Europameisterschaft (5): Spitzenreiter!

Spitzenreiter! Nicht mehr geteilt, sondern richtig. Nach einem 3:1 über Armenien geht die Männer-Nationalmannschaft als alleiniger Tabellenführer mit nun 9:1 Punkten in den ersehnten Ruhetag. Die Frauen nutzten ihre Chance nicht. Sie handelten sich ein unnötiges 1,5:2,5 gegen Aserbaidschan ein. Mit 7:3 Punkten stehen sie auf dem fünften Rang.

Donnerstag ist spielfrei bei der Europameisterschaft. Am Freitag treffen die Männer auf die Rumänen, die womöglich mit dem ehemaligen deutschen Nationalspieler Liviu Dieter Nisipeanu antreten. Die Frauen treffen auf die Niederlande mit der Ausnahmebegabung Eline Roebers am ersten Brett.

Die Tabellenspitze im offenen Turnier. | via chess-results .com
Die Tabellenspitze bei den Frauen. | via chess-results .com

Die an dieser Stelle aufgeworfene Frage, welchem der fünf müden Krieger des Männerteams wann eine Ruhepause zusteht, regelt sich mittlerweile von allein. Dem Vernehmen nach ist im gesamten deutschen Team keine klare Trennlinie zwischen erschöpft und kränklich mehr auszumachen. Fit ist keiner, und aussetzen tut der, dem es am schlechtesten geht.

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Das war zuletzt der erkrankte Alexander Donchenko – ausgerechnet. Trotz 2,5/3 und 2820-Performance zum Auftakt pausierte Donchenko in der vierten und fünften Runde. Gegen die traditionell als Mannschaft besonders starken Armenier, Olympiazweiter von Chennai 2022, musste es der Deutschland-Vierer in der Besetzung richten, die gegen Polen erstmals einen Punkt abgegeben hatte.

Vincent Keymer ging es nicht schlecht genug, um an seinem Geburtstag auszusetzen. Er bekam die Gelegenheit, sich in einer kuriosen Konstellation ein neuerliches Geschenk zu machen. Vor exakt zwei Jahren zu seinem 17. Geburtstag bei der Europameisterschaft spielte Deutschland ebenfalls gegen Armenien, und Keymer bekam es ebenfalls mit Haik Martirosyan zu tun. Damals gewann er mit einem spektakulären Damenopfer. Nun saß ihm dieser Martirosyan zum 19. Geburtstag wieder gegenüber.

Geburtstagsbäckerei: Zwei Jahre später traf Vincent Keymer an seinem Geburtstag wieder auf Haik Martirosyan.

Am besten lief es anfangs bei dem, der dafür gar nicht zuständig ist. Ohne dass es ihm Bundestrainer Jan Gustafsson explizit erklärt hat, versteht der auch nach eigener Einschätzung sehr solide Rasmus Svane, warum er am zweiten Brett sitzt. Und er ist ja auch gewillt, Partien gegen starke Leute wegzuremisieren, betont aber, dass er durchaus beabsichtigt, die eine oder andere zu gewinnen.

Gabriel Sargissian erweckte den Eindruck, als unterstütze er dieses Anliegen. Dem Armenier ging ein Bauer über Bord, ohne dass ein Gegenwert dafür zu erkennen gewesen wäre. Bauer mehr – auf dem 2650-Level mag das schon reichen. Und so spielten die anderen drei früh mit einem potenziellen 1:0 am zweiten Brett im Rücken.

Auf das Ergebnis der Partie von Dmitrij Kollars hatte das wenig Einfluss. Der Sizilianisch-Experte, endlich mit Weiß, hatte beschlossen, Samvel Ter-Sahakyan einem Theorietest in der Bauernraub-Variante zu unterziehen. Schlechtestenfalls würde der Armenier bestehen, aber dann käme immer noch ein minimal besseres Endspiel für Weiß heraus. Genau das passierte. Kollars vermochte seinen symbolischen Endspielvorteil nicht in einen realen zu verwandeln – 0,5:0,5.

