Perspektivspieler

Nach Elo können die Deutschen nicht mit den Russinnen mithalten, aber nach Kampfgeist. Bei anderen Mannschaften, hat Bundestrainer Yuri Yakovich beobachtet, fehlt die Hartnäckigkeit, sobald sich eine oder zwei Partien zu ihren Ungunsten neigen. Nicht so bei den Deutschen, die wie die späteren Turniersiegerinnen an allen Brettern stets bis zur letzten Patrone kämpfen.

Das fiel sogar dem sportlich in einer anderen Liga coachenden russischen Trainer Sergej Rublevsky auf. Mit seinem Kollegen Yakovich war sich Rublevsky einig: beeindruckend. “Dieses deutsche Team hat Perspektive”, sagt Yakovich.

Kämpferinnen: (v.r.) Melanie Lubbe, Hanna Marie Klek, Josefine Heinemann, Elisabeth Pähtz. | Foto: Paul Meyer-Dunker/Deutscher Schachbund

Am Ende standen Pähtz, Heinemann&Co. mit 11:7 Punkten auf Platz fünf, ein Ergebnis, das gar Nähe zu den Medaillenrängen suggeriert. Diese Nähe gibt es ausschließlich auf dem Papier. Tatsächlich waren es zum Abschluss zwei leichte Siege gegen die Außenseiter Türkei und Litauen (ein “fulminanter Schlussspurt” nach Einschätzung des Schachbunds), die das Team aus dem Mittelfeld ins obere Tabellenviertel katapultierten. Zuvor war gegen die höher gesetzten Medaillenkandidatinnen aus Aserbaidschan und Polen nichts Zählbares herausgesprungen, mit dem sich Yakovichs Kämpferinnen in den entscheidenden Runden oben hätten festbeißen und tatsächlich nach Medaillen greifen können.

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Nominell hat die Mannschaft etwa ihre Elo-Erwartung erfüllt. Im Kontext vergangener, meist verkorkster internationaler Wettbewerbe mit ihren Nebenkriegsschauplätzen ist das ein Erfolg. Vor dem Hintergrund der neuen Intensivförderung für die besten Spielerinnen, der neuen mannschaftlichen Geschlossenheit, dem Fokus auf den Sport und mit einem allseits akzeptierten und respektierten Trainer an der Seite mag dieser fünfte Platz bei einer Europameisterschaft als Trendwende in die Geschichte des DSB-Leistungssports eingehen.

Überragende Spielerin der deutschen Mannschaft war Josefine Heinemann, die mit mehr als 24 Elopunkten im Gepäck die Heimreise nach Deutschland antrat. Eine IM-Norm verpasste sie mit einer Performance von 2437 knapp. Der Eloschnitt der Gegnerinnen war für eine Norm nicht hoch genug, was auch mit der 2100erin auf der anderen Seite des Brettes im Match der letzten Runde zusammenhängt.

Knapp an der IM-Norm vorbei: Josefine Heinemann. | Foto: Paul Meyer-Dunker/Schachbund

So wie Perlen-Autor Martin Hahn gestern gefragt hat, ob es bei den Herren nicht besser gewesen wäre, die Nummer eins ans erste Brett zu setzen, ließe sich fragen, ob nicht bei den Frauen Elisabeth Pähtz in der letzten Runde das erste Brett hätte räumen können, damit die aufrückende Heinemann eine stärkere Gegnerin und damit die Chance auf eine Norm bekommt. Dieses Modell stand offenbar nicht zur Debatte. Die Mannschaft brauchte einen möglichst hohen Sieg, um noch Fünfter zu werden, das gemeinschaftliche Ziel stand über den Zielen Einzelner.

Die EM-Bilanz der Frauen-Nationalmannschaft. | via chess-results.com

Auf 11:7 Punkte kamen auch die Herren, die mit derselben Punkteausbeute wie die Damen eine deutlich schlechter aussehende Platzierung erzielten. Schade eigentlich.

Anders als die am Beginn einer Entwicklung stehenden Damen hätte die Mannschaft schon jetzt, würde es gut laufen, eine zwar kleine, aber reale Chance, zehn Jahre nach dem Titelgewinn wieder etwas zu reißen. Schauen wir uns nur die Aufstellung des neuen Europameisters Ukraine an, vergleichen die Elozahlen, und sehen, dass unsere Großmeister etwa in derselben Liga spielen. Aber an den Brettern kamen die Deutschen mit dem meist wackeligen Verlauf ihrer Matches nie für einen Podiumsplatz infrage.

