960-WM: Reporterin umgeht Cheating-Kontrolle, Schiedsrichterin zeigt Flagge

Ein Match gegen Magnus Carlsen, schwierig genug. Matthias Blübaum wird heute gleich zwei solcher Matches bestreiten. Am zweiten Tag der Weltmeisterschaft im Schach 960 stehen für die Nummer zwei Deutschlands ab 17 Uhr das Match der dritten und der vierten von sechs Runden an, beide gegen den besten Schachspieler des Planeten.

Trotz Hypnoseversuchs bei der Auslosung: Matthias Blübaum hat bei der 960-WM bislang drei starke Partien gespielt – und eine verkorkste.

Zumindest eines dieser beiden Mini-Matches über zwei Partien wird Blübaum gewinnen müssen, soll der Traum vom Halbfinale heute nicht platzen. Seine Matches der ersten Runde gegen Hikaru Nakamura und Vladimir Fedoseev hat Blübaum jeweils 0,5:1,5 verloren. Gegen beide war mehr drin. Unabhängig von den Ergebnissen, hat Blübaum bei der 960-WM bislang drei starke Partien gespielt – und eine verkorkste, die erste gegen Fedoseev.

Blübaums unter Zeitdruck erfindungsreich geführte und dann doch verlorene Abwehrschlacht zum Auftakt gegen Hikaru Nakamura wird in Erinnerung bleiben. In der zweiten Partie (siehe Video) war der Europameister ganz nahe dran, das Match auszugleichen.

Am ersten Tag des Wettbewerbs zeichnete sich schon ab, dass Erfahrung mit 960 und Schacherfahrung generell kein Vorteil sein muss. Nodirbek Abdusattorov (18) glänzte mit 3,5 Punkten aus 4 Partien gegen Titelverteidiger Wesley So und den Weltranglistendritten Ian Nepomniachtchi.

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Weltmeister Magnus Carlsen dagegen, der zuvor verkündet hatte, er brauche ja nun einen neuen Titel, da er bald den alten abgibt, tat sich schwer. In der zweiten Matchpartie gegen Hikaru Nakamura stellte der Weltranglistenerste gar einen Turm ein, Resultat eines Fehlers, vor dem Spieler aller Klassen nicht gefeit sind: den zweiten Zug vor dem ersten ausführen.

Mancher Beobachter hatte schon in der ersten Partie gedacht, Carlsen habe etwas eingestellt – im ersten Zug!

1…g5!?: Hängt da nicht ein Läufer auf h8?

15 Minuten vor Partiebeginn bekommen die Spieler die Startposition präsentiert, Figur für Figur von links nach rechts.

Und so begann das Turnier mit allgemeinem Gelächter, denn die Stellung für die Auftaktmatches sah anfangs gar nicht „random“ aus: links außen ein Turm, dann ein Springer, dann ein Läufer. Aber dann gesellte sich auf der d-Linie der zweite Läufer dazu.

Als diese Grundreihe komplett war, zogen sich die Kontrahenten zurück, um über ihrer Eröffnungsstrategie zu brüten – ohne Engines, versteht sich, die sind verboten.

Das kam ihnen bekannt vor: Auf a ein Turm, auf b ein Springer, auf c ein Läufer… Die Präsentation der Stellung für die Auftaktmatches löste anfänglich Gelächter aus. | Foto: David Llada/FIDE

Die WM in Reykjavik soll an das WM-Match Fischer-Spassky vor gut 50 Jahren erinnern. Der Organisator von einst, Gudmundur G. Thorarinsson, 1972 Präsident des Isländischen Schachverbandes, führte 2022 den ersten Zug in der Partie Hjörvar Steinn Grétarsson-Wesley So aus.

Unzufriedenheit mit dem Sitzmöbel, eine schöne isländische WM-Tradition.

Gretarsson, krasser Außenseiter und einziger Nicht-Profi im Achterfeld, hatte als Lokalmatador einen Freiplatz bekommen.

