Die FIDE-Ethikkommission und der “Kampf um Anstand im Schach”

Die FIDE-Ethik- und Disziplinarkommission hat den russischen Schachverband für zwei Jahre aus dem Weltverband ausgeschlossen und FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich gerügt, in beiden Fällen wegen Verstößen im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die Entscheidung, nicht einstimmig, fiel gegen den Widerstand der FIDE-Führung, die im Lauf des Verfahrens versuchte, der Kommission die Zuständigkeit abzusprechen. Das Urteil kann binnen 21 Tagen angefochten werden. Der russische Verband hat schon angekündigt, dagegen vorzugehen.

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Seit dem Überfall Putin-Russlands auf sein Nachbarland erweckt der Schach-Weltverband unter Führung des einstigen Putin-Beraters und stellvertretenden Ministerpräsidenten kontinuierlich den Eindruck, er sei viel mehr daran interessiert, russisches Schach zu ermöglichen denn ukrainisches zu schützen. Im Juli 2023 feierte Dvorkovich den internationalen Tag des Schachs im Hauptquartier des russischen Verbands gemeinsam mit Putin-Sprecher Dmitry Peskov, mit dem er im Kuratorium des russischen Verbands sitzt. Im April 2024 fehlte Dvorkovich beim Kandidatenturnier, dem größten FIDE-Turnier, da er nicht in Kanada einreisen konnte.

Was Arkady Dvorkovich am internationalen Tag des Schachs gemacht hat.

Intern werden ihm diese und zahllose andere Auffälligkeiten nicht vorgehalten. Als Weltschachpräsident führt Dvorkovich ein auf Abhängigkeiten und Gefälligkeiten basierendes System, in dem es keine Kritik gibt, kein Aufbegehren, in dem er sich ohne Widerstand zum Präsidenten auf Lebenszeit machen könnte, in dem alle der FIDE angeschlossenen Verbände weitgehend stumm mitlaufen – bis auf einen, den ukrainischen.

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Der Fall zeige, dass die Schachwelt nicht eigenständig auf die Verstöße des russischen Schachverbands reagiere, schrieb FIDE-Kritiker Peter Heine Nielsen dem Spiegel. “Die FIDE hätte handeln müssen. Die Verbände hätten handeln müssen. Die Verstöße sind offensichtlich und schädlich”, sagt Nielsen, der das Verfahren im Herbst 2023 mit initiiert hat. “Es sollte nicht Sache des ukrainischen Verbandes und zweier Privatpersonen sein, sich damit zu befassen.”

Bericht zur Entscheidung der Ethik- und Disziplinarkommission im Spiegel.

Der ukrainische Schachverband sowie die Großmeister Andrii Baryshpolets und Nielsen haben ihren Fall am 7. Dezember 2023 vor die Ethik- und Disziplinarkommission der FIDE gebracht. Baryshpolets hatte 2022 für die FIDE-Präsidentschaft kandidiert, unterlag aber deutlich. Nachdem die Kommission festgestellt hatte, dass die Einzelpersonen Baryshpolets und Nielsen nicht befugt sind, ein solches Verfahren zu betreiben, blieb der ukrainische Verband als einziger Kläger.

Nicht zuletzt auf Wunsch der Ukrainer versuchten Baryshpolets und Nielsen, weitere nationale Verbände für das Verfahren zu gewinnen, darunter den deutschen. Dessen Präsidentin Ingrid Lauterbach hat, wenngleich verklausuliert, im Sommer 2023 ein „Abgrenzen der FIDE vom russischen Verband“ angemahnt. Um genau dieses Abgrenzen ging es in der Beschwerde an die Ethik- und Disziplinarkommission. Aber als Lauterbach das Papier gesehen hatte, lehnte sie es ab, den deutschen Verband zum Teil des Verfahrens zu machen.  

Auf Anfrage teilt der DSB mit: „Ingrid Lauterbach hatte nach der Lektüre des 139-seitigen Dokumentes eine Telefonkonferenz mit Peter Heine Nielsen, bei der auch über eine mögliche Beteiligung des DSB gesprochen wurde. Da in dem vorliegenden Dokument jedoch nicht nur die beiden jetzt von der FIDE-Ethikkommission bestätigten Breaches (Verstöße, Anm. d. Red.) beschrieben wurden, sondern eine Vielzahl mehr, die der DSB weder beurteilen noch bestätigen hätte können, hat der DSB eine Beteiligung an der Klage abgelehnt.“

Gegenstand der Beschwerde waren im Wesentlichen die anhaltenden Schachwettbewerbe unter russischer Flagge in den besetzten Gebieten der Ukraine, die Teilnahme von Teams aus diesen Gebieten unter russischer Flagge in Russland, die Nichtbeachtung politischer Neutralität und die sanktionierten Funktionäre im Kuratorium des russischen Verbands.

