“Kindern Respekt beibringen”: die Schachrevolution auf Korsika und ihr Weltmeister

Das Schachwunder von Korsika begann 1978 in einer Zelle des Pariser Hochsicherheitsgefängnisses „La Santé“, als Léo Battesti nicht einschlafen konnte. Wegen eines versuchten Bombenanschlags auf eine Finanzbehörde war der korsische Unabhängigkeitskämpfer zu neun Jahren Haft verurteilt worden. Seine erste Nacht als Häftling „war außergewöhnlich“, erzählte Battesti unlängst dem Guardian: „Ich versuchte zu schlafen, aber da war dieses Klopfen: tok-tok-tok!“

Andere Häftlinge erklärten ihm, was er nachts hörte: zwei einsitzende KGB-Spione, die per Morsecode von Zelle zu Zelle Schach spielen… Schach! Das hatte Battesti früher auch gespielt. Er besorgte sich ein Brett und Bücher und begann, Fernschach zu spielen, anfangs ein Zeitvertreib gegen die Langeweile in der Zelle. Später organisierte Battesti ein Gefängnisturnier im Zellenblock für politische Gefangene. “Das einzige internationale Turnier, das ich gewonnen habe“, sagt er rückblickend.

Könige, Bauern und kleine Bürger: Der Guardian über die korsische Schachrevolution.

Schach sollte zu Battestis ständigem Begleiter werden, zu seiner Mission sogar. Das vorläufige Ergebnis dieser Mission: Auf Korsika spielen heute 7.000 der 340.000 Einwohner organisiert Schach, prozentual mehr als 25-mal so viele wie auf dem französischen Festland, Tendenz steigend. Schach ist als Schulfach etabliert, das korsische Schach-Curriculum auf dem Weg zum Exportschlager.

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Ihren ersten Großmeister hat die Insel seit 2021, als Marc-Andria Maurizzi sich 14-jährig – jüngster französischer GM jemals – den Titel sicherte. Jetzt hat Korsika sogar einen Weltmeister. Maurizzi, mittlerweile 16, hat am Sonntag die Juniorenweltmeisterschaft gewonnen – vor den Elofavoriten und deutlich älteren Hans Niemann und Frederik Svane.

Nachdem Marc-Andria Maurizzi in der neunten von elf Runden der Junioren-WM erfolgreich (und sehenswert) einen doppelten Oktopus im gegnerischen Lager eingepflanzt hatte, konnte er sich zum Titel remisieren.

Die Korsen zu guten, gar zu groß- und weltmeisterlichen Schachspielern zu machen, war nie das Anliegen von Battesti. Hauptsache, sie spielen. Der Mann, der einst zu den Waffen rief, hat eine erstaunliche Wandlung durchlaufen – zu einem Mann, der seine Mitbürger an die Bretter ruft. Heute sieht Battesti die Beschäftigung mit Schach als „kleine Schule der Staatsbürgerschaft“. Nicht mit Waffen, sondern mit dem Kopf und ihrer Individualität sollen die Korsen die Entwicklung ihrer Gesellschaft prägen.

1975 war Battesti, mit einer Schrotflinte bewaffnet, Teil der Gruppe, die ein Weingut in Aléria an der Ostküste der Insel besetzte. Die antikolonialistischen Kämpfer für die korsische Autonomie wollten Winzer enteignen, die von der Pariser Regierung nach dem Algerienkrieg Land auf der Insel bekommen hatten. Die Regierung fühlte sich provoziert, hunderte Polizisten rückten an. Es kam zu einem Feuergefecht, zwei Polizisten starben.

Als Folge dieses „Dramas von Aléria“ gründete sich 1976 die militante korsische Befreiungsbewegung FLNC, zu deren Mitgründern Battesti gehört. Nach fast dreijähriger Haft begnadigte ihn 1981 Präsident François Mitterand. Battesti entsagte dem bewaffneten Kampf: “Wenn man sich in einem System Gewalt befindet, kann man immer nur monströs sein. Und je politischer man ist, desto monströser ist man.” Diese Monströsität sah er als unvereinbar mit einer zivilen, demokratischen Entwicklung Korsikas.

Léo Battesti. | via Echecs & Stratégie

Battesti wurde Politiker, durchaus einer, der auf die Selbstbestimmung seiner Insel pocht, nicht aber auf die vollständige Unabhängigkeit der ärmsten Region Frankreichs mit ihrer von Rebellion gegen die Zentralmacht gezeichneten Geschichte. Von 1986 bis 92 war Battesti Abgeordneter im korsischen Parlament. Ihm ging zunehmend auf, dass dieses Spiel, das er 1978 im Gefängnis wiederentdeckt hatte, für seine Mitbürger von Wert sein sollte.

Die Korsen leben in einem über die Jahrhunderte etablierten, schwer aufzuweichenden System von Clans, deren Anführer die Dinge am liebsten unter sich regeln, ohne dass sich eine Autorität von außen einmischt. Schach mag ein Werkzeug sein, das hilft, dieses System aufzubrechen. Laut Battesti lehrt es „die Fähigkeit, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen“.

Als Battesti Ende der 90er-Jahre aus der Politik ausschied, erweckte er den korsischen Schachklub in Bastia neu, damals ein verrauchter Club alter Männer. 1998 entstanden die korsische Schachliga und das damit verbundene Schulprogramm. Den ersten Schachunterricht hielt Battesti in der „Toga-Schule“ ab – direkt gegenüber der Finanzbehörde, vor der 1978 sein mit Plastiksprengstoff beladener Renault 12 explodieren sollte.

Bekanntester aller Korsen: Napoleon Bonaparte.

An dieser Schule fiel vor zehn Jahren dem Schachlehrer Boris Brunel ein außergewöhnlicher Junge auf, einer, dessen Aufmerksamkeit nie ermüdete, der von Schach nicht genug bekommen konnte, der rasant besser wurde. Brunel machte den Verband auf dieses Ausnahmetalent aufmerksam. Seitdem ist der Name Marc-Andria Maurizzi im französischen Schach ein Begriff.

Battesti (69) hat die Präsidentschaft der korsischen Schachliga 2020 abgegeben. Sein Nachfolger Akkhavanh Vilaisarn hat Struktur und Lehrplan modernisiert, die Ausbildung von Lehrern und nicht zuletzt das Wachstum der Bewegung forciert. Es bleibt dabei, dass das Ziel der korsischen Schachrevolution nicht darin besteht, Eloriesen zu züchten.

Großmeister heranzüchten wollte er eh nie, die Schach-Präsidentschaft hat er längst niedergelegt, aber das hält Léo Batttesti nicht vom Jubel über den Erfolg seines jungen Landsmannes ab.

Wir wollen “auf unsere Weise zur Bildung der Bürger von morgen beitragen“, sagte Vilaisarn dem Guardian. „Ob die Kinder stark im Schach sind oder nicht, ist für uns zweitrangig. Es geht darum, Schach als eine Art Rückgrat zu benutzen, um den Kindern Respekt beizubringen: vor den Regeln und vor anderen.”

Battesti hat derweil eine neue Aufgabe gefunden. Er kämpft jetzt gegen die korsische Mafia.  

Einen Sonderstatus genießt Korsika längst. Womöglich wird der jetzt noch besonderer.

(Titelfoto: Lennart Ootes/FIDE)

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[…] bei 50 Prozent. Spektakulär die Partie von Matthias Blübaum gegen das Vorzeigeprodukt des korsischen Schachwunders, Juniorenweltmeister Marc Maurizzi. Leider ging die Partie der beiden Bundesligaspieler der SF […]