Vincent Keymer, die neue Nummer eins

Der beste Schachspieler Deutschlands ist ein 16-jähriger Schüler. Dank seines zweiten Platzes beim Großmeisterturnier in Malmö hat Vincent Keymer den Spitzenplatz der deutschen Rangliste erklommen. Der abschließende Sieg des angehenden Abiturienten über die schwedische Nummer eins Nils Grandelius hievte Keymers Deutsche Wertungszahl (DWZ) auf stolze 2659 Punkte.

Keymer hat sich jetzt acht Punkte von seinem Deizisauer Mannschaftskameraden und gelegentlichen Trainingspartner Alexander Donchenko abgesetzt, der mit 2651 auf dem zweiten Rang steht, gefolgt von jemandem, der kaum noch spielt und schon gar nicht professionell: Jan Gustafsson grüßt trotzdem mit 2640 Punkten von Rang drei.

Gelungenes Ende eines Schachmarathons: Nach Europameisterschaft (2. Platz) und Hou-Yifan-Challenge (1. Platz) gönnte sich Vincent Keymer keine Pause. Er flog nach Schweden und teilte auch in Malmö beim TePe-Sigeman-Turnier trotz Stotterstarts den zweiten Platz, nachdem er in der letzten Runde die schwedische Nummer eins auf fantastische Weise besiegt hatte.

Vincent Keymer hat zuletzt bestätigt, was er schon im vergangenen Jahr andeutete: Performances von 2650 und besser sind die Regel, nicht die Ausnahme. Und das gilt auch, wenn er nicht in Topform oder ausgeruht ist. Das Turnier in Schweden, das dritte binnen weniger Wochen, lief eigentlich nicht rund, manche Partie dürfte sich der Saulheimer ganz anders vorgestellt haben. Das hielt den Vize-Europameister nicht davon ab, ein neuerliches 2700+-Ergebnis abzuliefern.

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Für andere junge Spieler gilt, dass sie starken Formschwankungen unterliegen. Vincent Keymer scheint gegen Aufs und Abs immun zu sein. Sein letztes schlechtes Turnier (für Keymer-Verhältnisse) war vor mehr als zwei Jahren ein Open in Italien mit einer Performance unter 2400. Darauf folgte das Grand Swiss auf der Isle of Man, wo er mit 2597 knapp die dritte GM-Norm verpasste (und damit in guter Gesellschaft war):

Seitdem: beständig über 2600, meistens deutlich darüber.

Seit einigen Tagen ist das schwedische Turnier für die deutsche Zahl ausgewertet. Wer die Website des Deutschen Schachbunds besucht, wird dort jetzt von der neuen deutschen Nummer eins begrüßt:

Ein weiterer Meilenstein: Vincent Keymer, deutsche Nummer eins. Und über Nacht scheint er noch einmal 24 DWZ-Punkte gewonnen zu haben. Dieser Screenshot mit 2659 stammt vom 6. Oktober, seit dem 7. Oktober steht dort “2683”. | Screenshot via Schachbund

Wer hätte gedacht, dass das so schnell geht? Und wer glaubt jetzt, dass Keymer nicht auf Jahre hinaus den Spitzenplatz besetzt?

Aber will Keymer diesen Spitzenplatz zementieren, muss er bald drauflegen. Dass er jetzt so früh ganz oben steht, liegt neben seinen starken Leistungen in Serie auch daran, dass Alexander Donchenko und Matthias Blübaum gegen Aufs und speziell Abs nicht immun sind. Diese beiden können 2700 DWZ, Donchenko war schon darüber (Bestwert 2708), Blübaum knapp dran (2690).

Die vier Hoffnungsträger

In der aus Profi-Sicht wichtigeren Elo-Weltrangliste liegen Donchenko (2648) und Blübaum (2640) noch knapp vorn, spüren aber Keymers Atem im Nacken. Mit 2630 Punkten ist der Youngster auf Schlagdistanz herangerückt. Ein schlechtes Turnier hier, ein gutes dort, und schon wäre die Reihenfolge auch nach internationalem Maßstab eine andere.

