Reformresistent: Die Deutschen Meisterschaften der Jugend

22 Jahre ist es her, dass die Deutschen Jugendmeisterschaften in Überlingen am Bodensee gastierten. Die dort beheimateten Perlen gab es damals noch lange nicht, den SC Überlingen durchaus. Für die Vereinsmitglieder war die Ortswahl der DSJ die einzige Möglichkeit, eine Deutsche Meisterschaft zu erleben: Das Turnier musste zu ihnen kommen, denn mangels Spielstärke war ausgeschlossen, dass sich ein Mitglied dieses Dorfvereins sportlich für einen solchen Elitewettbewerb qualifiziert.

Das hat sich nun geändert. Maxim (13) vom Bodensee hat es zwar bei der Badischen Meisterschaft nicht geschafft, sich für die Deutsche U14 (ab Samstag, 4. Juni, in Willingen) zu qualifizieren, aber er wird bei der parallel laufenden Offenen Deutschen Meisterschaft mit von der Partie sein. Bei diesem Wettbewerb für diejenigen Perspektivspieler*innen, die sich knapp nicht für die reguläre Deutsche Meisterschaft qualifiziert haben, hat Maxim Gelegenheit, schon einmal die Atmosphäre bei einer “Deutschen” zu schnuppern, bevor er 2023 die reguläre U14 in Angst und Schrecken versetzt.

Wie Maxim vom Bodensee zum Auftakt der Badischen Meisterschaft U14 die Nummer zwei der Setzliste und dessen Schottisches Gambit besiegte. Und was Wilhelm Steinitz damit zu tun hat.

Allerdings wird Maxim 2022 feststellen, dass in Willingen einige der besten Jugendlichen fehlen. Wenn er sich erkundigt, wo denn beispielsweise in der U12 Tykhon Cherniaiev oder in der U14 Leonardo Costa ist, wird er erfahren, dass diese beiden Ausnahmetalente die Deutsche Meisterschaft abgesagt haben.

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Ihnen ist es auf dem Weg zum FM- bzw. IM-Titel wichtiger, anderswo Normturniere gegen gleichmäßig starke, internationale Gegner zu spielen, anstatt sich auf nationaler Ebene mit Gleichaltrigen zu messen, die nur Talent, aber eben nicht “Ausnahme” sind. Der potenzielle Titel eines Deutschen Meisters lockt sie nicht nach Willingen und die Teilnahme an einer Jugendfreizeit mit Schachcharakter auch nicht. Cherniaiev und Costa, obwohl jung an Jahren, betreiben Schach als Leistungssport.

In der Bundesliga hat Leonardo Costa jetzt von Europameister Matthias Blübaum eine Lektion erteilt bekommen, die ihn schachlich weitergebracht haben dürfte. Bei den Deutschen Jugendmeisterschaften wären solche Lektionen nicht zu erwarten. Costa spielt lieber ein Normturnier.

Das Format der zentralen Deutschen Jugendmeisterschaften als Großveranstaltung für alle Altersklassen an einem Ort ist in den 80er- und 90er-Jahren entstanden. Heute kommt diese Jugendschachfreizeit natürlich moderner daher als damals, aber konzeptionell ist sie noch dasselbe: Festival und Ort der Begegnung, dazu ein wenig Wettkampfcharakter an der Spitze der jeweiligen Altersklassen.

Während das Konzept der Jugendmeisterschaft dasselbe geblieben ist, hat sich der Sport in den jungen Jahrgängen und damit das Teilnehmerfeld verändert. Vor 22 Jahren in Überlingen waren in der U14 mit Arik Braun und David Baramidze zwei angehende 2600-Großmeister im Feld – mit Ratings von etwa 2150. Heute (schlechte Nachrichten für Maxim vom Bodensee) bedarf es einer 2350, um in der U14 national um den Titel zu spielen. Aber wer so eine 2350 hat, der schaut sich womöglich lieber dort um, wo IM-Normen zu holen sind, anstatt nach Willingen zu fahren.