Da hatte sich der Blübaum-Express schon in Bewegung gesetzt, unmerklich anfangs, mit einem Manöver, auf das man erstmal kommen muss:

Wer würde in der obigen Diagrammstellung freiwillig Lockerungsübungen am Königsflügel veranstalten? Aber was Matthias Blübaum spielte, war fundamental gesund und konstruktiv. Der schwarze König ist sicher, und es geht darum, den weißen Königsflügel weiter aufzuweichen, gegebenenfalls mit der h-Linie zu arbeiten.

Matthias Blübaum geht bekanntlich extrem scharf mit Matthias Blübaum und dessen Schach ins Gericht. “Grässlich” oder “fürchterlich” findet er in aller Regel, was er gespielt hat. Bei der EM hat er nach seinem Sieg gegen Alexander Indjic in der dritten Runde einen neuen Begriff geprägt: “Lächerlich” fand er sein Schach an diesem Tag, speziell in der Eröffnung.

Leider hat der scheidende DSB-Öffentlichkeitsarbeiter Paul Meyer-Dunker den Spielerinnen und Spielern angesichts der allgemeinen Erschöpfung nach der fünften Runde das Frage-Antwort-Spiel erspart. Es wäre interessant zu hören gewesen, welche Adjektive Matthias Blübaum für seine erst strategisch-tiefe, dann taktisch-spektakuläre Demontage eines 2650-GM mit Schwarz gefunden hätte.

Im Video: Matthias Blübaums fantastische Partie aus dem Match gegen Armenien.

Nun war es an Vincent Keymer, sich ein Geburtstagsgeschenk zu machen, bevor ihn abends die Kolleginnen und Kollegen mit einem Kuchen überraschen sollten. Erst einmal servierte der 19-Jährige (sic) seinem Gegner im von Weißspielern gefürchteten Remisabspiel des Semi-Tarrasch die Neuerung 15…h5, wahrscheinlich in erster Linie eine Erinnerungs- denn eine Kreativleistung, …

…zeigt die Maschine 15…h5 doch als besten Zug an. Aber: Was ist mit 16.h4 nebst Le2? Fällt der h5 nicht einfach um? Gut möglich, dass aus diesem Grund zum Beispiel Schachfreund Wesley So an dieser Stelle zweimal 15…f5 gezogen hat.

Tatsächlich fällt der h5 um, aber Schwarz bekommt Kompensation. Während der weiße h-(Mehr-)Bauer nicht vorankam und die weißen Figuren keine wirksame Aufstellung fanden, entwickelte Schwarz prächtiges Figurenspiel, erst im Zentrum, dann gegen den weißen König. Kurz nach Blübaum hatte auch Keymer gewonnen: 2,5:0,5.

Und Rasmus Svane? Der hatte immer noch einen Bauern mehr und spielte immer noch gegen die hartnäckige Verteidigung des Armeniers, der im vergangenen Jahr im stolzen Alter von 38 seinen Elo-Peak von 2711 erreicht hatte. Svane knetete 91 Züge, es reichte nicht, und am Ende stand das Ergebnis, das an seinem Brett ohnehin eingeplant war. Der Mannschaft bescherte das den vierten Sieg im Turnier, mit 3:1 den höchsten bislang.

Der Deutschlandvierer: 3:1 gegen Armenien – Spitzenreiter! | Foto: Paul Meyer-Dunker

Das Match der Frauen gegen Aserbaidschan hatte sich Hanna-Marie Klek gewünscht, “und dann mal nicht 1,5:2,5 verlieren”. Angesichts des schlechten Scores gegen die Aseris würden alle deutschen Spielerinnen im Falle eines neuerlichen Aufeinandertreffens besonders motiviert sein, sagte sie nach der zweiten Runde auf DSB-YouTube.

Außerdem stand dem schlechten Score des Teams ein guter individueller gegenüber: Auf plus vier schätzte Elisabeth Pähtz ihre Bilanz gegen die aserische Spitzenfrau Gunay Mammadzada. Noch dazu ist die deutsche Mannschaft jetzt stärker als bei früheren Vergleichen, allein wegen der neuen Nummer 1b Dinara Wagner.