Auf dem Brett sorgte er weniger für Aufmerksamkeit, stattdessen abseits davon. Als „dumm“ bezeichnete Rechtsanwalt Gretarsson gegenüber dem norwegischen Rundfunk die Klage von Hans Niemann gegen unter anderem Magnus Carlsen. Die Summe von 100 Millionen Dollar, die Niemann mindestens einfordert, ergebe keinen Sinn. Gretarsson erwartet das Verfahren mit Interesse. „Ich glaube nicht, dass Niemann gewinnen kann. Hoffentlich wird die Sache bald aufgelöst.“

Gretarsson hat in diesem Jahr in Reykjavik eine bemerkenswerte Partie gegen Niemann verloren, die laut norwegischem Rundfunk im Hans-Niemann-Report von chess.com aufgeführt wird (die Suche nach „Gretarsson“ in besagtem Report ergibt keinen Treffer, Anm. d. Red.). Dazu sagt der Isländer: “Ich hatte das gleiche Gefühl wie Carlsen. Ich dachte, er sei unkonzentriert, und er spielte schnell, als kompliziert wurde.“ Erst hinterher, als er sich die Partie genauer anschaute, sei ihm der Verdacht gekommen, es könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Aber diesen Vorwurf hat Gretarsson nicht erhoben. „Für einen Anwalt ist es nicht fair, jemanden ohne Beweise des Betruges zu beschuldigen.”

Hörvar Steinn Grétarsson hält nicht viel von der Klage von Hans Niemann, der im kommenden Monat für die USA bei der Team-Weltmeisterschaft in Israel spielen wird. | Foto: David Llada/FIDE

Vor dem Hintergrund der Cheatingdebatte gelten auch bei der 960-WM besondere Sicherheitsmaßnahmen. Die Liveübertragung etwa, auch im norwegischen Fernsehen, erfolgt verzögert. Dazu kommen Kontrollen, bevor die Spieler an die Bretter gelassen werden. Dazu kommt auch die Regel, dass die Spieler und ihre Helfer nur vor der ersten Partie eines Matches gemeinsam die Stellung analysieren dürfen, nicht vor der zweiten. „Ansonsten müssten wir die Sekundanten für die Dauer der ersten Partie unter Quarantäne stellen“, erklärte dazu auf Twitter WM-Pressechef und Großmeister Jonathan Tisdall.

Trotz alledem, die Kontrollen sind löchrig. Eine Reporterin des norwegischen Rundfunks testete, ob es ihr gelingen würde, potenzielle Betrugsutensilien in den Spielsaal zu schmuggeln. Sie trug einen Knopf im Ohr, der mit einem in der Kleidung versteckten Empfänger verbunden war, der wiederum mit einer Smartwatch in ihrem Gürtel kommunizierte. Wäre sie eine Spielerin gewesen, ein Komplize hätte per Anruf der Smartwatch Enginezüge durchgeben können.

Um von diesem ausgefuchsten Setup abzulenken, versuchte sie außerdem, ein Walke-Talkie, ein elektronisches Armband und eine Sonnenbrille mit integrierten Kopfhörern durch die Kontrolle zu bekommen. Sprechfunkgerät und Armband wurden entdeckt, Knopf im Ohr, Smartwatch und Empfangseinheit nicht. Auch die Sonnenbrille hätte die Reporterin hineinschmuggeln können.

Abseits der Bretter sorgte auch die Schiedsrichterin des Matches für Aufmerksamkeit, Shohreh Bayat, gebürtige Iranierin, die nach dem Frauen-WM-Match 2020 nicht in ihre Heimat zurückkehren mochte.

Im Iran kursierte ein Foto, das sie angeblich ohne Kopftuch zeigte, und die Folge waren Bedrohungen und die Furcht vor Repressalien, sollte sie heimkehren. Jetzt nutzt die seitdem in England lebende Schach-Schiedsrichterin das 960-WM-Match als Bühne für eine Botschaft in die Heimat.

Women, Life, Freedom“, der (ursprünglich kurdische) Slogan, unter dem die Frauen im Iran gegen das Ajatollah-Regime marschieren, prangt in den iranischen Nationalfarben auf dem Shirt, das Shohreh Bayat zur WM-Eröffnung trug. Unter den offiziellen Fotos vom Eröffnungstag finden sich nur solche, auf denen Bayat entweder im Hintergrund steht oder auf dem der Slogan auf ihrem Shirt verdeckt ist.

WM-Schiedsrichterin Shohreh Bayat. | Foto: David Llada/FIDE
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Thomas Richter
Thomas Richter
1 Jahr zuvor

Die Partie Niemann-Gretarsson wurde in dem hanebüchenen Video zu “100% Engine Korrelation” erwähnt. Für NRK eben egal, woher das stammt, Hauptsache Schmutzkampagne gegen Niemann.

Gretarsson sagte ihnen dann, was sie hören wollten. Interessant dabei: „Für einen Anwalt ist es nicht fair, jemanden ohne Beweise des Betruges zu beschuldigen.” Carlsen ist kein Anwalt, also ist es bei ihm in Ordnung?