Dvorkovich bildet dieses Gremium unter anderem mit Sergei Shoigu (bis vor kurzem Russlands Verteidigungsminister), Dmitry Peskov (Sprecher Wladimir Putins) und Gennadi Timchenko (dem die Söldnertruppe Redut gehören soll, die Teil der russischen Truppen in der Ukraine ist). Mit diesem Trio ein Gremium zu bilden, stelle eine direkte Verbindung dieser sanktionierten Personen zur FIDE her und füge „ihrem Ruf schweren Schaden zu“.

Nach der Wagner-Revolte (und vor dem Prigoshin-Absturz): Analyse der russischen Söldnertruppen (für Spiegel-Abonnenten).

Die FIDE-Ethik- und Disziplinarkommission (EDC) stellte jetzt fest, dass der russische Schachverband (CFR) folgende Verstöße begangen hat:

  • Das Ansehen der FIDE beschädigt oder das Schach verunglimpft
  • FIDE-Grundsätze nicht beachtet
  • Seine ihm durch die FIDE-Charta auferlegten Pflichten verletzt
  • Die Interessen der FIDE beschädigt.

Spielerinnen und Spieler, Trainer oder Vereine sind nicht betroffen. Die Sanktion hat zur Folge, dass der russische Verband für zwei Jahre von FIDE-Sitzungen und -Veranstaltungen ausgeschlossen ist. Sie kann für drei Jahre ausgesetzt werden, sofern der russische Verband binnen 60 Tagen sein Kuratorium auflöst bzw. alle sanktionierten Mitglieder von ihren Ämtern entbindet. Außerdem müsse die CFR Schach unter russischer Flagge in den besetzten Teilen der Ukraine einstellen (Krim, Donezk, Cherson, Luhansk).

Gegen Dvorkovich richtete sich der Vorwurf, politisch nicht neutral zu sein. Bis März 2022 war er Vorsitzender der Skolkovo-Stiftung, die das US-Außenministerium im August 2022 sanktioniert hat. Die Klageführer wiesen auf mehrere Zitate hin, die Dvorkovich im Laufe der Jahre über die Ukraine abgegeben hat. Dvorkovich erkenne die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine nicht an.

Der FIDE-Präsident solle die Opfer unterstützen, anstatt mit den Tätern zu feiern, findet nicht nur Peter Heine Nielsen.

Von allem, was die Ukrainer vorbrachten, blieb im Votum der Kommission nur die Mitgliedschaft im Peskov-Shoigu-Club übrig. Nach Auffassung der Kommission verstößt Dvorkovich damit gegen den Ethik-Kodex der FIDE. Er

  • werde seiner Vorbildfunktion nicht gerecht
  • schädige den Ruf der FIDE oder bringe das Schachspiel in Verruf
  • sei als Kuratoriumsmitglied der CFR an einer Vereinigung beteiligt, deren Tätigkeit mit den Zielen oder Interessen der FIDE unvereinbar ist.

Die Kommission fordert Dvorkovich auf, binnen 60 Tagen sein Amt im russischen Schachverband aufzugeben.

Im Laufe des Verfahrens haben die Beschuldigten unter anderem vorgebracht, Baryshpolets und Nielsen gehe es allein und Revanche für die verlorene FIDE-Wahl 2022. Baryshpolets (Ukrainer) und Nielsen (lebt in Litauen nahe der russischen Grenze) seien ansonsten „persönlich nicht betroffen“. In einer Stellungnahme des russischen Verbands heißt es, Putin-Sprecher Peskov und Ex-Verteidigungsminister Shoigu seien „nicht einflussreich“.

Kurz vor dem Urteil hat der FIDE-Rat (offiziell: „FIDE Council“) mit unter anderem den Dvorkovich-Gehilfen Viswanathan Anand und Zurab Azmaiparashvili zweimal versucht, das Verfahren zu stoppen. In einem Schreiben vom 18. April 2024 hieß es, die Kommission sei für nationale Verbände nicht zuständig. Am 1. Mai schrieb der Rat, der vorübergehende Ausschluss eines Mitgliedsverbands als eine Form der Sanktion verstoße gegen die FIDE-Charta. Die Kommission wies beides zurück.

Der im Papier dokumentierte Austausch zwischen Kommission und FIDE-Führung zeigt, dass es im Weltschachverband offenbar noch ein Gremium gibt, das zumindest teilweise unabhängig und unbeeinflusst arbeiten kann. Allerdings dokumentiert das Papier inklusive des milden Urteils auch, dass diese Unabhängigkeit auf tönernen Füßen steht. Mindestens ein Kommissionsmitglied, der Tunesier Khaled Arfa, sieht sich offenbar eher als Council- denn als Kommissionsmitglied. Die nächsten Monate werden zeigen, ob nach der zu erwartenden Gegenreaktion aus der FIDE-Chefetage sowie aus Russland überhaupt etwas vom Urteil übrigbleibt.