Und das soll Breitensport sein? Als (v.l.) Bundesjugendtrainer Michael Bezold, Ausnahmetrainer Mark Dvoretski und Ausnahmegroßmeister Artur Jussupow vor 22 Jahren die Deutschen Jugendmeisterschaften in Überlingen am Bodensee besuchten. | Foto: Christian Bossert/DSJ

Für alle potenziellen Deutschen Jugendmeister gilt das zum Glück nicht. Marius Deuer, das andere Ausnahmetalent in der U14, nimmt teil. Und in der U18 hätte sogar Frederik Svane teilgenommen, wäre ihm nicht das mündliche Abitur dazwischengekommen. Mit seinen 2521 Elo hätte der 18-jährige Großmeister nominell zwar über den Dingen gestanden, aber Normen braucht er nicht mehr, und er hätte das Jugendschachfest, sein letztes, gerne als solches genossen.

Nicht nur hier ist zuletzt verbreitet worden, Frederik Svane sei 17 Jahre alt. Das stimmt nicht. Frederik hatte am 21. Januar Geburtstag, er ist jetzt als 18-Jähriger Großmeister geworden.
Arik Braun vor 22 Jahren in Überlingen mit dem damaligen DSJ-Vorsitzenden Michael Juhnke. | Foto: DSJ

Das Jugendschach hat in der Spitze im Lauf der Jahrzehnte an Elopunkten gewaltig zugelegt, der Leistungssportgedanke hat in jüngeren Jahrgängen Einzug gehalten, und damit ist Jugendschach auch als Zuschauersport in den Fokus geraten. International wird der Wettstreit potenzieller Carlsen-Nachfolger wie Abdusattorov, Praggnanandhaa, Keymer intensiv verfolgt. National wäre es spannend zu sehen, wie sich im Rahmen einer Deutschen Meisterschaft eine Woche lang Leonardo Costa mit Marius Deuer misst. Oder Tykhon Cherniaiev mit dem Lippstädter Ausnahmetalent Hussain Besou.

Eigentlich wären solche Begegnungen Steilvorlagen für den Deutsche Schachjugend e.V., um Öffentlichkeit für seine größte Veranstaltung und für unseren Sport zu generieren.

Erstaunlich: Die DSJ will das gar nicht, wie sich bei einem Twitter-Austausch offenbarte. Noch erstaunlicher: Die Begründung, warum sie das nicht will. Die lautet: “Wir sind für Leistungssport nicht zuständig.”

https://twitter.com/Bodenseeperlen/status/1525759913015779328
Auch erstaunlich: Leonid Löw ist seit dem 1. Juni hauptamtlicher Mitarbeiter bei der DSJ, zuständig unter anderem für Öffentlichkeitsarbeit. Zwei Wochen vor Amtsantritt beschäftigten ihn eher Zuständigkeitsfragen als ungenutztes öffentliches Potenzial der größten DSJ-Veranstaltung.

Wenn doch der Bundesnachwuchstrainer und eine Reihe Spitzenspieler die Deutsche Meisterschaft nicht so wichtig finden, wäre es nicht naheliegend, die Deutsche Meisterschaft für sie (und damit auch für die Öffentlichkeit) attraktiver zu machen? Und wenn doch ein wachsender Teil der Teilnehmer Schach als Leistungssport betreibt, kann der Veranstalter schwerlich behaupten, für Leistungssport nicht zuständig zu sein.

Der Reformbedarf an der Leistungsspitze der Deutschen Meisterschaften ist Ende der 2010er-Jahre in den Reihen der Schachjugend nicht unbemerkt geblieben. Es entstand das Konzept, auf das DJEM-Schachfestival ein Normturnier aufzusetzen, das den Costas und Deuers die Möglichkeit eröffnet, IM- oder sogar GM-Normen zu erspielen.



Mit so einer Ergänzung wäre das Festival für alle Beteiligten aufgewertet; für die interessierte Öffentlichkeit, für die teilnehmenden Breitensportler, die in direkter Nähe zu Spitzensportlern spielen, und nicht zuletzt für die besten deutschen Jugendlichen, die einen Anreiz hätten, bei einer Deutschen Meisterschaft zu spielen, selbst wenn sie der eigentlichen Meisterschaft nach Elo entwachsen sind.

Mit so einer Ergänzung würde die Deutsche Schachjugend einer Herausforderung gerecht, die in dem Maße größer wird, wie Leistungssportler jünger werden: den Ausnahmesportlern in ihren Altersklassen adäquaten Wettbewerb anbieten.

