Schach-WM 2023: Durchgesickerte Kanonenkugeln – Eröffnungsleck im Team Ding Liren

Den Turm im eigenen Lager ein Feld nach vorne bewegen, 9.Ta2, das sieht unscheinbar aus. Aber Ding Liren hält 9.Ta2 für eine „Kanonenkugel“. Und die feuerte er in der achten Partie des WM-Matches auf seinen Kontrahenten ab. Noch während sich Ding und Ian Nepomniachtchi eine weitere spektakuläre Schlacht lieferten, wurde publik, dass Nepo von dieser und anderen Kanonenkugeln im Arsenal des Chinesen wissen könnte.

Aller Wahrscheinlichkeit nach haben Ding Liren und dessen Sekundant Richard Rapport einen Teil ihrer Vorbereitungspartien öffentlich auf Lichess gespielt. Sie landeten in der Lichess-Datenbank, wo sie nun jeder sehen kann: 51 Schnell- und dazu weitere Partien auf Super-GM-Level zwischen „Fvitelli“ und „opqrstuv“, in denen etwa Dings Kanonenkugel 9.Ta2 inklusive des Figurenscheinopfers drei Züge später oder sein 4.h3!? im Damengambit zu sehen ist. Auch das London-System hat „FVitelli“ gegen „opqrstv“ ausprobiert.

In der WM der blutigen Nasen lässt sich sogar mit dem London-System zu vollen Punkten kommen. Offenbar hatte Ding Liren dieses Damenbauernspiel in Schnellpartien gegen einen Helfer getestet, bevor er es Nepo vorsetzte. (Im Video Partie 5 und 6)

Angesichts der Übereinstimmungen mit den bisherigen WM-Partien „sehe ich keine Chance, dass es sich nicht um Ding und Rapport handelt“, sagte Hikaru Nakamura, nachdem in der Lichess-Community die Debatte um die beiden Accounts ausgebrochen war. Der aserische GM Vasif Durarbayli sagte dasselbe, als er auf Twitch die Partien inspizierte: „Dieses ist Weltmeisterschaftsvorbereitung, höchstes Level. Ich habe keinen Zweifel, dass es sich um Ding Lirens Account oder zumindest um einen WM-Account des Ding-Teams handelt.“

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Ding Liren selbst, in der Pressekonferenz nach der Partie darauf angesprochen, sagte, er wisse nicht, auf was sich die Frage beziehe. In der Tat ist es gut möglich, dass beiden Kontrahenten während der Partie nicht klar war, was der Schachgemeinde auffiel, als 9.Ta2 und die folgenden Züge auf dem Brett standen. Bis dahin hatte Ding Liren in Astana nichts gespielt, was es in Lichess-Amateurpartien nicht schon gegeben hatte – inklusive 4.h3 im Damengambit, ein Zug, den Amateure schon tausendfach ausgeführt haben. Deswegen erscheint unwahrscheinlich, dass Team Nepomniachtchi die öffentlichen Trainingspartien vor der gestrigen Enthüllung aufgefallen waren.

12.h4! Das hatte es im Schach bis dahin nicht gegeben – außer auf Lichess zwischen zwei 1500ern, die Schach spielen wie Supergroßmeister.

Auch das raffinierte, tiefe 9.Ta2, ein Abwartezug, der den Turm für vielerlei nützliche Schwenks auf der zweiten Reihe in Position bringt, war nicht gänzlich neu. Aber die Folge inklusive des Scheinopfers drei Züge später, die hatte es im Schach noch nie gegeben – außer eben auf Lichess zwischen den beiden 1500ern, die sich dort Mitte Februar angemeldet hatten und Schach spielten wie Supergroßmeister. Als diese Übereinstimmung im Reddit-Schachforum ans Licht kam, stellte sich bald heraus, dass Fvitelli-Ding und opqrstv-Rapport in Dutzenden Rapid-Partien Dings WM-Repertoire getestet hatten.

