eSport möchte ja so gerne als “richtiger” Sport anerkannt werden. Im sportstrukturell verkrusteten Deutschland ist das aber nicht so einfach. Neulich mochte der Deutsche Olympische Sportbund nicht einmal den Begriff “Sport” im Zusammenhang mit elektronischen Wettkämpfen verwenden. Die nationalen Olympia-Funktionäre kreierten die Ausrede “eGaming”, als sie feststellten, dass diese Art des Sporttreibens sich ihnen nicht erschließt.
“Aber Schach ist doch auch Sport!?”, ertönt es nach derartigen Nackenschlägen regelmäßig aus dem eSport-Lager, das geschlossen mit dem Zeigefinger ins Schachlager zeigt.
Wäre statt Lagerdenken nicht dringend eine Vereinigung vonnöten? Warum sollte Schach nicht dereinst als eSport bei Olympia einziehen? Warum sollte der Schachbund nicht zumindest den Kontakt zum Ende 2017 gegründeten eSport-Verband knüpfen und pflegen? Das wäre mal fortschrittlich, und wer weiß, was daraus entstehen könnte.
Die Schnittmenge Schach-eSport wird immer größer
Bei den Schach-Senioren merkt es wahrscheinlich kaum jemand, aber die Schnittmenge von Schach und eSport wächst stetig – auch national. Schach wird jetzt schon in erster Linie online gespielt. Und was, wenn nicht ein eSport-Wettkampf, ist die Deutsche Internetmeisterschaft, die DSB und ChessBase ab dem kommenden Jahr planen?
International forciert die Plattform chess.com das Zusammenwachsen von Schach und eSport längst mit Macht, fördert Schach-Streamer und bietet gleich mehrere Turnierserien an. Der monatliche Höhepunkt “Titled Tuesday” ist an der Spitze besser besetzt, als es eine Deutsche Meisterschaft im Turnierschach je sein wird. Dasselbe gilt für die “Titled Arena”, die monatlich bei Lichess ausgespielt wird und die in der Regel der auch beim Bullet unwiderstehliche Magnus Carlsen gewinnt.
450.000 Zuschauer am Brett von Magnus Carlsen
Mannschaftswettbewerbe stehen und fallen damit, ob sich die Fans mit einer Mannschaft identifizieren können. Um dem gerecht zu werden, hat chess.com mit der “Pro Chess League” (PCL) einen globalen eSport-Wettbewerb mit lokalen Teams ins Leben gerufen. Viele Mannschaften stehen für Metropolen, andere für Länder. Die “Armenian Eagles” zum Beispiel, die zuletzt gewonnen und sich dafür ein gewaltiges Stück vom 50.000-Dollar-Preiskuchen abgeschnitten haben.
Sogar der Weltmeister ist bei der PCL mit von der Partie. Magnus Carlsen besetzt das erste Brett der “Norway Gnomes”, und er lässt sich von den Fans beim Spielen zuschauen. Noch im Nachhinein haben bislang fast 450.000 Leute eingeschaltet und sich die Aufzeichnung angeschaut, ein Indiz für das Potenzial solcher Veranstaltungen, die ja noch ganz am Anfang stehen.
Große Klappe auf Twitter
Ab der kommenden Saison mischen zwei Mannschaften aus Deutschland mit. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich die längst in der PCL etablierten “Stockholm Snowballs” (mit Georg Meier und Vincent Keymer) in “Baden-Baden Snowballs” umbenannt haben. Für viel mehr Aufsehen als die neue Truppe aus der Grenkestadt sorgt aber jene aus Berlin.
Die “Berlin Bears” heißen so, weil ihre Stadt den Bären im Wappen führt und die meisten Spieler den Bären im Namen – die Großmeister Niclas Huschenbär, Arik Braunbär und David Bäramidze zum Beispiel. Diese Herren fielen erst durch ihre große Klappe auf, als sie per Twitter der Konkurrenz verkündeten, gegen die “Berlin Bears” sei nichts zu holen außer einer Tracht Prügel. Dann fielen sie umso mehr auf, als sie den Worten Taten folgen ließen. Die “Berlin Bears” marschierten durch die Qualifikation. Jetzt sind sie Teil des weltweiten Online-Schachzirkus “Professional Chess League”, die im Januar mit 32 Mannschaften in 4 Divisionen beginnt.