Ein Argument, warum so eine Ergänzung nicht sinnvoll wäre und sofort eingeführt werden sollte, ist schwer zu finden. Außer vielleicht für Schachbeamte, die ungeachtet der Sachlage und der damit einhergehenden Herausforderung vorbringen: “Für Leistungssport ist der DSB zuständig. Das war immer schon so.”

Obiges Papier ist Anfang der 2020er ohne Effekt in der DSJ versickert. “Es war nicht gewollt”, heißt es.

DJEM in Willingen | ChessBase
Jahr für Jahr ein Fest: Diesen Samstag geht’s los, die Deutschen Meisterschaften der Jugend in Willingen. | Foto: DSJ

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Markus Schirmbeck
1 Jahr zuvor

Mich erinnert die Problematik an die Situation beim German Master und der offiziellen deutschen Amateurmeisterschaft. Wenn die Deutsche Schachjugend jetzt auch eine Eliteveranstaltung obendrauf setzen würde, hätten wir hier eine sehr ähnliche Situation. Ich habe auch Zweifel daran, ob nur mit deutschen Jugendspielern ein attraktives Normenturnier realisierbar wäre. Wen soll man dann dazu einladen? Erwachsene? Nicht-Deutsche Jugendliche? Dadurch würde der deutsche Meistertitel entwertet, was nicht Ziel der Aktion sein sollte. Für mich überwiegen die Nachteile eines solchen Vorgehens. Ich finde den Modus im Grundsatz gut, so wie er ist. Der deutsche Meister sollte aber natürlich unter den stärksten Jugendlichen der… Weiterlesen »

halbstark
halbstark
1 Jahr zuvor

Die Idee, ein Rundenturnier mit den größten Talenten + anderen eingeladenen Spielern zu veranstalten, ist sicherlich interessant und würde bestimmt auch für Zuschauer interessant zu verfolgen sein. Ich sehe aber wenig Sinn darin, dafür die deutsche Meisterschaft zu opfern. Warum nicht einfach zusätzlich ein solches Turnier veranstalten zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr? An eins in einem Turnier gesetzt zu sein und nur gegen schwächere Spieler zu spielen, war sicherlich auch früher nicht sportlich das interessanteste für Ausnahmetalente – Normchancen hin oder her. Aber “Deutscher Meister” war ein Titel für den die meisten Spieler dies in Kauf genommen haben. Nur… Weiterlesen »

Stanley Yin
Stanley Yin
10 Monate zuvor

Furchtbarer Artikel, auf den ich jetzt erst stoße. Die DEM ist für 90%+ der teilnehmenden Jugendlichen das Highlight des Schachjahres, nicht aus sportlichen, sondern aus sozialen Gründen. Das wird nicht zuletzt durch den durchschlagenden Erfolg der offenen U25 unterstrichen. Die Meisterschaften haben über die Jahre Freundschaften fürs Leben zutage gefördert. Diese nationale Breitensportveranstaltung (oder in den abfälligen Worten des Autors, Jugendfreizeit) hat globalen Vorreitercharakter, und genauso – über den Breitensport – definiert sich die DSJ und hat daraus noch nie einen Hehl gemacht. Die An- und Absichten des ansonsten hochgeschätzten Autors sind m.E. völlig fehl am Platz, ein Land, das… Weiterlesen »

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Walter Rädler
Walter Rädler
1 Jahr zuvor

Zu den Fakten: Als DSJ und DSJ zusammen war, war der DSB für den Leistungssport zuständig! Jetzt wo die DSJ e.V. selbstständig ist, stellt sich mir die Frage: Wie wurde das geregelt?
Ich weiß es nicht und würde mich freuen, wenn hier jemand Auskunft gibt! (sonst muss ich es selber machen, bin aber ab Morgen in Irland)
PS: Ich war schon vor Jahren für eine zweite Deutsche Meisterschaft, die kein Breitenschachevent sind, sondern ein knackiges Jeder-Gegen-Jeden-Turnier beinhaltet. Das fanden Gesprächspartner in der DSJ gar nicht gut, aber ein paar Spitzentrainer.