Offenbar hatten Ding und sein Helfer ihre Serie von Trainingspartien auf chess.com begonnen. Auch dort fanden die Internet-Schachdetektive bald zwei Accounts, eröffnet eine Woche vor denen auf Lichess, die dutzende Partien mit WM-Eröffnungen gegeneinander gespielt hatten. Allerdings spielten sie auf chess.com nur ein paar Tage: zwei Spieler mit 1000er-Rating, die durchgängig präzise agieren wie Supergroßmeister. Der Anti-Cheating-Algorithmus von chess.com schlug an. Am 12. Februar sperrte chess.com einen der beiden Accounts wegen eines nicht näher benannten Verstoßes gegen die Fair-Play-Bestimmungen. Der WM-Finalist und sein Helfer zogen zu Lichess um.

Diesen am 7. Februar eröffneten chinesischen Account sperrte chess.com am 12. Februar. An den beiden folgenden Tagen wurden zwei Lichess-Accounts gegründet, um die Reihe der Trainingspartien fortzusetzen.

Team Ding muss sich vorwerfen, leichtfertig mit WM-Geheimnissen umgegangen zu sein. Mit ein wenig Aufwand hätten sich Online-Trainingspartien spielen lassen, ohne dass sie in öffentlich zugänglichen Datenbanken landen. Wie schlimm nun das Leck für Team Ding ist, darüber sind sich die Fachleute nicht einig. „Eine Katastrophe“, sagt Durarbayli. „Er muss jetzt alles umstellen. Ich wüsste nicht, was ich in seiner Lage tun würde.“

„Nicht so schlimm“, sagt Fabiano Caruana, WM-Herausforderer 2018. 9.Ta2 sei nur ein Versuch für eine Partie gewesen und jetzt verbrannt, 4.h3 sei ohnehin keine Eröffnung. Auch die Italienisch-Partien in der Lichess-Datenbank seien kaum relevant, Nepo spiele ja Spanisch. Allenfalls die nun öffentlich gewordenen Englisch-Partien könnten ein Problem darstellen, erklärt Caruana.

Der bislang so offenherzige, zugängliche Ding Liren hat nach dem Leck in Astana erstmals ein Pokerface aufgesetzt. Zur Pressekonferenz kam er wegen eines dringenden Treffens mit seinem Team unmittelbar nach der Partie ein wenig zu spät. Offenbar hatten ihn seine Helfer über das Leck informieren wollen, bevor er sich den Fragen der Öffentlichkeit stellt. Ding erklärte anschließend, siehe oben, er wisse nicht, worauf sich die Leck-Frage bezieht. Und er beharrte darauf, beim Treffen vor der Pressekonferenz sei es darum gegangen, die gerade gespielte Partie (und die ausgelassenen Chancen) zu beleuchten. „Wir haben nur über die Partie gesprochen.“

Sekundant mit Maulkorb: Als sie im Hotel-Aufzug verschwanden, hatten Ding Liren und Richard Rapport ihr Lächeln nicht verloren.

Das Ding-Leck ist bei weitem nicht das erste in der Geschichte der Schach-Weltmeisterschaften. Als Garry Kasparow beim WM-Match 1986 gegen Anatoly Karpow drei Partien verloren hatte, feuerte er seinen Sekundanten Evgeny Vladimirov. Kasparow beschuldigte seinen Helfer, Eröffnungsgeheimnisse an Team Karpow verkauft zu haben. Später heuerte Kasparow stattdessen den Georgier Zurab Azmaiparashvili an, den heutigen, skandalumwehten (und vom deutschen Verband gestützten) Präsidenten des europäischen Verbands. Die Beziehung hielt nicht lange.

„Azmai“ wiederum kaufte sich 1995 den Sieg in einem Turnier („Strumica 1995“), das nie gespielt worden war, um seine Elo zu liften und nominell für große Einladungsturniere infrage zu kommen. Unter den Fake-Partien, die ihm 1995 zu 16/18 und plus 40 Elo verholfen haben, findet sich zumindest eine, die von Anfang bis Ende ausschließlich aus Kasparow-Eröffnungsanalyse besteht.

