WM-Auftakt: Zuschauerrekord bei chess.com, das übliche Desaster bei Agon

esport2.jpg

Den Herrn links im Bild kennen wir natürlich. Richard Tyler Blevins, genannt “Ninja”, einer der bekanntesten Internetmenschen überhaupt. Wenn Ninja auf Twitch online geht, schauen ihm zehntausende seiner elf Millionen Follower zu, manchmal hunderttausende, und wenn Blevins auf Twitter etwas schreibt, dann lesen das 3,6 Millionen Menschen.

esport7.png
Martin Bennedik, Betreiber von chesspuzzle.net, hat stets ein Auge darauf, wer im Internet mit Schach wie viele Leute erreicht.

Als professioneller Gamer hat Blevins seine Karriere vor fast zehn Jahren begonnen, spielte Halo3 für verschiedene Teams in verschiedenen Ligen. Zuletzt ist er mit “Red Bull eSports” eine Partnerschaft eingengangen. Heute streamt Blevins in erster Linie Fortnite auf Twitch, lässt sich dort live auf den Bildschirm schauen und zeigt Aufzeichnungen seiner Partien auf Youtube, wo ihm mehr als 17 Millionen Menschen folgen. Allein damit verdient Ninja laut Wikipedia monatlich mehr als 500.000 Dollar.

Die beiden Herren rechts mit ihrem altertümlichen Spiel sehen dagegen aus wie sehr kleine Fische, aber am Freitagabend saßen sie Ninja im Nacken. Die chess.com-Show zur ersten WM-Partie überbot mit mehr als 40.000 Zuschauern bei weitem den bisherigen Rekord von 28.000, erzielt im Januar, als sich Magnus Carlsen und Hikaru Nakamura im Schnellschach maßen.

Werbung

Auch wenn keine WM ist: Gamer gucken Schach

Wir haben ja schon vor ein paar Tagen beleuchtet, wie chess.com mit Macht in die eSport- und Gaming-Szene drängt. Warum sie das tun, war am Freitagabend für jedermann zu sehen: Es funktioniert. Wer in seiner Freizeit gerne Fortnite oder FIFA schaut, der findet auch Schach interessant. Nicht erst seit gestern gehört Schach zu den meistgesehenen Spielen auf Twitch. Auch wenn keine WM läuft, gucken oft mehr Gamer Schach als etablierte Gaming-Titel.

esport6.png
Das WM-Match in London, wie es die Künstlerin Rosemarie J. Pfortner sieht.

Durchgehend etwa 90.000 Menschen, mal mehr, mal weniger, haben am Freitag auf Twitch und Youtube Schach-WM geschaut, fast die Hälfte davon bei chess.com, das mehr als doppelt so viele Zuschauer anzog wie der Youtube-Stream von chess24, der mit Peter Svidler und Alexander Grischuk zwar edel besetzt war, aber eher das elostarke denn das breite Publikum ansprach. Alle anderen müssen sich weit hinter chess.com und chess24 einsortieren.

Bling-Bling-Bullshit

Das gilt auch und insbesondere für den Ausrichter Agon, der als einziger Geld verlangte (20 Dollar) und dafür als einziger Bilder vom Ort des Geschehens anbot. Theoretisch zumindest. Praktisch fiel wieder einmal das Bild aus, und statt auf Carlsen/Caruana am Brett und Polgar/Rudolf am Kommentatorenpult guckten die 2.800 Zuschauer in die Röhre. Auf der offiziellen Website derweil kein Anzeichen, dass die Weltmeisterschaft begonnen hat, nicht einmal ein Link zur Partie. Auf Youtube Zorn, weil die als Appetithappen gedachte freie Übertragung nach 30 Minuten endete und die Zuschauer zwang, sich anderswo umzuschauen.

esport3.jpg
Ein Einblick in den nicht moderierten Worldchess-Chat während der Liveübertragung.

Und so müssen wir mal wieder die Stümperhaftigkeit des FIDE-Ausrichters anprangern. Dass sie bei Agon Fassade können, dass aber dahinter jede Substanz fehlt, steht hier ja nicht zum ersten Mal. Wer dafür ein aktuelles Beispiel sehen möchte, begebe sich auf die Website von Agon/WorldChess: Eine Gala mit rotem Teppich gab es zur Eröffnung. Roter Teppich, Promis, sabber, sabber! Auf solchen Bling-Bling-Bullshit geht Merenzon&Co. dermaßen einer ab, das steht natürlich als Top-Nachricht ganz oben auf ihrer Website. Dass eine WM-Partie gespielt wurde, eine dramatische zumal, steht da nicht.

Vor der WM gab es Anzeichen, dass sie bei Agon nach dem Umzug von Moskau nach London nun endlich den Schuss gehört haben. Und dafür wäre es höchste Zeit gewesen, weil die Firma ausschließlich Leute verärgert, Schulden anhäuft und dem Spiel schadet, anstatt es hübsch verpackt ins Schaufenster zu stellen. Auf der Abschussliste steht sie deswegen schon seit Monaten.

FIDE-Vizepräsident Nigel Short sagte gestern auf Twitter, dass es schwerlich möglich gewesen wäre, in der kurzen Zeit zwischen FIDE-Wahl und WM einen neuen Ausrichter anzuheuern: “Hätten wir das Match vier Wochen vorher absagen sollen? Oder besser versuchen, dass es ein Erfolg wird?”

0 0 votes
Article Rating
Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

8 Comments
Most Voted
Newest Oldest
Inline Feedbacks
View all comments
ekpah
ekpah
5 Jahre zuvor

Ganz so überzeugend war Chess24 aber auch nicht: in der App wurde kein einziger Zug übertragen (wie es auf der Website war, konnte ich nicht überprüfen).

Frank
Frank
5 Jahre zuvor

Der Herr links ist nicht Ninja, sondern Ben “DrLupo” Lupo – auch wenn es der Kanal vermuten lässt. Es war wohl nur ein Screenshot zur falschen Zeit 😉

trackback

[…] Wo soll da noch Raum sein für andere? Zumal zur WM 2018 der Branchenriese chess.com mit seiner geballten Marktmacht und Twitch-Erfahrung ins Übertragungsgeschäft […]

trackback

[…] Eine Riesenchance für das Schach: So lange nämlich IOC-Chef Thomas Bach Dota oder Counterstrike für „Ballerspiele“ hält und ihnen wegen vermeintlicher Gewaltverherrlichung den Olympia-Zutritt verweigert, können eSport und Schach einander als Vehikel benutzen, um olympisch zu werden. Anders als gängige eSport-Titel hat Schach Tradition und Geschichte vorzuweisen – und ist doch perfekt für Bildschirmwettkämpfe geeignet. Außerdem trifft es den Nerv der jungen Zuschauer. Längst schauen auf Twitch oft mehr Leute Schach als Counterstrike. […]

trackback

[…] und Fabiano Caruana ihr WM-Match spielten, als WorldChess mal wieder seine Liveshows missglückte, schauten auf Twitch mehr Leute Schach als Fortnite oder League of Legends. „Ein Wachstum wie beim Schach sehen wir bei kaum einem anderen Spiel“, sagte […]