Der sanfte Krieger: Ding Liren ist Schachweltmeister

Ding Liren, Schachweltmeister. In der vierten und letzten Partie des Tiebreaks beim Stande von 1,5:1,5 besiegte der Chinese Ian Nepomniachtchi mit Schwarz. Nach 14 klassischen Partien hatte es 7:7 gestanden. Neben dem Weltmeistertitel gewinnt Ding 1,1 Millionen Dollar. Nepomniachtchi bekommt 900.000. Mit dem Triumph Ding Lirens endet die knapp zehnjährige Weltmeister-Ära von Magnus Carlsen, der 2013 Viswanathan Anand den Titel entrissen hatte.

Stunden nach dem Sieg immer noch überwältigt. | Foto: David Llada/FIDE

Regungslos, aufgewühlt, den Kopf in den Händen verborgen, blieb Ding Liren am Brett sitzen, als Ian Nepomniachtchi längst hinter den Kulissen verschwunden war. Der neue Weltmeister musste sich erst einmal mit der Erkenntnis vertraut machen, dass er es geschafft hat. Noch Stunden später sollte sich Ding Liren immer wieder Tränen der Freude aus den Augen wischen. Für den 30-Jährigen war es einer dieser „besonderen, funkelnden Momente, in denen der Sinn des Lebens liegen sollte“, wie er vor einiger Zeit gesagt hatte.

Den Sieg widmete Ding Liren seinen Freunden, seiner Mutter und seinem Großvater. „Mit vier Jahren habe ich Schach gelernt. Die 26 Jahre danach habe ich damit verbracht zu versuchen, besser zu werden“, erklärte Ding. „Dieses Match spiegelt den tiefsten Teil meiner Seele.“

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Vor allem spiegelte es Beharrlichkeit und mentale Stärke im Angesicht der Niederlage. Der neue Weltmeister hat demonstriert, dass Stärke und Tapferkeit viele Erscheinungsformen haben. Sie können ganz sanft daherkommen.

Über die Dauer des Matches bis zum letzten Zug hatte Ding Liren nicht ein Mal in Führung gelegen. Ja, eigentlich war der Weltranglistendritte nicht einmal für das WM-Match qualifiziert gewesen, nicht einmal fürs Kandidatenturnier 2022, in das er erst geraten war, nachdem die FIDE Putins Propagandagroßmeister Sergey Karjakin disqualifiziert hatte.

Im Kandidatenturnier, das Ian Nepomniachtchi dominierte, kam Ding spät in Schwung, sicherte sich aber mit einem Sieg in der letzten Runde über Hikaru Nakamura den zweiten Platz – und ging nicht davon aus, dass ihm dieser zweite Platz ein Match um den Titel bescheren würde. Dann zog tatsächlich Magnus Carlsen zurück, ein Schritt, den er seit Jahren angekündigt hatte und den ihm doch keiner seiner Kollegen geglaubt hatte. Es griff die Regel, dass der Zweitplatzierte des Kandidatenturniers ins WM-Match nachrückt.

Eigentlich kam dieses WM-Match für Ding Liren zu einer unpassenden Zeit, nachdem er seit Beginn der Pandemie in seiner Isolation daheim quasi gar nicht gespielt hatte, abgesehen vom Kandidatenturnier und jenen gut zwei Dutzend Partien im April 2022 gegen zweitklassige Gegner. Diese Partien musste Ding in Rekordzeit abreißen, teils zwei pro Tag, um es ins Kandidatenturnier zu schaffen.

Anfang 2023 hatte Ding Liren mit bescheidenem Erfolg am Traditionsturnier in Wijk an Zee teilgenommen, um 2023 zumindest einen Praxistest zu absolvieren, bevor es um den höchsten Titel geht. Wie sehr ihm ein Rhythmus fehlte, wie wenig er psychologisch gewappnet war, offenbarte sich gleich in der wackeligen ersten Partie des Matches und noch mehr in der krachend verlorenen zweiten.

Mit 5,5/13 schloss Ding Liren das Tata Steel Chess Anfang 2023 auf dem 11. von 14 Plätzen ab. Gegen Vincent Keymer kam er gerade so mit einem halben Punkt davon.

„Da stimmt etwas nicht mit meinem Verstand“, erklärte Ding – und erzählte vom Druck, vom fehlenden Fokus, von einer verflossenen Liebe. Ganz offensichtlich spielte hier jemand um eine Weltmeisterschaft, der es noch längst nicht geschafft hatte, alle Energie und Konzentration auf das wichtigste Match seines Lebens auszurichten.

Die meisten Beobachter waren nahe daran, Ding Liren schon nach zwei Partien abzuschreiben. Zumal ja auf der anderen Seite des Brettes jemand saß, der die Erfahrung eines WM-Matches in die Waagschale werfen konnte. Dass Ian Nepomniachtchi 2023 so mit Ding Liren umspringt wie Magnus Carlsen 2021 mit Ian Nepomniachtchi, schien das wahrscheinlichste Szenario.

War’s das schon, fragte nach zwei Partien nicht nur der YouTube-Kanal dieser Seite.

Von wegen. Ding Liren kämpfte sich zurück – und erlitt weitere Rückschläge. In der siebten Partie erstarrte er plötzlich, fand keinen Zug, während seine Zeit ablief. Dann das Leak; die an die Öffentlichkeit geratenen Vorbereitungspartien mit seinem Sekundanten Richard Rapport, die Team Nepomniachtchi einen Einblick in die Eröffnungspläne Ding Lirens für das Match gewährten.

