Jugend-WM 1977 an der französischen Mittelmeerküste. In der vierten von elf Runden wird Markus Kappe aus Oberkochen zu Garri Kasparow hochgelost. Mit 2,5 Punkten liegt der 16-jährige Deutsche einen halben Zähler hinter dem Russen, der bis dahin alle Partien gewonnen hatte.
Garri startet als Nachziehender in seinem geliebten Königsinder vielversprechend. Nach einer frühen Ungenauigkeit Kappes steht er schon nach zehn Zügen leicht besser. Dann greift der Turnierfavorit aus Baku fehl. Wird Kappe die taktische Chance sehen, die ihm der Turnierfavorit bietet?
Die erste Septemberhälfte 1977: Helmut Schmidt ist Bundeskanzler. Mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer beginnt der “Deutsche Herbst”, eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik. In der Hitparade steht die französische Band “Space“ mit ihrem Instrumentalstück “Magic Fly” an der Spitze.
Fliegen, keine magischen, spielen auch bei der U17-WM eine Rolle. Das Turnier läuft im französischen Cagnes-sur-Mer, eine Gemeinde zwischen Cannes und Nizza, die in Frankreich für ihre Pferderennen bekannt ist.
“Eines der fünf größten Talente, die Deutschland je hatte”
Nach 20 Stunden Zugfahrt haben Markus und sein Bruder Reinhard Kappe die französische Mittelmeerküste erreicht. Markus ist als einziger Deutscher vom Schachbund nominiert worden, sein Bruder ist als Sekundant dabei, er hilft unter anderem beim Analysieren von Hängepartien. Nebenbei hält er die heimische Presse auf dem Laufenden.
32 Spieler aus 30 Ländern absolvieren vom 8. bis 19. September 11 Runden Schweizer System. Die Spieler und ihre Sekundanten sind in den fliegenverseuchten Jockey-Kammern des Hippodroms untergebracht. „Wir versuchten, im Ort eine Fliegenklatsche zu kaufen, haben aber keine bekommen“, sagt Reinhard Kappe.
Jugendweltmeisterschaften in diversen Altersklassen gibt es 1977 nicht. Die U17-WM, auch Kadettenweltmeisterschaft, ist gespickt mit Spielern, die viel jünger als 17 sind. Allen voran natürlich der 14-jährige Kasparow. Auch Nigel Short ist Teil des Felds. Der 12-Jährige hatte wenige Wochen zuvor bei der Britischen Meisterschaft der Erwachsenen für Furore gesorgt: Sieg über Jonathan Penrose, den mehrfachen Landesmeister.
Kasparow startet mit drei Siegen, er scheint seiner Favoritenrolle gerecht zu werden. Ein halbes Jahr zuvor hatte der Hochbegabte die UdSSR-Juniorenmeisterschaft (U18) gewonnen. Und das mit einem Rekordergebnis (+ 8 – 0 =1), wie sein stolzer Trainer Alexander Nikitin später in seinem Buch “Mit Kasparow zum Schachgipfel” (Sportverlag Berlin, 1991) explizit anmerkt.
Und Markus Kappe?
„Markus, mein ehemaliger Mannschaftskamerad, war in jenen Jahren strategisch der beste Spieler der Welt in seiner Altersklasse. Er war eines der fünf größten Schachtalente, die Deutschland je hatte. Davon bin ich überzeugt.“
Erstaunliche Worte standen in der Neujahrsmail des ehemaligen Bundesligaspielers Dieter Migl, die er mit dem Vorschlag verband, Markus Kappe zu würdigen.
Eine erste Google-Suche führte mich direkt zur Seite vom Schachverein Oberkochen. Dort sprang mir, versteckt in der Vereinshistorie, dieser Satz entgegen:
„Zu den größten Erfolgen zählte der Sieg von unserem damaligen 16-jährigen Talent Markus Kappe gegen den hochfavorisierten Garri Kasparow an der 1. Schüler-Schachweltmeisterschaft 1977 im südfranzösischen Cagnes-sur-Mer.“
Markus Kappe? Von diesem Spieler hatte ich nie gehört. Also die Datenbank konsultiert. Neben Kappes Sieg gegen Kasparow ploppten weitere auf: gegen späterere Bundesligaspieler wie Matthias Deutschmann, Phillip Gerbert, Christian Schubert. Des Weiteren wurde ein Remis gegen Eric Lobron und eines gegen Stefan Kindermann angezeigt, beides spätere Großmeister.