Diese drei deutschen Hoffnungsträger werden schon sehr bald die Erfolge der jeweils anderen aus nächster Nähe sehen und sich womöglich gegenseitig zu neuen Spitzenleistungen antreiben. Bei den Schachfreunden Deizisau spielen sie in einer Mannschaft (mit Dmitrij Kollars, dem vierten Hoffnungsträger), die ab dem 14. Oktober Teil der zentralen Bundesligarunde in Berlin sein soll, wo die Liga ihre Saison 19-21 beschließt. Bei sieben noch zu spielenden Runden und drei Punkten Rückstand kann Deizisau noch Meister werden.

Die Chance, diese Überraschung zu schaffen, wäre größer, wenn Keymer mitspielt. Aber ebenfalls ab dem 14. Oktober steigt das Finale der Junioren-Tour der Carlsen-Gruppe, wo es neben einer Menge Geld einen Platz als regulärer Teilnehmer und Botschafter der nächsten Carlsen-Tour (Beginn: Februar 2022) zu gewinnen gibt.

Das Feld des Finales der Challengers Tour. | Screenshot via chess24

Zwar führt chess24 Keymer als Teilnehmer, aber eine Bestätigung, dass er hier oder dort mitspielt, steht noch aus.

Zwei kleine Umfragen, wo ihn die Fans am liebsten sehen würden, sind angesichts ihrer Online-Lastigkeit und der überschaubaren Zahl von Teilnehmern nicht repräsentativ, zeichnen aber ein eindeutiges Bild, eines, dass die Organisatoren der Bundesligarunde in Berlin nicht erfreuen wird:

Es ist ja nicht nur nicht repräsentativ. Obendrein hat der Urheber der zweiten Umfrage die “Challengers Chess Tour” mit der “Champions Chess Tour” verwechselt, was das Bild zusätzlich verzerrt haben mag.

Sollte sich Keymer gegen die Bundesliga und die SF Deizisau entscheiden und online spielen, werden die drei Recken bald danach trotzdem ein gemeinsames Turnier erleben, nicht irgendeines, sondern das stärkste, härteste Schweizer-System-Turnier dieses Jahres. Beim elfrundigen Grand Swiss ab dem 26. Oktober in Riga sind, mehr oder weniger, die Top 100 der Welt unter sich.

Lex Keymer

Die beiden Erstplatzierten gewinnen den Jackpot: ein Platz im Kandidatenturnier 2022, bei dem der nächste WM-Herausforderer ermittelt wird.

Parallel wird das Grand Swiss der Frauen laufen, bei dem Elisabeth Pähtz als einzige deutsche Teilnehmerin mitmischt.

Kurz danach werden die drei wieder gemeinsam und als Team am Brett sitzen. Die von der Kommission Leistungssport des DSB Ende 2020 auserkorene “Lex Keymer” für die Mannschafts-EM ab dem 11. November zeigt, dass nicht einmal die im Leistungssportreferat versammelten Fachleute mit Keymers rasantem, kontinuierlichen Elo-Aufstieg 2021 gerechnet hatten.

Festgelegt wurde nach Informationen dieser Seite, dass vier von fünf Brettern der Nationalmannschaft nach Elo besetzt werden, einen Platz soll die Kommission bestimmen. Auf diese Weise wäre sichergestellt gewesen, dass Vincent Keymer nominiert werden kann, selbst wenn es nach Elo nicht reicht.

Das hat sich nun erledigt:

Knapp geht es zu: die deutsche Elo-Top-Ten. | via FIDE

Selbst für den auszuschließenden Fall, dass Jan Gustafsson mitspielt, um nach seinem EM-Titel 2011 einen zweiten zu gewinnen, wäre Keymer als neue Nummer fünf der deutschen Eloliste im Team. Tatsächlich wird es ohne Gustafsson darauf hinauslaufen, dass nach dem neuen Reglement auch Georg Meier als Nummer sechs spielen dürfte. Der wird allerdings seines bevorstehenden Wechsels nach Uruguay wegen abwinken, und dann könnte sich Rasmus Svane als Nummer sieben freuen, dass er einen Punkt vor Daniel Fridman liegt (der wiederum drei Punkte vor Dmitrij Kollars liegt).