Als russischer FIDE-Präsident balancierte Arkady Dvorkovich anfangs zwischen dem ungebrochenen Anspruch der Schach-Großmacht Russland, im Schach das Sagen zu haben, und der Notwendigkeit, den Weltverband zu öffnen. Von Letzterem ist nach dem Überfall auf die Ukraine nicht viel übrig geblieben. Mit Dmitry Pekov. (M.) und Sergei Shoigu (r.) sitzt Dvorkovich im Kuratorium des russischen Verbands.

Der russische Verband und Dvorkovich haben jetzt 21 Tage Zeit, um Einspruch zu erheben. In einer ersten Reaktion betonte die FIDE, es handele sich um die erste Instanz. „Wir begrüßen die Tatsache, dass das Gremium die überwiegende Mehrheit der gegen Herrn Dvorkovich erhobenen Vorwürfe für unbegründet hält“, teilt der Verband mit. Angesichts der Möglichkeit eines Einspruchs werde die FIDE sich nicht weiter zum Sachverhalt äußern.

Welche Bedeutung Schach auch als politisches Spiel in Russland hat, lässt sich daran ablesen, dass sich wenige Stunden nach dem Urteil der Kreml zu Wort meldete. „Unfair“ sei die Entscheidung, sagte Dmitry Peskov. Er hoffe auf ein Missverständnis und kündigte an, „russische Interessen zu verteidigen“. CFR-Chef Andrey Filatov hält die Entscheidung für „diskriminierend“ und „politisch motiviert“. Die Kommission habe die Grenzen des Erlaubten überschritten. Filatov kündigte an, bei der FIDE-Generalversammlung im September in Budapest „die Frage der Befugnisse der Ethikkommission“ zur Debatte zu stellen.

Andrey Filatov, Chef des russischen Verbands.

Stellungnahmen Offizieller des Schachspiels aus anderen Ländern als Russland gab es bislang offenbar nicht. Aber Exweltmeister Garri Kasparow, in Russland seit neuestem als „Terrorist“ gebrandmarkt, hat sich zu Wort gemeldet. „Ein willkommenes Lebenszeichen in der Schachwelt“, schrieb Kasparow auf X/Twitter. Putins Russland nutze nicht nur Schach, sondern alle Sportarten für Propaganda. Der norwegische Gelehrte, IM und Kolumnist Atle Grønn gratulierte speziell Nielsen zu seinem Erfolg im „Kampf um Anstand in der Schachwelt“.

Auch Paul Meyer-Dunker findet das Urteil eher milde und vorsichtig, gleichwohl: “Historische Entscheidung.”

In Deutschland hat die Nichtbeteiligung des DSB Reaktionen hervorgerufen. Paul Meyer-Dunker, Präsident des Berliner Verbands, hatte den Kontakt zwischen Nielsen und Lauterbach vermittelt. Dass daraus nichts erwachsen sei, findet Meyer-Dunker „wirklich sehr schade. Wir hätten Teil dieses historischen Erfolges sein können. Inhaltlich wäre es einfach nur richtig gewesen“, so Meyer Dunker gegenüber dieser Seite Aber trotz Aufforderung des Berliner Verbands habe sich der deutsche dagegen entschieden.

Michael S. Langer, Präsident des Niedersächsischen Verbands, äußerte sich auf X/Twitter kritisch zur DSB-Entscheidung. Gegenüber dieser Seite verwies er auf die Geschichte „ehrenvollen Scheiterns“ des DSB in FIDE-Angelegenheiten. „Diesmal hätten wir gewonnen. Stattdessen schaffen wir es sogar in dieser Konstellation, auf der falschen Seite zu sein“.

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Kommentierender
Kommentierender
15 Tage zuvor

Ich bin der Meinung, dass Frau Lauterbach eine schlüssige und überzeugende Begündung dafür mitgeteilt hat, warum der DSB sich an der Klage nicht beteiligt hat. Wer jetzt noch Öl ins Feuer gießt, möge bei den nächsten Wahlen selber als Präsident kandidieren und es dann “besser” machen.

Olaf
Olaf
12 Tage zuvor

Da geht ich absolut mit mit Paul Meyer-Dunker und Michael Langer.

Schade, dass der DSB hier so feinspurig unterwegs war und mit einer Beteiligung an der gemeinsamen Klage kein Signal für Gerechtigkeit und gegen die russische Kriegstreiberei setzen wollte.

Es wäre einfach richtig gewesen, hier mit in der Reihe der Ukraine zu stehen. Die Gegenseite schert sich auch nicht um Feinheiten und haut mit dem groben Block zu.

Sehr schade um diese verpasste Chance.

Rick
Rick
14 Tage zuvor

Ende 2022 fand Die Weltmeisterschaft fuer Laender statt in Bezetstes Ost Jeruzalem. Keine Klage, keine Aufregung in die Media.