Auf gut Glück kontaktierte ich Lobron und Kindermann. Anders als Kappe sagten mir deren Namen natürlich etwas – große Meister unseres Spiels, deren sportlichen Weg ich stets verfolgt hatte. Ob sie sich an Markus Kappe und an ihre Remispartien aus dem Jahr 1977 erinnern, fragte ich die beiden.
Kurz danach traf eine freundliche Antwort von Eric Lobron ein. Er wäre gern behilflich gewesen, bedauerte aber, dass er sich weder an Markus Kappe noch an die Partie gegen ihn erinnere. Kaum hatte ich mich für seine prompte Antwort bedankt, traf eine andere Mail ein. Absender: Stefan Kindermann. Der Leiter der Münchner Schachakademie war einst deutscher, später österreichischer Nationalspieler. Er schrieb:
“Mit Markus Kappe hatte ich bei den Deutschen Jugendmeisterschaften 1977 in Wallrabenstein gespielt. Leider erinnere ich mich an ihn nur sehr vage. Ich glaube, dass er ein sehr ernster und stiller junger Mann war. Anscheinend war er auch wirklich ein beachtliches Talent. Ich hatte jetzt ein paar Partien von damals durchgesehen, die erstaunliches Niveau hatten, zum Beispiel sein Sieg gegen Philipp Gerbert und ein starkes Kampfremis gegen Lobron, der ja später auch Großmeister wurde.”
Seine eigene Partie gegen Markus Kappe, ein schnelles Remis, hält Kindermann für nicht weiter erwähnenswert. Kasparows Partie gegen Markus Kappe kannte Kindermann nicht. Als ich sie ihm schickte, war er begeistert. Schon am Morgen danach fand ich in meinem E-Briefkasten seine ausführliche Analyse (vielen Dank nochmals!). Kindermann gratulierte zur Initiative, diesen Spieler dem Vergessen zu entreißen.
Dieses war sein Beitrag dazu (Klick auf einen Zug öffnet das Diagramm zum Nachspielen):
Motiviert und inspiriert durch die großmeisterliche Unterstützung, begab sich Dieter Migl umgehend in sein Archiv. Er förderte einen Zeitungsausschnitt zutage, den er vor über 43 Jahren aus der „Ipf-und Jagst-Zeitung“ ausgeschnitten hatte, ein zufällig genau nach jener vierten Runde entstandener Bericht, in dem Reinhard Kappe Einblicke zu der Partie gegen Kasparow gewährte:
„In der vierten Runde wurde Markus nach oben gelost und musste mit Weiß gegen den favorisierten Sowjetrussen Garri Kasparow antreten. Markus lehnte im 35. Zug ein Remisangebot des Russen ab und nach 41 Zügen und fünf Stunden Spielzeit wurde die Partie abgebrochen. Anschließend analysierten wir das Spiel etwa eine Stunde lang und legten uns danach schlafen. Nachts um 24 Uhr fiel Markus plötzlich ein möglicher sehr starker Zug des Russen ein, den wir bisher völlig außer Acht gelassen hatten. Ich schlug ihm vor, ihn sofort zu analysieren.
Nach einer Stunde hatten wir auf diesen Zug einen feinen Gewinnzug gefunden. Am nächsten Morgen spielte Kasparow tatsächlich genau die Variante unserer nächtlichen Analyse und Markus gewann nach einer Stunde Spielzeit. Eine ganz tolle Leistung, wenn man bedenkt, dass der Russe eine Elozahl von 2323 aufweist.“ (*)
Kasparow hat in seiner Karriere zwei Turnierpartien gegen Deutsche verloren. Eine gegen Robert Hübner, eine gegen – Markus Kappe.
Mehr über Markus Kappe:
(*) Entgegen der Darstellung im Zeitungsartikel scheint Garri Kasparow erst 1980 seine erste offizielle Elozahl erspielt zu haben. Damals stieg er mit 2595 als 15. der Weltrangliste ein.
