bf5 Kf6 56. Rd6+ Ke7 57. Rd7+ Ke8 58. Rd1 Rh2 59. Re1+ Kd8 60. Rd1+ Kc7 61. Rd7+ Kc6

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Weiß gab auf.

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Ulriko
Ulriko
5 Jahre zuvor

Ein tolles Lehrstück, diese Partie!

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[…] in der zweiten Runde die weißen Steine gegen 2650-GM Kovalev, den Leser dieser Seite als Gegenspieler von Vincent Keymer […]

trackback

[…] um den Turniersieg, neben Carlsen und Firouzja der Russe Dimitri Andreikin sowie der Weißrusse Vladislav Kovalev. Als nur noch eine Viertelstunde zu spielen war, unterlag Firouzja Carlsen und schien aus dem […]