Die Vincent-Alireza-Frage

Überragend in Form war Alireza Firouzja ohnehin. Ziemlich sicher hat es den 18-Jährigen bei der Mannschafts-EM in Slowenien zusätzlich beflügelt, dass die Franzosen ihren Debütanten förderten, indem sie ihn ans erste Brett setzten. Jetzt hat der 18-Jährige mit einer Fabel-Performance jenseits der 3000 seine ansonsten schwächelnde Mannschaft zur Silbermedaille geführt und selbst als 14. Spieler der Schachgeschichte die 2800 überschritten. Alireza Firouzja ist die neue Nummer zwei der Welt. 2022 werden wir ihn erstmals in einem WM-Kandidatenturnier sehen.

Die neue Reihenfolge bei den Franzosen war ja alles andere als selbstverständlich in einer Nationalmannschaft, in der mit Maxime Vachier-Lagrave ein anderer WM-Kandidat spielt, jemand, der unlängst beinahe Magnus Carlsens WM-Herausforderer 2021 geworden wäre. Aber die zukunftsorientierte Entscheidung, den Jüngeren nach vorne zu setzen, kann für einen Topspieler wie Alireza Firouzja die entscheidenden Prozent Motivations-Unterschied ausmachen, die statt zu einem ordentlichen zu einem überragenden Turnier führen.

Vincent Keymer und Alireza Firouzja: Die neue deutsche Nummer eins spielte für Deutschland an Brett drei, die neue französische Nummer eins spielte für Frankreich dort, wohin die Nummer eins gehört. | Fotos: Paul Meyer-Dunker/Schachbund, ETCC 2021.

Bei der deutschen Mannschaft war es andersherum, die Argumentation die gegenteilige: Debütant Vincent Keymer wurde erstmal ans „sichere“ Brett drei gesetzt, „damit er nicht gleich zu sehr unter Druck steht“.

Werbung

Die Nummersicher-Variante. Kann man machen. Kann man richtig finden.

Vincent ist (noch?) nicht auf dem Level von Alireza Firouzja, aber: Er ist schon jetzt der einzige Ausnahmegroßmeister, den wir haben. Der einzige, der seit Monaten 2700-Leistungen in Serie abliefert. Und wir können ja mal spekulieren, ob für ihn Brett eins nicht ein zusätzlicher Antrieb gewesen wäre, der zu einer noch besseren Leistung geführt hätte, als er ohnehin geboten hat.

https://youtu.be/Rd1gsfBsjL4
Die EM begann für den Neu-Nationalspieler Vincent Keymer mit einer kalten Dusche, er lief in Computervorbereitung des Dänen Jonas Buhl Bjerre. Danach erzielte er fünf Punkte aus sieben Partien, einen davon an seinem 17. Geburtstag.

Gewiss hat der 16-, jetzt 17-jährige Debütant nicht von sich aus das Brett eingefordert, das ihm als deutsche Nummer eins nach Elo und DWZ zusteht. Andererseits: ob ihn jemand gefragt hat? Welcher junge Spieler würde die Gelegenheit ablehnen, so starke Gegner wie möglich zu bekommen? (Was ja ohnehin das Konzept von Team Vincent Keymer/Peter Leko ist, wir erinnern uns: nicht kurzfristige Erfolge jagen, sondern sich im kontinuierlichen Wettkampf gegen stärkstmögliche Widersacher für künftige Aufgaben stählen.)

Das freundschaftliche Tischtennis-Spaß-Match zwischen Firouzja und MVL zeigt, dass bei den Franzosen der Ältere (sollen wir ihn wirklich schon „Routinier“ nennen?) freiwillig nach hinten gerückt ist, ohne dass dies die Harmonie im Team gestört hätte. Und wer je Dieter Nisipeanu in all seiner Freundlichkeit erlebt hat, der kann davon ausgehen, dass es im deutschen Team ähnlich gelaufen wäre.

Übervorsichtig?

Aus meiner Sicht stellt sich die Frage, ob im deutschen Team eine vorsichtige Entscheidung, die im Sinne des Youngsters gedacht war, nicht viel mehr eine übervorsichtige war, die Vincent Keymer davon abgehalten hat, sein Bestes zu zeigen – und an den bestmöglichen Gegenspielern weiter zu wachsen.

Ging es wirklich allein um „Schutz vor Druck“? Oder hat Daniel Fridman seine Entscheidung auch getroffen, um potenziellem Gegenwind selbsternannter Vincent-Beschützer von vornherein auszuweichen? Fridman ist selbst ein Großmeister aus der 2600-Klasse, mit Prophylaxe kennt er sich aus.

Voraussichtlich werden wir zu diesem Thema nicht mehr erfahren. Nach seiner Auftakt-Ansprache zur Aufstellung war der Coach der Nationalmannschaft in der multimedialen Berichterstattung unseres Schachbunds nicht mehr zu sehen, geschweige denn zu hören.