Allerdings erscheint nicht ganz klar geregelt, welche Elozahl (d.h. von welchem Zeitpunkt) für die EM-Nominierung herangezogen werden soll. Dem Vernehmen nach gibt es einen Passus, in dem von der Elozahl “nach der Einzel-EM” die Rede ist. Obige Oktoberliste ist die erste Liste nach der Einzel-EM in Reykjavik, enthält aber auch Wettbewerbe, die danach gespielt worden sind, Keymers Turnier in Schweden etwa, bei dem er elf Punkte gewonnen hat. Angesichts des superknappen Rennens um die fünf Plätze sollte jede regulatorische Unschärfe Stoff für internes Gerangel hergeben.

Einmarsch der Nationalspieler: Wenn für die Europameisterschaft ab dem 11. November tatsächlich strikt nach obiger Elo-Liste aufgestellt worden ist, dann könnte sich diese Szene demnächst wiederholen. Wackelkandidat Rasmus Svane (links) wäre dabei, Matthias Blübaum sowieso. | Foto: FIDE

Aber das scheint nicht ausgebrochen zu sein. Auf Anfrage dieser Seite sagte Leistungssportreferent Gerald Hertneck, die Mannschaft für die Europameisterschaft sei schon nominiert. Aber er könne und wolle die Aufstellung nicht preisgeben, bevor sie nicht offiziell verkündet ist.

Spannend wird zu sehen sein, ob Liviu Dieter Nisipeanu spielt und wenn ja, an welchem Brett. Seine Bilanz in der Nationalmannschaft wäre ein Argument für Brett eins, sein Jahrgang, die Leistungstendenz und das Aufkommen junger Konkurrenz ein Argument für weiter hinten.

Andererseits spricht sein jüngstes Engagement für einen Führungswechsel im rumänischen Verband dafür, dass er womöglich gar nicht spielt, um beizeiten wieder unter rumänischer Flagge aktiv sein zu können. Der von Nisipeanu favorisierte und öffentlich unterstützte Präsidentschaftskandidat Vlad Arduleanu hat die verschobene Wahl beim rumänischen Verband als einziger Kandidat gewonnen. Der bisherige Amtsinhaber Ionuț Șerban Dobronăuțeanu war nicht angetreten. Er hatte entschieden, sich stattdessen als Berater Arduleanus anstellen zu lassen.

(Titelfoto: Lars OA Hedlund)

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chesshans
chesshans
2 Jahre zuvor

Wieder was dazu gelernt.. ich habe nicht gewusst, dass sich der DSB die Mühe macht, internationale Turniere nach DWZ auszuwerten. Muss der Veranstalter das anmelden (und bezahlen) oder macht der DSB das freiwillig (und kostenlos)?

chesshans
chesshans
2 Jahre zuvor

Okay.. ich habe folgendes in der Wertungsordnung gefunden: “Die Auswertung von Auslandsturnieren wird nur nach vorheriger Anmeldung durch den Veranstalter bei der Wertungszentrale vorgenommen. Über Ausnahmen entscheidet vor Turnierbeginn die Wertungszentrale des DSB.”.

Fernando Offermann
Fernando Offermann
2 Jahre zuvor

Jetzt dachte ich wirklich, er sei bereits die Nummer eins. DWZ, alles klar. Ich finde nicht, dass man so pflichtbewusst die Werbetrommel rühren muss. Keymer wünsche ich nur das Beste, aber Donchenko, Blübaum und Svane ebenso.

Last edited 2 Jahre zuvor by Fernando Offermann
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[…] hat der 16-, jetzt 17-jährige Debütant nicht von sich aus das Brett eingefordert, das ihm als deutsche Nummer eins nach Elo und DWZ zusteht. Andererseits: ob ihn jemand gefragt hat? Welcher junge Spieler würde die […]

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