18 Jahre! Glückwunsch, Vincent Keymer

Kenner ahnten seit langem, dass in der Nähe von Mainz ein außergewöhnliches Schachtalent heranwächst. Auf das Radar von ChessBase-Mitgründer Frederic Friedel etwa war Vincent Keymer schon Anfang der 2010er-Jahre geraten. Im Oktober 2015 fuhr Friedel mit Familie Keymer nach Berlin, um dem einstigen Weltmeister Garry Kasparow den Zehnjährigen aus Saulheim vorzustellen. Nach zwei Stunden bestätigte Kasparow, was Friedel ahnte: ein außergewöhnliches Talent.

Auf dem Radar der breiteren Öffentlichkeit bewegt sich Keymer seit Ostern 2018, als es ihm, dem 13-jährigen IM, gelang, vor dutzenden Großmeistern das Grenke-Open in Karlsruhe zu gewinnen. Seitdem hat Keymer manchen Meilenstein hinter sich gelassen: Großmeistertitel (mit 14, als jüngster Deutscher jemals), 2600 Elo mit 16, Supergroßmeister und 2700 Elo mit 17.

Frag mich alles: Eine Stunde lang stand Vincent Keymer jetzt dem chess24-Publikum Rede und Antwort. Kurz vor seinem 18. Geburtstag beantwortete er die meisten Fragen. Wir haben übersetzt, editiert und ein wenig neu sortiert.

Der neueste Meilenstein hat sich zwangsläufig ergeben. Am heutigen Dienstag feiert Vincent Keymer seinen 18. Geburtstag. Zum Ehrentag eine schriftliche Zusammenfassung einer jüngst absolvierte Fragestunde Vincent Keymers im chess24-Programm:

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Die Begegnung mit Garry Kasparow 2015

“Lange her, ich hätte nicht einmal sagen können, dass das 2015 war. Für mich als damals sehr jungen Spieler war diese Begegnung eine fantastische Gelegenheit, einen der ganz Großen kennenzulernen, zu sehen, wer er ist, wie er sich gibt. Das ändert die Sichtweise auf ihn. Schachlich ist wahrscheinlich gar nicht so viel herumgekommen für mich. Wir haben nur ein wenig trainiert.”

Vincent Keymer mit Garry Kasparow im Oktober 2015 in Berlin. Kurz vorher war Kasparows Prophezeiung “Winter is coming” erschienen, und es hatte ausgesehen, als habe Kasparow nicht viel Zeit für das Ausnahmetalent, das ihm ChessBase-Chef Frederic Friedel vorstellen wollte. Doch dann verbrachten die beiden zwei intensive Stunden miteinander. | Foto: Frederic Friedel/ChessBase

Was seinen Stil prägt

“Als Kind war ich eher strategisch geprägt. Mein klassischer Hintergrund hängt auch mit meinen Trainern zusammen. Ich habe versucht, gesund zu stehen und dann langsam aufzubauen. Aber das allein funktioniert jetzt nicht mehr. Wenn du ganz oben ankommen willst, musst du ein Universalist und Allrounder sein. Insofern würde ich nicht sagen, dass ich einen spezifischen Stil pflege. Ich muss alles können und dann am Brett sehen, wo ich Chancen finde. Ich glaube, dass die große Zahl Onlinepartien, die ich während der Pandemie gespielt habe, mein Schach ein wenig beeinflusst hat. Ich bin dadurch etwas aggressiver geworden.”

2017, mit Peter Leko bei der Jugend-WM in der Schweiz. | Foto: Bernd Vökler/Schachbund

Peter Leko

Wir haben vor fünf Jahren angefangen, miteinander zu arbeiten. Peter hat mir sehr geholfen, der zu werden, der ich bin. Und das gar nicht einmal nur als Schachspieler. Ich könnte auch Trainingsmethodik oder die Lebensweise als Topspieler anführen. Von Peters Erfahrung habe ich auf vielfältige Weise profitiert.

Neun Wochen bis zum Grenke Classic 2019: Was Vincent Keymer noch fehlt |  Perlen vom Bodensee – das Schachmagazin
Ostern 2018, Grenke-Open: Mit der GM-Norm in der Tasche auf der großen Bühne gegen Richard Rapport. Es wurde Vincents erster Sieg über einen 2700er und zudem ein sensationeller Turniersieg. | Foto: Georgios Souleidis/GrenkeChess

2018, Sieg beim Grenke Open.