Die Alireza-Vincent-Frage am oberen Ende des menschlichen Leistungsspektrums ist repräsentativ für Situationen, die jeder aus seinem Schachverein kennt: Die neue Saison steht an, die Mannschaft muss aufgestellt werden, und es gilt zu entscheiden, ob wir den aufstrebenden Jugendspieler vor die etablierte Nummer eins setzen, ihn ins kalte Brett-eins-Wasser werfen – oder eben nicht.

Der Mut, den Jungen zu fördern und die potenzielle Auseinandersetzung mit dem zurückversetzten Älteren zu riskieren, wird nach meiner Erfahrung meistens belohnt. Junge Spieler fühlen sich vom Vertrauen angespornt. In der Regel zahlen sie es mit Punkten zurück.

Als Beispiel dafür fällt mir unter anderem der Großmeisterbesieger Manfred Kern ein, der ja als Nachwuchsspieler des Ludwigsburger Vereins gleich für das GM-Turnier 1969 nominiert wurde. In einem von ihm selbst verfassten Kommentar unter dem Artikel beschreibt er selbst sehr schön, dass der Verein durchaus auch einem arrivierten Spieler (Ernst Foppa) den GM-Turnierfreiplatz hätte geben können.

chess.com über Firouzjas Sprung auf Platz zwei der Weltrangliste mit einem Elo über 2800.

3.8 19 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

24 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
schwichtd
schwichtd
2 Jahre zuvor

Seltsame Diskussion. Auch an Brett 3 kann man 8/9 holen, wenn man angeblich so dermaßen überlegen ist. Es kam was raus?… 5/8?! Soll das letzte Quäntchen bei Alireza jetzt allein durch “Brett 1 Motivation” zustande gekommen sein? So hätte, wäre, wenn Diskussionen… als ob man mit Sicherheit sagen kann “Es war ein FEHLER”… Tatsache ist doch, dass du in einem Turnier dein Bestes gibst, in jeder einzelnen Partie. Und bei Vincent steht halt nur eine 65% Quote und keine 90% Quote. Wieso sollte die bei stärkeren Gegner steigen anstatt fallen? Klar, für die zukünftige Entwicklung wären stärkere Gegner vorteilhafter gewesen.… Weiterlesen »

Philipp
Philipp
2 Jahre zuvor

Hinterher sind immer alle schlauer. Vielleicht wäre es besser gewesen Vincent an Brett 1 zu setzten, vielleicht auch nicht. Sicher ist nur, dass diese Entscheidung wohl kaum seine langfristige Karriere beeinflussen wird. Insofern absolut unnötig hier nachträglich zu stänkern.

Gerald
Gerald
2 Jahre zuvor

Alireza ist die Nr. 2 der Welt mit 2.800 Elo. Vincent ist bei 2.650. Was für den einen Spieler gut ist, muss nicht für den anderen auch gut sein.

Thomas Richter
Thomas Richter
2 Jahre zuvor

Firouzja konnte man zutrauen, gegen Weltklassespieler mitzuhalten – wobei er dann nur zwei bekam (Grischuk und Mamedyarov) und sich über 0.5/2 statt 1.5/2 aus diesen Partien nicht hätte beschweren können. Bei allem Hype, da war auch Glück dabei. Keymer konnte man das (noch) nicht unbedingt zutrauen. Nisipeanu hat dann gegen Mamedyarov und Duda verloren, Donchenko spielte gegen Radjabov (OK, ohnehin Remisabov) und Wojtaszek remis. Ich hab’ mir mal angeschaut, was andere Länder in etwa vergleichbarer Situation machten – (Über)Vorsicht ist zumindest nicht “typisch Deutsch”: Dänemark hatte Bjerre an Brett 3, jedenfalls Brett 2 war denkbar – hat aus Teamsicht funktioniert,… Weiterlesen »

Uwe Winkler
Uwe Winkler
2 Jahre zuvor

Dein Bericht über den Abschluss der EM ist aus deutscher Sicht alles andere als nett und das sollte korrigiert werden. Die deutsche Frauenmannschaft hat mit ihrem 5. Platz in diesem Feld ein hervorragendes Ergebnis erzielt, wohl auch durch den neuen Trainer, Die Stimmung in der Mannschaft war sehr gut. Josefine Heinemann hat mit 6 Punkten in 9 Matches ein Super- Ergebnis erzielt wie kaum jemand anderer, Bei gründlicher Recherche wäre vielleicht aufgefallen, dass sie damit mehr ELO- Punkte gewonnen hat (+24) als Alireza (+22). Warum wird über das deutsche Frauenschach immer so (negativ) kritisch berichtet?