“Dafür müssten alle gut in Form sein”, hatte Liviu Dieter Nisipeanu schon während des laufenden Wettbewerbs erklärt. Gut in Form waren sie mehrheitlich nicht, das beginnt bei Nisipeanu selbst, der in den Jahren zuvor das erste Brett zuverlässig in eine kaum zu bezwingende Bastion verwandelt hatte. Dieses Mal fehlte der Block am ersten Brett ebenso wie die erforderlichen Bänke an den unteren.

Eine Null? Diese Zahl kannte Liviu Dieter Nisipeanu gar nicht, er musste sie sich per Handzeichen vor Augen führen. | Foto: Paul Meyer-Dunker/Deutscher Schachbund

Um großen Erfolg zu haben, muss eine ausgeglichene Mannschaft wie die deutsche an den oberen Brettern Weltklasseleute neutralisieren und an den unteren volle Punkte machen. Dieses Erfolgsrezept von der Schacholympiade 2018 zu wiederholen, gelang der neuformierten Mannschaft bei der EM allenfalls in Ansätzen und in den zentralen Matches gegen nominell etwas stärkere oder gleichwertige Teams überhaupt nicht.

Nisipeanu offenbarte, dass es gar nicht seine Ambition war, oben Beton anzurühren. “Spaß haben” wollte er gegen die polnische Nummer 1 Jan-Krzysztof Duda und zockte mit einer raren, aber dubiosen Variante darauf, die Nummer 13 der Welt unvorbereitet zu erwischen. Spaß hatte nur der Pole (kommentierte Partie im Beitrag unten). Deutschland lag schon 0:1 zurück, als sich auf den anderen Brettern gerade das Mittelspiel entfaltete.

Die siebte von neun Runden gegen Polen war bei den Herren wie den Damen die wegweisende: Mit einem Sieg wären beide oben dabei gewesen, nach den Niederlagen ging es darum, möglichst gut abzuschneiden.

Alexander Donchenko hat im vergangenen Jahr oft genug bewiesen, dass er es mit jedem menschlichen Schachspieler aufnehmen kann. Vor diesem Hintergrund ergibt Daniel Fridmans Überlegung Sinn, den Gießener am zweiten Brett aufzustellen, sodass er nach ganz oben rückt, sollte Nisipeanu aussetzen.

Wer sind wohl diese beiden namenlosen Herren, mag sich das Instagram-Publikum gefragt haben. Aber das wird sich ändern. Der Schachbund bemüht sich jetzt erkennbar, deutsches Spitzenschach so sehr ins Gespräch zu bringen, dass Daniel Fridman und Alexander Donchenko bald nicht mehr vorgestellt werden müssen.

Wahrscheinlich ließ es den Debütanten Donchenko nicht unbeeindruckt, sich am ersten Brett der deutschen Nationalmannschaft wiederzufinden?! Hier kassierte er seine beiden Nullen, beide in Malheur-Partien, die so gar nicht nach dem Donchenko aussahen, der in Normalverfassung Leistungsträger wäre. Und so erzielte die Kombination Nisipeanu/Donchenko für Deutschland 3,5/9 am ersten Brett, zu wenig für eine Mannschaft, die oben mitspielen möchte, zumal neben den beiden Genannten auch Matthias Blübaum an vier mit seiner 2591 nicht zufrieden sein wird.

Deutschlands dänische Achse?

Bester Spieler des Teams war Rasmus Svane. 5,5/7 gegen einen 2480-Schnitt ergeben die 2710-Performance, von der es mehrerer bedurft hätte, um sich Richtung Podium zu orientieren. Aber in die Nähe einer 2700 kam ansonsten nur Debütant Vincent Keymer (2666), dessen Niederlage gegen Jonas Buhl Bjerre eigentlich aus der Wertung genommen gehört. Keymer hat ja gar nicht gegen Bjerre verloren, sondern gegen dessen Engine (kommentierte Partie in diesem Beitrag).

Rasmus Svane erzielte die 2700-Performance, von der es mehrerer bedurft hätte, um als Mannschaft an den Medaillenrängen zu schnuppern. | Foto: Paul Meyer-Dunker/Deutscher Schachbund

Unterm Strich gilt für die Herren das, was Yakovich über seine “Girls” gesagt hat: “Dieses Team hat Perspektive.” Die drei Twens und noch mehr der Teenager sind bequem jung genug, um kurz- und mittelfristig weiteres Elo-Potenzial zu erschließen und Erfahrung zu gewinnen, die schon bei der Schacholympiade 2022 helfen wird.

Die EM-Bilanz der Nationalmannschaft. | via chess-results.com
Tabellen und Bilanzen, Gewinner und Verlierer: Ein Blick auf die Ergebnisse der Europameisterschaft.