Was dort passiert ist, fiel mir schwer zu fassen. Ich war ungefähr die Nummer 100 der Setzliste. Bis zur Doppelrunde am letzten Tag war ich eigentlich vor allem damit beschäftigt, wie ich meine erste GM-Norm machen soll. Vor diesem Tag habe ich nicht gut geschlafen, weil ich so sehr mit den Eventualitäten beschäftigt war, welches Ergebnis ich unter welchen Umständen brauchen würde. Vor der zweiten Partie war ich dann schon superglücklich. Ich hatte meine GM-Norm in der Tasche, konnte auf dem Podium spielen: direkt neben Vishy und Magnus und all den anderen Stars aus dem Superturnier, das an diesem Tag begann. Unter diesen Umständen ist es mir dann gelungen, einfach nur zu genießen und in die Partie gegen Richard Rapport alles reinzulegen, was ich habe. Als ich dann gewonnen hatte – wow. Dass sowas passieren kann. Natürlich bekommt man so ein Ergebnis nur mit ein wenig Glück hin und wenn die Dinge sehr gut laufen. Trotzdem, dass das überhaupt möglich war. Das war ein gutes Zeichen für mich. Ich habe gesehen, dass ich schon auf sehr hohem Level spielen kann, wenn es gut läuft.

“Ruhig bleiben!”: ein mittlerweile historischer Beitrag, einer der ersten auf dieser Seite, nach Vincent Keymers sensationellem Sieg beim Grenke Open 2018.

Deine beste Partie, deine Unsterbliche?

“Ich würde zwei Partien nennen, als ich sehr jung sehr starke Spieler geschlagen habe. Einmal natürlich Ostern 2018 beim Grenke Open: als 13-jähriger IM mit Schwarz gegen Richard Rapport, eine verrückte Partie mit vielen Fehlern beiderseits. Besonders in Erinnerung ist mir der Sieg über  Boris Gelfand im Oktober 2018 auf der Isle of Man. Gelfand, eine Legende, es war für mich eine Ehre, gegen ihn zu spielen. Und es war, glaube ich, eine hochklassige, sehr gute Schachpartie.”

“Eine hochklassige, sehr gute Schachpartie”: Vincent Keymer (13) im Oktober 2018 gegen Boris Gelfand, den WM-Finalisten 2012.

Junioren-Weltmeisterschaft?

“Jugendturniere habe ich ja schon lange nicht gespielt. An der Junioren-WM nehmen die meisten Topjunioren nicht teil, ich auch nicht, es ist nicht auf meinen Radar. Sollte sich das Format ändern, würde ich vielleicht meine Meinung ändern.”

Die Junioren-WM könnte ein Riesenereignis sein, das etwa so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht wie das Kandidatenturnier. Aber dafür müssten dringend Reglement und vor allem die Teilnahmebedingungen reformiert werden, sodass das Turnier zum Aufeinandertreffen der Keymers, Praggs und Abdusattorovs werden könnte. So wie es ist, spielt bei der Junioren-WM allenfalls die zweite Garde der weltbesten Junioren.

Zukünftige Turniere

“Ich plane, die Rapid- und Blitz-WM zu spielen (zum Zeitpunkt der Fragestunde stand der Ort noch nicht fest, Anm. d. Red.). Daran teilzunehmen, hatte ich noch nie die Gelegenheit. Jetzt würde ich das gerne machen, ein wenig Praxis sammeln, speziell beim Blitz am Brett. Online habe ich ja schon tausende Blitzpartien gespielt, aber am Brett? Da sieht es ganz anders aus. Auch die andere Bedenkzeit mit dem 2-Sekunden-Increment würde ich gerne üben.”

Musik

“Ich bin mit klassischer Musik aufgewachsen, meine Eltern sind Musiker. Ich habe als Kind lange und intensiv Piano gespielt, aber jetzt schon seit einigen Jahren kaum noch. So viel Schach, dazu Schule. Das Piano passte nicht mehr rein. Ich finde das schade, aber ich musste eine Entscheidung treffen. Ich wollte gut in der Schule sein, daneben war ich schon fast Schachprofi, und das bedeutete, andere Dinge zu opfern.”

Emanuel Lasker.

Die Deutsche Nummer eins sein, vielleicht der Beste seit Emanuel Lasker.