Und es ging ja auch an allen vier Brettern gut los. Elisabeth Pähtz stand etwas aktiver, Dinara Wagner erfreute sich der Perspektive, einen Isolani zu belagern, Josefine Heinemann neutralisierte mit zentralem Gegenspiel die Königsflügelavancen ihrer Gegnerin, und Hanna-Marie Klek hatte das, was Schachspieler:innen gemeinhin “Druck” nennen. Nichts Entscheidendes, aber alle Bretter sahen gut aus, auch die unteren beiden, an denen die Schachmeisterinnen aus Aserbaidschan nach Rating favorisiert waren.

Während Dinara Wagners Partie verflachte, sammelte Heinemann einen Bauern am Damenflügel ein. Nun musste sie nur noch am Königsflügel dichthalten und könnte dann ihr Freibauernduo laufen lassen. Stattdessen passierte dieses:

Das mit dem gefährlich aussehenden Tg3 verbundene Remisangebot war der beste weiße Zug der Partie. Es droht tödlich Df6. Aber nach 36…Kh8 wäre nichts los. 37.Dg4 kontert Schwarz mit 37…Dg5, und Weiß kommt nicht weiter.

Klek hatte sich diesen Elfmeter erarbeitet:

Das gespielte 30.Tf5? sah einladend-verlockend aus, aber der einzige Zug 30…Kg8 hält. Stattdessen 30.g4! schlägt entscheidend Kapital aus der Fesselung des Springers. 30…Txf2 31.Txf2 Dxd5 hilft nicht. 32.Tf5 nebst 33.gxh5 und Weiß sollte gewinnen.

Trotzdem blieb sie am Drücker, übersah aber im 40. Zug einen schwarzen Rettungsanker, als sie in ein günstiges Turmendspiel abwickeln wollte:

40.Dxd4 mit Mehrbauer plus besserer Stellung. In der Annahme, der d-Bauer laufe nicht weg, spielte Klek 40.Dxh7+? Kxh7 41.Sg5+ Kg6 42.Sxf7 Txf7 43.Te4. Leider läuft der d-Bauer doch weg: 43….d3! – und das Endspiel ist ausgeglichen.

Nun stand es 1,5:1,5, wo es 2,5:0,5 hätte stehen können. Am ersten Brett lief noch der letzte Akt des Dramas, der im 42. Zug begonnen hatte:

Der schwarze Vorteil war längst verflogen, eher stand mittlerweile Weiß dank des aktiveren Turms moderat besser. Nach 42…g6?! ging es für Schwarz bergab: 43:De3 Kg7 44.h4 – und der wünschenswerte Stopper 44…h5? liefe in 45.Txh5! +-.

Nach 71 Zügen gab sich Pähtz geschlagen.

“…und dann mal nicht 1,5:2,5 gegen Aserbaidschan verlieren”? Die Chance war da. Sie verstrich ungenutzt.

Die deutsche Mannschaft bleibt in Reichweite der Tabellenspitze – und hat jetzt einen Ruhetag, um den Nackenschlag gegen Aserbaidschan wegzustecken. | Foto: Paul Meyer-Dunker/DSB
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Kli
Kli
5 Monate zuvor

Hallo Zusammen!
Gibt es irgendwo im Netz eine alternative Live-Kommentierung der Team EM, Deutsch oder Englisch, oder steigt da noch jemand für die letzten Runden ein? Ich „fremdel“ immer noch mit der offiziellen Kommentierung auf YouTube, wenn ich die nebenbei mitlaufen lasse …
_ _ _
Um so größer ist mein Dank für die Berichterstattung hier und die gezielten Partie-Zusammenfassungen der „üblichen Verdächtigen“ auf YouTube!

Herb
Herb
5 Monate zuvor

Beeindruckende Partien von Blübaum, Keymer und auch Mammadzada – wie sie aus einer scheinbar harmlosen Initiative den vollen Punkt herausgeholt hat, ist lehrbuchreif.
Das Remis an Brett 3 der Damen hat mich geärgert. Klar, anders als wir Zuschauer wusste die Spielerin nicht sicher, dass ihre Stellung objektiv gewonnen ist, es sind alle drei Ergebnisse möglich und natürlich ist der Druck hoch. Aber wenn man so eine spannende Stellung nicht zu Ende spielen will, was für einen Sinn hat es dann überhaupt, Schach zu spielen?

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