2016 gelang es Team Magnus Carlsen noch, ein Leak zu vermeiden. Carlsen wollte im WM-Match gegen Sergey Karjakin den Marshall-Angriff spielen. Als Marshall-Experten hatte er den deutschen Großmeister Jan Gustafsson angeheuert. An den erging die Anweisung, sich versteckt zu halten, damit Karjakin nicht wittert, was ihn auf dem Brett erwartet.

2018 leckte es im Team Carlsen, wie Gustafsson jetzt auf Twitch preisgab. Geplant war, WM-Herausforderer Fabiano Caruana mit dem Sweschnikow-Sizilianier zu bekämpfen. Deswegen kam Sweschnikow-Experte Daniil Dubov ins Team, und auch der sollte sich eigentlich versteckt halten. Aber im Trainingslager entstand ein Video, in dem Dubov auf einem Sofa zu sehen ist, und dieses Video geriet ins Internet. „Als wir das bemerkt haben, haben wir sofort dafür gesorgt, dass es verschwindet“, berichtet Gustafsson. Er wisse bis heute nicht, ob Team Caruana der Dubov auf dem Carlsen-Sofa aufgefallen sei.

Das Caruana-Leck 2018.

Weit mehr Aufmerksamkeit bekam 2018 das Leck auf der Gegenseite. In einem vorzeitig veröffentlichten Video, das laut Caruana erst nach dem Match erscheinen sollte, war ein ChessBase-Screenshot mit den Namen von WM-Eröffnungsdateien zu sehen. Darüber zerbrach eine Arbeitsbeziehung. Die aufgescheuchte Führungsetage des US-Verbands wies den seit Jahren für dessen Website schreibenden Journalisten Ian Rogers an, den Vorfall herunterzuspielen. Der weigerte sich, in seiner Berichterstattung die Wirklichkeit auszublenden – und kündigte die Zusammenarbeit.

Das Caruana-Leak war nur eines der Erdbeben die 2018 das US-Schach und das in Saint Louis erschütterten. Die 2023er-Erdbeben sind anderer Natur.

Caruana sagt im Nachhinein, der an die Öffentlichkeit geratene Screenshot sei kein allzu großes Problem gewesen. Seine Eröffnungswahl und -vorbereitung im Match gegen Carlsen habe dieses Leck kaum beeinflusst. Ähnlich sah es auf der anderen Seite aus. „Uns hat das damals nicht viel geholfen“, sagt Gustafsson. „Aber wir hatten die Hoffnung, dass die Sache im Team Caruana für Unruhe sorgt.“

Auch im 2021er-Match gegen Ian Nepomniachtchi mag Team Carlsen nicht ganz dicht gewesen sein. Nach der dritten Partie sah sich Carlsen mit Frage kommentiert, wieso denn die gerade gespielte Partie seit zwei Tagen bis zum 20. Zug in einer Engine-Analyse in der ChessBase-Cloud zu finden sei. Womöglich hatte ein Carlsen-Helfer vergessen, die Verbindung zur Cloud zu trennen, bevor er die Engine anschmiss. Carlsen schmunzelte das Leck weg: „Kein Kommentar.“

Jan Gustafsson über das aktuelle und andere WM-Eröffnungsleaks.
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Krennwurzn
Krennwurzn
1 Jahr zuvor

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Uwe Frischmuth
Uwe Frischmuth
1 Jahr zuvor

Für Xiangqi-Soieler (chinesisches Schach) ist das Turmmanöver der Anziehenden Seite Alltag.
Ta1-a2

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[…] Schach-WM 2023: Durchgesickerte Kanonenkugeln – Eröffnungsleck im Team Ding Liren […]

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[…] Meine Kumpels haben das Turnier nun auch bei der FIDE angemeldet, in Turnierkalendern veröffentlicht, Flyer hergestellt und auf ersten Turnieren verteilt. Und ich war ebenfalls nicht untätig. Hab auf Lichess mal ein paar Partien mit den Eröffnungen gespielt, die ich von Ding erwartete. Hat ganz schön große Wellen geschlagen.  […]