“Wir haben in Deutschland viele junge Spieler auf dem Weg nach oben, viel Potenzial im Vergleich zu vergangenen Jahren. Wir können optimistisch sein für kommende Mannschaftswettbewerbe wie die Schacholympiade oder die Europameisterschaft. Außerdem sind wir eine motivierte Truppe, wir verstehen uns gut miteinander. Ich bin froh, dass ich jetzt ganz oben stehe, aber für wie lange, da bin ich mir gar nicht sicher. Die Nummer eins zu sein, ist schön, aber das fühlt sich nicht groß anders an als vorher. Das war ein Ziel, ich habe es erreicht, und jetzt arbeite ich weiter und versuche, besser zu werden. Es ist ja nicht so, dass ich schon alles erreicht hätte, im Gegenteil. Es geht Schritt für Schritt, Ziel für Ziel. 2700 Elo überschritten zu haben, war auch einer dieser wichtigen Schritte für mich. Leider liege ich jetzt nach zwei Remis in der Bundesliga wieder knapp drunter.”

Oktober 2021: Vincent Keymer (16) erklimmt den Spitzenplatz der deutschen Rangliste.

Engines und Menschen

“Enginezüge zu verstehen, ist möglich, aber es ist unmöglich, selbst so zu spielen. Engines machen keine Fehler, verrechnen sich nie, außerdem gehen sie viel tiefer, als ein Mensch das könnte. Beim Menschen spielen Intuition und das Gefühl eine große Rolle. Du fühlst, was gut sein könnte, dadurch kommst du auf Kandidatenzüge, aber das führt auch dazu, dass du manchmal einen guten Zug übersiehst, weil du ihn gar nicht erwogen hast. Das würde einer Engine nicht passieren. Als Hilfsmittel zum Analysieren sind Maschinen wertvoll. Sie helfen zu verstehen, was nicht gut gelaufen ist. Trotzdem empfehle ich dringend, eigene Partien erst alleine zu analysieren. Wenn du dir ganz klar über deine eigenen Gedanken und deine Sichtweise bist, bringt es am meisten, dein Denken mit der Sicht der Maschine zu vergleichen. Dann verstehst du am ehesten den Unterschied.”

Kannst du eine Engine im Blitz schlagen, wenn sie dir einen Springer vorgibt? Wenn sie dir zwei Bauern vorgibt?

“Das habe ich nie versucht. Mit einem Mehrspringer, das könnte klappen, ist aber wahrscheinlich immer noch ganz schön schwierig. Gefühlt müsste ich einen Vorteil haben, aber es kann sein, dass ich das ganz falsch einschätze. Ob es mit zwei Mehrbauern auch reichen könnte? Weiß ich nicht. Die Engines sind einfach viel, viel stärker als wir, im Blitz erst recht.”

“Landschaftlich ist Island mein Favorit”: Und auch schachlich lief es 2021 bei der Europameisterschaft exzellent.

Fremde Länder, die Vincent beeindruckt haben.

“Ich sehe meistens leider nichts von der Umgebung. 2014, Jugend-WM in Südafrika, das hat mir sehr gefallen. Mein erstes und bislang einziges Mal in Afrika, das war so exotisch für mich, die Erinnerung daran ist hängengeblieben. Barcelona als Stadt mochte ich sehr, da hatte ich einen freien Tag, um mich umzuschauen. Landschaftlich ist Island mein Favorit. Dort die EM zu spielen, war eine tolle Erfahrung. Aber auch dort galt, dass mir nicht viel Zeit blieb, um etwas zu sehen.”

Welches der indischen Talente ist das vielversprechendste?

“Ganz schwierig zu sagen. Die sind alle spitze. Ihr kennt die Namen, ich muss sie gar nicht aufzählen. Außerdem kommen hinter denen, die wir jetzt schon kennen, einige nach, die noch jünger sind. Niemand weiß, wer am Ende ganz oben steht. Ich bin auch gespannt, wer der Beste wird. Gukesh vielleicht? Der ist sehr jung, eineinhalb Jahre jünger als ich, schon fantastisch, wie stark er ist. Das gibt ihm sehr gute Chancen im Vergleich mit den anderen. Je jünger du bist, desto leichter fällt es dir, dich zu verbessern.”

Keymer versus Gukesh, ein Duell, das wir in den kommenden Jahren oft sehen werden.

Hast du das Gefühl, dass die anderen Top-Jugendlichen mehr Einladungen bekommen als du?

“Generell ist es wichtig, gute Einladungen zu bekommen, und weil es so viele starke junge Spieler gibt, ist es nicht so einfach, all die Einladungen zu bekommen, die du gerne hättest. Aber es fühlt sich nicht an, als bekäme ich weniger Einladungen als die anderen. Vor drei Jahren war das noch anders, aber da hatten Nodirbek oder Gukesh ja auch ein viel höheres Rating als ich. Und dann ist es normal, dass Organisatoren, die nominell Besten einladen. Aktuell habe ich keinen Grund, mich zu beschweren.”