Die 16. Jugendweltmeisterschaft fand vom 4. bis 19. September 1977 in Innsbruck statt und wurde von Artur Jussupow mit 10,5 aus 13 gewonnen, der deutsche Vertreter Jörg Weidemann (Deutscher Jugendmeister 1976) kam mit 6,5 Zählern nur auf Rang 26. Die Behauptung aus dem Text “Jugendweltmeisterschaften in diversen Altersklassen gibt es 1977 nicht.” ist unzutreffend. Die hier besprochene Veranstaltung in Cagnes-sur-Mer war die erste von der FIDE anerkannte “Kadetten-Weltmeisterschaft” für Spieler bis zum 17. Lebensjahr. “Schüler” waren damals im deutschen Schach Jugendliche bis zum 15. Lebensjahr, so dass die Bezeichnung “Schüler-Weltmeisterschaft” nicht passt.
Jetzt konnte ich aus dem Text gar nicht erkennen was Aus Markus geworden ist? Wie ist denn der weitere Werdegang und hat er nach dem Sieg nie wieder die Steine angefasst? Lebt Markus noch? Danke für den tollen Bericht das sind wirkliche Perlen. Grüße von der gegenüberliegenden Seeseite aus Allensbach
Das Foto von der Jugend-Einzelmeisterschaft in Wallrabenstein entstand während der 6. Runde. Im Vordergrund kann man die Stellung der Partie Alexander Dietrich gegen Siegfried Wiche vor dem Zug 11.Sc5 erkennen, links dahinter Jaroslav Melzer gegen Peter Weber. Matthias Deutschmann spielte in jener Runde gegen Philipp Gerbert.
Eine unglaublich starke Partie. Es war ja auch nicht so, dass sich Garri Kasparow nicht gewährt hätte. Aber beginnend mit 12.Sde4 passte alles. Taktisch war der Zug stark, aber beweist auch Weitsicht. Denn es alles andere leicht, die Materialverteilung einzuschätzen. 29.Tb1 sehen auch gute Spieler nicht an jedem Tag und 31.Lf4 ist brilliant und gegen einen dynamischen Spieler die bessere Wahl als 31.Lxa5. 35.g4 und 37.bxa4 (von Stefan Kindermann schon gar nicht mehr kommentiert …) sind ebenfalls großartig. Auch ich hatte noch nie etwas von Markus Kappe gehört und glaubte, dass Robert Hübner 1992 in Dortmund als einziger Deutscher gegen… Weiterlesen »
Habe gleich meine Partien gegen Markus Kappe raus gesucht. 1975 und 1976 bei den Württembergischen Jugendmeisterschaften in Stuttgart Ruit. Beide deutlich verloren. Nur gegen seinen Bruder Reinhard konnte ich gewinnen. Von Markus Kappe habe ich nie mehr gehört.
[…] 1977 in Südfrankreich. Untergebracht in einer vor Fliegen wimmelnden Jockeybox (siehe erster Bericht), analysierten die Brüder die Hängepartie gegen Kasparow. Nach Mitternacht fanden sie das […]
[…] Kindermann, im Zusammenhang mit Kasparow-Bezwinger Markus Kappe war unlängst von der Deutschen Jugendmeisterschaft 1977 in Wallrabenstein die Rede. Dort haben […]
[…] Kindermann, im Zusammenhang mit Kasparow-Bezwinger Markus Kappe war unlängst von der Deutschen Jugendmeisterschaft 1977 in Wallrabenstein die Rede. Dort haben […]
1980 als erste Elo von Kasparov scheint auch falsch zu sein: http://www.olimpbase.org/Elo/player/Kasparov,%20Garry.html
Die damaligen Listen sind leider erstaunlich unvollständig.
Ich denke Dario Doncevic ist der dunkelhaarige Junge, der links hinten allein am Brett sitzt. Aber vielleicht kann er es ja selbst bestätigen oder verneinen, wenn er das hier liest?
Die erste “richtige” Jugend-WM, an der Kasparow und auch Short teilnahmen, war 1978 in Dortmund. Dabei siegte Kaspparow vor dem Zweiten Short.
1977 wurde Kasparow im Schachecho übrigens “noch” als Harry Kasparow bezeichnet. Auf den ersten Blick komisch, aber im Russischen haben G und H den gleichen Buchstaben. So hiess die Stadt Halle an der Saale in russischen Nachkriegsberichten oft “Galle”.
Ingo Althöfer.