Einen Manager haben sie auch schon. Bo Wimmer vollbrachte das Kunststück, aus einer Handvoll verpeilter Schachmeister eine Mannschaft zu formen, organisierte die Teilnahme in Abstimmung mit chess.com und stellte sicher, dass seine Jungs vollzählig und rechtzeitig zum Wettkampf am virtuellen Brett sitzen. Weil Wimmer am besten selbst erzählen kann, wie aus einer lockeren Schachgemeinschaft an einem Berliner Spät-Kiosk eine Mannschaft für die PCL wurde, begrüßen wir ihn heute als ersten Gastautor dieser Seite.
Wie alles begann, und was dann passierte: ein Gastbeitrag von Bo Wimmer, Manager der “Berlin Bears” in der Pro Chess League
Mit Karl-Herausgeber Harry Schaack war ich nach der Bundesliga-Endrunde am 1.Mai 2018 in Berlin unterwegs. Ich wollte zum Späti (Spätis sind in Berlin die fast überall auffindbaren Kioske, die weit bis in die Nacht geöffnet haben).
Harry wollte diesen Späti sehen, von dem ich so viel erzählte, dem Späti in Kreuzberg, an dem Passanten stehen bleiben, um Schachspielern zuzusehen und nicht selten unwissend und dosenbierbewaffnet Großmeistern Tipps für Turmendspiele geben.
Schachlehrer IM Steve Berger macht einmal wöchentlich den ihm verwandtschaftlich verbundenen Späti an der Skalitzerstraße zum wahrscheinlich elo-dichtesten Punkt Europas. Dort sehen wir den ehemaligen Jugend-Weltmeister Arik Braun, IM Marco Baldauf, GM Niclas Huschenbeth, IM Martin Brüdigam oder eben IM Steve Berger analysieren, blitzen und eine gute Zeit haben.
Der Schachfan in mir wünschte sich ein Team
Der Weg zum Späti wurde lang durch die Menschenmassen der Oranienstraße. Ich erzählte Harry, warum ich die ProChessLeague so großartig finde, und warum nicht nur ich davon Fan bin, sondern auch zum Beispiel Magnus Carlsen und MVL.
Da sollte die Schach-Crew vom Späti auch mitmachen! Die Stärke der Spieler vom Späti würde gut zur ProChessLeague passen, in der jedes Team einen Elo-Durchschnitt zwischen 2.400 und 2.500 haben muss.
Insgeheim wollte wahrscheinlich der Schachfan in mir seine Leidenschaft an ein Team hängen, idealerweise an ein Team, mit dessen Spielern er befreundet ist.
Am Späti war an diesem Abend eine Bierbank für Schachspieler reserviert. Findet man eher selten, ich aber großartig. Ich kann nicht sagen, dass dort kein Bier getrunken wurde, und ich weiß nicht mehr, wann wer irgendetwas zur ProChessLeague gesagt hat. Das Zögern der Meister, sich für das Qualify Event anzumelden, obwohl jeder die Idee liebte, ließ mich als Schach-Fan empört aufreden. Aber die anderen wussten einfach sehr viel besser, wie nervenaufreibend es sein kann, Schachspieler zu organisieren.
Manager eines Schachteams – eine Schnapsidee?
Marco und Arik versuchten wahrscheinlich, mich zu beruhigen, indem sie sagten, dass sie spielen werden, wenn ich es organisiere. Für mich klang das wie eine Schnapsidee: Ich, Manager eines Schachteams. Aber es machte großen Spaß, sich Namen auszudenken.
Der vorläufige Teamname “Späti-Bären” war schnell geboren und der Weg zum Braunbär, BaldaufBär, Bärger und Huschenbär nicht weit.
Nach und nach begann ich dann zu glauben, dass es wirklich funktionieren könnte. Greg Shahade von der ProChessLeague beantwortete meine E-Mails, ein Freund designte ein Logo, irgendwann hatte ich eine Mannschaft zusammen. Und ich merkte, mit wie viel Lust alle bei der Sache waren. Bald würde ich also zitternd vor Aufregung die Spiele der Bären streamen, anstatt mehr oder weniger unbeteiligt als Zuschauer vor dem Bildschirm zu sitzen.