Wenn nicht Schach was wäre dein Beruf?

“Darüber habe ich tatsächlich einige Zeit nachgedacht. Eine Antwort habe ich nicht gefunden. Schach ist seit langer Zeit ein großer Teil meines Lebens. Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen. Und es gibt auch nichts anderes, dem ich mich gerne ähnlich verschreiben möchte.”

Hattest du mal das Gefühl, ein Gegner cheatet?

“Am Brett hatte ich während Jugendturnieren gelegentlich einen vagen Verdacht, aber nichts, weswegen ich zum Schiedsrichter gegangen wäre. Online war der Verdacht ab und zu stärker, aber ich würde nicht sagen, dass das häufig vorgekommen ist. Auch da: Wen sollte ich in so einem Fall ansprechen, was tun? Generell ist Cheating und die Frage, wie wir damit umgehen, ein großes, kontroverses, sehr schwieriges Thema.”

Beste Schachfilm/Serie.

“Ich habe nicht viele gesehen. Das Queen‘s Gambit zum Beispiel kenne ich nicht. Faszinierend fand ich die Dokumentation über Magnus‘ Karriere. Sie vermittelt tolle Einblicke, was nötig ist, um Weltmeister oder ein Topspieler zu werden. Den Menschen und den Schachspieler Magnus Carlsen habe ich dank dieser Doku besser kennengelernt.”

Magnus fast zu besiegen, wie war das?

“Eine ziemlich undurchsichtige Partie, die ich an einigen Stellen gewinnen konnte. Den ersten Gewinn habe ich sogar gesehen, aber dann über einen Damenfang halluziniert, den es nicht gab. Beim zweiten und dritten Mal fehlte die Zeit, vielleicht war ich nicht ruhig genug. Du rechnest den ersten Zug, der dir in den Kopf kommt, und wenn er funktioniert, spielst du ihn, weil du keine Zeit hast, Alternativen zu prüfen. Unter solchen Umständen einen Gewinn auszulassen, kann passieren. Ärgerlich ist es trotzdem, eine vergebene Chance, den Weltmeister zu besiegen. Ich hätte sie gerne genutzt.”

Fast! Als Vincent Keymer gegen Magnus Carlsen gleich mehrere Elfmeter nicht verwandelte.

Lieblingsschachbücher

“Gelfands „Positional Decision Making“ finde ich sehr gut. Generell mag ich Bücher, in denen Leute über ihre eigenen Partien schreiben. Als Leser bist du dann ganz nahe dran, weißt, was die Spieler gedacht haben. Das hilft, die Partien und vor allem das Denken der Beteiligten zu verstehen.”

Buch des Jahres 2018: “Positional Decision Making in Chess“.
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UnbekanntUnbenannt
UnbekanntUnbenannt
1 Jahr zuvor

Durch Umwegen über Chess24 ist meine Frage jetzt doch bei den Perlen gelandet. Es war wohl etwas naiv zu glauben, dass Vincent sich die Blöße gibt zu zugeben, dass Abdusattorov, Pragg etc. aufgrund ihrer Popularität einfach bessere Chancen bekommen sich mit der Weltelite zu messen. Doch trotzdem glaube ich (mit meiner bescheidenen Menschenkenntnis) eine gewisse “Verbitterung”, ein passender Ausdruck ist mir leider nicht in den Sinn gekommen, durch die WebCam erkannt zu haben. Nichtsdestotrotz spricht es gerade für Ihn sich diese in der (Online-)Öffentlichkeit nicht anmerken zu lassen. Ein Charakterzug der selten geworden ist in modernen Zeiten (siehe Niemann-Carlsen). Dem… Weiterlesen »

Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

“Ich habe versucht, gesund zu stehen und dann langsam aufzubauen. Aber das allein funktioniert jetzt nicht mehr. Wenn du ganz oben ankommen willst, musst du ein Universalist und Allrounder sein.” Klingt hier gut, es geht tatsächlich vom sozusagen alten Schach wegzukommen und im sozusagen utilitaristischen Sinne den Punkt, letztlich, auch wenn es dazu idR nicht kommt, den Erfolg per Matt anzustreben. “Verwaltungsschach”, an dieser Stelle dürfen sich Schachspieler mit sozusagen bürokratischem Talent vorgestellt werden, die Mini-Vorteile anzuhäufen gedachten, darin auch gut waren, um so – vielleicht! – zum Ziele zu kommen, war gestern. Auch sog. Shape-Player, dieser Begriff stammt von… Weiterlesen »