Außerdem drängelt schon jetzt ein weiterer Hoffnungsträger ins Team: Dmitrij Kollars ist ganz nah dran, Leistungssportreferent Gerald Hertneck hat ihn unlängst im Gespräch mit dieser Seite als künftigen Nationalspieler benannt. Im Hintergrund lauert außerdem der Deutsche Master Luis Engel, im Hauptberuf zwar Student, gleichwohl gesegnet mit einem Talent, um das ihn alle deutschen Schachspieler bis auf einen beneiden dürften.

Oder bis auf zwei? Seien wir gespannt, wie die Reise von Frederik Svane weitergeht. Unlängst am Rande des Bundesligafinales in Berlin wollte Rasmus Svane im Gespräch mit dem großen Griechen nicht ausschließen, dass beide Svane-Brüder demnächst die dänische Achse der deutschen Nationalmannschaft bilden.

Eine Einladung mitzufiebern: So ein Beitrag wäre 2018 zur Schacholympiade (oder in den 140 Jahren davor) undenkbar gewesen.

Erfreulich ist nicht nur die sportliche Perspektive, auch die der Zuschauer. Zum ersten Mal in der Geschichte des DSB-Leistungssports war das Bemühen erkennbar, den Sport und seine Spitzensportler einem möglichst breiten Publikum zu präsentieren. Wer an Spieltagen spät einschaltete, sah zuverlässig den Stand der Dinge auf Twitter, und wer wenig über Schach wusste, wurde trotzdem abgeholt, gelegentlich sogar unterhalten. Tolle Sache, sowas gab es beim deutschen Schach bislang gar nicht.

Allein: Wo war das Schachfernsehen? Oder: Wofür, wenn nicht für die Nationalmannschaften, gibt es Schachdeutschland TV?

Offensichtlich würde zu einer koordinierten, kanalübergreifenden Präsentation der Wettkämpfe eine Live-Sendung gehören, in der gezielt die Hashtags verbreitet werden, mit denen der Schachbund auf Instagram, Twitter & Co. arbeitet, eine Live-Sendung, in der das Programm mit den Clips angereichert wird, die der DSB-Social-Media-Mitarbeiter Paul Meyer-Dunker in Slowenien im Akkord produzierte. Derart koordiniert, würde aus den Auftritten der besten Schachspieler des Landes ein Maximum an Interaktion und Engagement im Sinne des Schachs gemolken, das größtmögliche Publikum würde erreicht, die DSB-Kanäle würden schneller wachsen.

Die Fragen und Anmerkungen des YouTube-Publikums blieben unbeantwortet.

Stattdessen: ChessBase TV. Ausgerechnet der DSB-Sponsor kannibalisierte die Bemühungen des DSB, Aufmerksamkeit zu erzeugen, indem er auf seinem eigenen Kanal isoliert vor sich hinsendete. Clips gab es dort nicht zu sehen, Hinweise auf die DSB-Kanäle auch nicht. Einmal mehr bekam Deutschlands bester Schacherklärer nicht den Helfer, den er verdient, um das inhaltlich glänzende Programm zu einem lebendigen zu machen. Unverändert fehlt dem auf sich gestellten Klaus Bischoff die entscheidende Zutat, ein Co-Kommentator, der den Chat im Auge behält, Fragen aus Publikums-, Amateur- oder Anfängerperspektive einstreut, Längen überbrückt oder schlicht präsent ist, sollte der Moderator eine Auszeit brauchen.

Aus dem Buschfunk des organisierten Schachs hören wir, dass das fehlende Live-Programm auf dem eigenen Kanal aufgefallen und benannt ist. Gut möglich also, dass das Publikum nicht nur Anlass hat, sich auf die nächsten sportlichen Auftritte der Nationalmannschaften zu freuen. Selbst wenn die Spieler:innen noch ein paar Jahre brauchen, um das Podium zu entern: Die Präsentation sieht goldenen Zeiten entgegen.

Die nächste Schacholympiade beginnt am 26. Juli 2022.

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schwichtd
schwichtd
2 Jahre zuvor

Guter Artikel. Ich muss gestehen, mich hat die Euphorie für das EM-Turnier nach dem ersten Drittel so ein bisschen verlassen. Und das lag nicht an der sportlichen Situation. Ich war schon so ein bisschen gehypt, als ich die Kurzinterviews vom DSB auf YouTube gefunden habe bzw. diese mich gefunden hatten (danke an den yt algo). Aber nach dem Grand Swiss mit seiner allumfassenden Berichterstattung auf mehreren Kanälen, wo man das für sich passende aussuchen konnte, alles hochprofessionell aufbereitet… war die EM-Berichterstattung echt meh. Alle Kritikpunkte in diesem Bericht zur Übertragung von Chessbase kann ich so unterschreiben. Und auch das der… Weiterlesen »