„Es entspinnt sich eine Aufholjagd mit Schachpartien, wie man sie bei einer WM lange nicht gesehen hat. Zwei Duellanten, die mit Fantasie, Angriffslust und Resilienz aufeinander losgehen. Ding holt den Rückstand auf, verliert wieder, gewinnt wieder, verliert wieder, welch ein Wechselbad!“, schreibt Ulrich Stock in der Zeit.

Am Ende der zwölften Partie schien es doch gelaufen zu sein. Ding lag 5:6 zurück, führte zum vorletzten Mal die weißen Steine. Im verzweifelten Verlangen nach einem vollen Punkt hatte der Chinese ein taktisches Durcheinander angezettelt, das sich als gut für Schwarz entpuppte. Nepos Truppen standen bereit, Dings König zu erlegen, weißes Gegenspiel war nicht in Sicht. Aber dann implodierte Nepomniachtchi. Anstatt die Vorentscheidung herbeizuführen, erlaubte er sich eine Serie von Fehlgriffen. Plötzlich stand es 6:6.

“Ich hätte meine Chancen nutzen müssen”, stellte in der Abschlusskonferenz ein sichtlich angeschlagener Ian Nepomniachtchi fest.

1,5:1,5 stand es im Tiebreak, als das Geschehen auf dem Brett einmal mehr die Prognosen und Einschätzungen aller kommentierenden Experten widerlegte. Im Lauf einer wechselhaften Begegnung hatten beide Kontrahenten gezeigt, dass sie nun die Entscheidung suchen. Aber am Ende schien es doch auf ein weiteres Remis hinauszulaufen.

Während etwa im chess.com-Stream der WM-Herausforderer 2018 Fabiano Caruana gut 400.000 Zuschauern erläuterte, dass nun die Partie in einem Dauerschach enden würde, passierte genau das nicht. Stattdessen machte Ding genau das, von dem Caruana erklärt hatte, dass er es keinesfalls tun würde: Er ließ seine zweitstärkste Figur, den Turm, an seine wichtigste, den König, fesseln, um dem Dauerschach auszuweichen und die Partie am Laufen zu halten.

Zockerei in einem Moment, in dem alles auf dem Spiel steht? „Ich hatte das Gefühl, dass mein König auf h7 sicherer steht“, erklärte Ding anschließend lakonisch zu diesem Manöver, das das Match entschied. Auch Ian Nepomniachtchi, innerlich schon auf eine Zugwiederholung eingestellt, hatte damit nicht gerechnet. Wenige Minuten und eine Reihe präziser Züge später war Ding Liren Weltmeister.

„Eine Selbstfesselung für die Unsterblichkeit. Glückwunsch, Ding“, twitterte im Moment seiner Ablösung Magnus Carlsen, einer von zahlreichen Glückwünschen, die den neuen Schachweltmeister erreichten.

Auf die Frage, wie er den Sieg feiern würde, antwortete Ding in der Pressekonferenz, dass er in seiner Freizeit “gerne reist”. Wohin ihn seine nächste Reise führt, steht schon fest: nach Bukarest. Dort beginnt in der kommenden Woche die Grand Chess Tour, bei der der neue Weltmeister einige Leute wiedersehen wird, mit denen er die vergangenen vier Wochen verbracht hat. Vizeweltmeister Ian Nepomniachtchi wird Teil des Felds sein, Ding-Sekundant Richard Rapport auch.

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Philipp Müller
1 Jahr zuvor

„Ich hatte das Gefühl, dass mein König auf h7 sicherer steht“ ist aus dem Zusammenhang gerissen. Ding hatte das Gefühl, auf Sieg spielen zu können und er entschied sich gegen Dd5+ Tf7 (König bleibt auf g8), sondern für De4+ Tg6 (König bleibt auf h7). Er meinte, dass von den beiden Fortsetzungsmöglichkeiten seine die sicherere war.

Krennwurzn
Krennwurzn
1 Jahr zuvor

I werd’ narrisch!! DING LIREN ist Weltmeister!!

Mein Cordoba-Moment 2023 😉 und damit ein glücklicher Ösi,
dem gleichzeitig Nepo auch aus tiefen Herzen wirklich Leid tut.

Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

Ganz offensichtlich spielte hier jemand um eine Weltmeisterschaft, der es noch längst nicht geschafft hatte, alle Energie und Konzentration auf das wichtigste Match seines Lebens auszurichten. [Artikeltext]”
Gratulation, das Match war schwierig, ich mochte seine Interviews.
MFG
LK

trackback

[…] WM-Match gegen den Kandidatenturniersieger Ian Nepomniachtchi qualifiziert. Daraus ging der Chinese als neuer Weltmeister und Carlsen-Nachfolger […]

Julius
Julius
1 Jahr zuvor

Was hat Nepo jetzt eigentlich davon, dass er erster im Kandidatenturnier war und Ding nur zweiter ? Bin eigentlich davon ausgegangen, dass Nepo somit im Fall eines Unentschiedens das bessere Tiebreak hat ?

Aber wenn es trotzdem ein Tiebreak Match gibt sehe ich den Vorteil nicht erster zu werden ?

Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

Kommt eigentlich – wenn schon nicht während, so doch nach dem Match – noch eine Korrektur von Conrad Schormann zu “Weltmeister im was?”. Zwar fiel die Entscheidung im Schnellschach – wie bei einem Fußballspiel, das einen Sieger braucht aber nach 90 und 120 Minuten 3-3 unentschieden steht, und dann Elfmeterschießen. Aber alles andere – dringender Reformbedarf, kaum Interesse für ein Match ohne Carlsen, … – hat sich wohl erledigt. Das Problem war nicht klassische Bedenkzeit, sondern Carlsens Sicherheitsschach – selbst keine Fehler machen und von gegnerischen Fehlern profitieren. Das würde sich vielleicht wiederholen, wenn Carlsen-Imitator Wesley So sich für ein… Weiterlesen »