Das Qualify Event bestand aus 28 Teams aus aller Welt, die besten 8 sollten sich qualifizieren. Der Termin am 3. November fiel leider mit dem Open am Tegernsee zusammen, an dem Arik und Marco teilnahmen. Zum Glück konnten David Baramidze und Niclas Huschenbeth spielen.
So bestand unser Team, die Berlin Bears, wie wir in der PCL heißen (Späti war wohl zu kompliziert), aus diesen beiden plus Steve Berger und Bernd Hoy, eine bayerische Blitzlegende, die ich noch aus Jugendzeiten kannte.
Als ich das Line-Up der anderen Teams sah, war auch klar, dass jeder es verdient, sich zu qualifizieren. Uns erwarteten klangvolle Gegenspieler: Jobava, Duda, Piorun, Shankland, Dubov, Artemiev, Kamsky!
Jobava ins Wohnzimmer gucken
Erster Gegner waren die Warsaw Fighters. Mit Duda und Piorun spielt dort die halbe, überaus erfolgreiche polnische Olympia-Mannschaft. Wir gewannen 3:1 und das nächste Spiel auch.
Die Bären spielten allesamt unheimlich stark. Bäramidze an 1 holte 11 aus 17 und Huschenbär an 2 10,5 aus 17 gegen unheimlich starke Gegnerschaft. Bärnd hatte nichts von seinem Blitzgift verloren und pflügte mit 8,5 aus 13 durch das Feld. Steve, bei dem es im 3+2-Blitz nicht so gut lief, legte im eher schnellschachigen 7+2-Modus des späteren Knockout-Matches mit 3,5 aus 4 den Grundstein für unseren dortigen Erfolg.
Und es hat absurd viel Spaß gemacht. Im Vorfeld wurden auf Twitter getrashtalked, im Liga-Internen Anti-Cheating-Room guckte ich Jobava ins Wohnzimmer, und auf dem Brett sah man Bäramidze gegen die georgische Legende in 29 Zügen gewinnen. Ortbär, mit besserer Internetverbindung gesegnet, schickte mir die neuesten Ergebnisse, Braunbär gab sich Mühe, seine Partie schnell erfolgreich zu beenden, um dann mit Pizza vor dem PC sein Team zu verfolgen. Ich kommentierte schachkompetenzfrei, aber dafür dem Wahnsinn nahe, das Turnier trotz unüberkommbarer technischer Schwierigkeiten.
Beim Knockout-Match gegen Bergamo gewann Bäramidze gegen Luca Moroni in 25 Zügen recht schnell den wichtigen achten Punkt. Mit 8,5 wären wir qualifiziert, aber die nächsten 12 Minuten, die es brauchte für diesen entscheidenden halben Punkt waren mit Abstand die schrecklich-aufregendsten 12 Minuten meines Schachfan-Daseins. Dann waren wir qualifiziert, und jetzt wollen wir mehr.
Und jetzt: Vom Aufsteiger zum Meister
10 Spieltage in 7 Wochen von Januar bis März stehen uns bevor. Wir müssen überlegen, wie wir das Team von MVL besiegen, was gegen welches Team die optimale Aufstellung wäre, welche Spieler zu uns passen, um unseren Spielerpool zu vergrößern und besser reagieren zu können.
Unser erstes Ziel ist es, nicht abzusteigen, denn ein weiteres Qualifikationsturnier überlebe ich nervlich nicht. Das zweite Ziel ist natürlich zu gewinnen, so wie letztes Jahr die Armenia Eagles: vom Aufsteiger direkt zum Liga-Meister.
Schach als Spiel und auch als Sport existiert nun so lange, da muss man sicherlich nicht jeden Trend hinterherlaufen. Aber um vor allem die junge Generation für das Schachspiel zu begeistern, kann man schon mal versuchen, sich an den eSport-Hype zumindest etwas dranzuhängen. Ich als Trainer gebe meinen Schachschülern (auch als Argumentationshilfe gegen etwas naive Zeitgenossen, die Schachspieler belächeln) immer mit, dass Schach das älteste PvP-Spiel (player versus player) der Welt ist und noch dazu das Spiel mit den größten strategischen und taktischen Möglichkeiten. Da kommt kein Moba-Game, kein Shooter und auch kein MMORPG mit. Ob ein Slogan wie “Play… Weiterlesen »
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