Gerhard Schreiber
Gerhard Schreiber
2 Jahre zuvor

Ist in der Tat eine spannende Frage, bei der man in der Tat unterschiedlicher Ansicht sein kann. Für die Ansicht des Verfassers spricht, dass junge Spieler eher über sich hinauswachsen als zu versagen, wenn man sie „nach vorne“ in der Rangliste stellt. So zumindest meine langjährige Erfahrung, wenn auch nicht im Schach. Das Vincent dem „Druck“ gewachsen wäre, daran habe ich keine Zweifel. Auf der anderen Seite schwebt Vincent durch die zurückliegenden Turniere auf einer Erfolgswelle und wird bestimmt speziell in Riga viel Kraft gelassen haben. Ihn daher etwas „zurückzunehmen“ war daher sicher keine schlechte Idee. Zumal es auch etwas… Weiterlesen »

Ruben
Ruben
2 Jahre zuvor

Der Logik hinter dem Artikel erschließt sich mir einfach nicht!

Peter der 2.
2 Jahre zuvor

Wer mal Mannschaftsführer war weiß, wie brutal schwer diese Entscheidungen sind. Einerseits hast Du eins der vielversprechendsten Talente, garniert mit einem (Vize-EM-) Titel, andererseits brauchst Du die Erfahrung und das Vertrauen der vergangenen Jahre: An dem kommt keiner vorbei. Ich fand es absolut richtig Dieter das 1. Brett anzuvertrauen. Zwar konnte er diesmal nicht alles abblocken, aber dafür gabs dann auch ein paar Siege. Wenn, dann hätte ich Vincent auf Platz 2 gesetzt, dann hätte er beim Aussetzen von Dieter mal Höhenluft schnuppern können. Nach der kräftezehrenden EM weißt Du aber als Teamchef einfach nicht, wie/ob er das wegsteckt. Nichts… Weiterlesen »

Kommentator
Kommentator
2 Jahre zuvor

Wenn wir über Brett 1 sprechen, fände ich auch die Frage interessant, warum bei den deutschen Frauen in der letzten Runde nicht Josefine Heinemann am Spitzenbrett spielen durfte – immerhin hätte sie in dem Fall noch die Chance auf eine IM-Norm gehabt. Natürlich hat im Mannschaftsturnier das Team Vorrang, aber gegen Litauen wären sie auch ohne Elisabeth Pähtz noch klar favorisiert gewesen.

Tiger-Oli
Tiger-Oli
2 Jahre zuvor

100.000 Schach-Bundestrainer, aber nur einer, der es entscheiden kann/muss.
Hohes Brett für Keymer, oder etwas darunter – man kann beide Varianten plausibel finden, denke ich. Und einer muss es eben entscheiden – und kann als Trainer dann kritisiert werden auf Basis von Hypothesen. Schwer.

Interessant die Recherche von SF Thomas Richter, wie es die anderen Länder machten.

trackback

[…] wie Perlen-Autor Martin Hahn gestern gefragt hat, ob es bei den Herren nicht besser gewesen wäre, die Nummer eins ans erste Brett zu setzen, ließe sich fragen, ob nicht bei den Frauen Elisabeth Pähtz in der letzten Runde das erste Brett […]

Silvio
Silvio
2 Jahre zuvor

Birnen mit Äpfeln vergleichen hat immer einen Haken. Vincent Keymer ist nicht Alireza Firouzja. Was also für deinen gut und richtig ist, kann für den anderen schlecht und falsch sein. Ich denke, die Entscheidung von Daniel Fridman, Keymer ans 3. Brett zu setzen, ist zu respektieren und zu akzeptieren. Er kennt die Spieler am besten und wird auch Rücksprache mit ihnen gehalten haben. Seine Begründung, Vincent ans 3. Brett zu setzen, war für mich sehr plausibel und einleuchtend. Also bitte, lasst die Kirche mal im Dorf. Überdies, das 3. Brett ist keine Strafbank. Unterfordert war Vincent Keymer dort jedenfalls nicht…… Weiterlesen »

trackback

[…] Norwegische Trolle, sag ich nur! Am Schluss kommentiert dann wieder einer so wie damals bei deinem Vincent-Alireza-Artikel, deine Gedanken seinen idiotisch. Damit musst du dann halt klar kommen.” Mein geschätzter […]

Karl Hackenmeier
Karl Hackenmeier
2 Jahre zuvor

Hierzulande packt man die jungen, talentierten Menschen lieber in Watte, als sie ins kalte Wasser zu schubsen. Vincent könnte einen Booster für sein Motivation gut gebrauchen. Deutschland verschläft viele Entwicklungen in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen und ist mehr auf Teilhabe fokussiert, als auf einen Wettbewerb, wo sich die Besten durchsetzen – und die Richtung vorgeben!

Krennwurzn
Krennwurzn
2 Jahre zuvor

Es war ein FEHLER – Vincent ist mental stark und schachlich stärker wird er nur, wenn er gegen die stärksten Spieler spielen kann. Diese unsinnige Angst vor dem Verheizen kostet ihm wertvolle Erfahrungen.

Simon
Simon
2 Jahre zuvor

Wenn man ihn an dem ersten Brett aufgestellt hätte,
wäre die Wahrscheinlichkeit ziemlich Groß gewesen das er mindesten genau so gut abschneidet wie der Alireza. Schade!!!