September 1955. Das im schwedischen Göteborg ausgetragene Interzonenturnier, ein 21-rundiger Mammutwettbewerb, ist vorüber. Die vier argentinischen Teilnehmer Miguel Najdorf, Herman Pilnik, Carlos Guimard und Óscar Panno sind nach geschlagener Schlacht in der argentinischen Botschaft zum Essen eingeladen. Zwischen Najdorf und Pilnik entspannt sich ein verbales Scharmützel:
„Was ich mir nicht erklären und nicht verzeihen kann, ist, dass dieser Stümper (Original: „chambón“) sich qualifiziert hat und ich nicht. Wissen sie, Herr Botschafter, ich habe eine Bilanz von 18 zu 0 gegen ihn“, bricht es aus dem vor Wut geröteten Miguel Najdorf heraus. Was ist der Grund für seinen Groll?
Najdorf, seit vielen Jahren die Nummer eins seines Landes, ist in seinem Ego verletzt. Er beklagt sich, dass Pilnik sich im Interzonenturnier für das Kandidatenturnier qualifizierte, wohingegen er sich nach den beiden bisher von ihm erreichten Erstauflagen (Budapest 1950 und Zürich 1953) erstmals in seiner Karriere nicht für ein solches qualifiziert hat.
Pilnik kontert in sachlichem Ton, aber nicht ohne Ironie: „Nein Miguel, das ist ein Irrtum. Es steht 18 zu 2 für dich. Und für meine beiden Siege erhielt ich jeweils einen Schönheitspreis.“
Herman Pilnik hat es also in seinem zweiten Anlauf geschafft. Sein eher dürftiges Abschneiden bei seinem ersten Interzonenturnier in Saltsjöbaden/Stockholm 1952 haben wir im ersten Teil dieses Artikels betrachtet. Nun, drei Jahre später, wieder in Schweden, macht er es deutlich besser. Mit seinem achten Platz kommt er dem Traum von der Weltmeisterschaft zumindest einen Schritt näher als Najdorf. 9 der 21 Teilnehmer kommen weiter, sein großer Rivale landet „nur“ auf Platz 12 und ist somit raus.
Pilniks „Baby“ – die Göteborger Variante
Wer nun denkt, das „betriebsinterne“ Verhältnis zwischen Najdorf und Pilnik sei problembeladen, der führe sich die Entstehungsgeschichte der bei diesem Interzonenturnier geborenen und später berühmt gewordenen „Göteborger Variante“ der Sizilianischen Verteidigung vor Augen. Sind Pilnik und Najdorf auch sonst erbitterte Rivalen, im Kampf gegen die Sowjets unterstützen sie sich in Göteborg und arbeiten zusammen. Das kommt so:
In der 14. Runde (Spoiler: die keine gute für Argentinien werden sollte) führt die Auslosung die sowjetischen Spieler Efim Geller, Boris Spasski und Paul Keres mit den drei Argentiniern Óscar Panno, Herman Pilnik und Miguel Najdorf zusammen. Wie Andras Toth in seinem Youtube-Video „The fascinating story of the Gothenburg Variation“ berichtet, hat Herman Pilnik am zuvor spielfreien Tag die Idee, der Gegenseite eine gehörige Überraschung vorzusetzen. Er ist sogar bereit, „sein Baby“ mit den Landsleuten Najdorf und Panno zu teilen, sodass idealerweise jeder von der gemeinsamen Analyse profitiert.
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 (Die Geschehnisse spielen sich ausgerechnet in der „Najdorf“-Variante ab, deren Namensgeber hier ebenfalls in die „Göteborger“-Weiterentwicklung involviert war). 6.Lg5 e6 7.f4 Le7 8.Df3 h6
Kurz zuvor war an dieser Stelle der neue Zug 9.Lh4 eingeführt worden, der den Schwarzen Probleme bereitete. Pilniks für die damalige Zeit geniale Idee (gemäß Andras Toth) liegt nun darin, mit 9…g5!? zum Preis von (mindestens vorübergehend) einem Bauern zum einen die Fesselung des Königsspringers aufzuheben und außerdem des Feld e5 für die eigenen Figuren, idealerweise für einen Springer, freizulegen. Heute ein gängiges Verfahren in vielen Sizilianern, unter anderen in der Richter-Rauser-Variante (berühmtes Beispiel: Short-Kasparow, 2.WM-Partie 1993), damals zumindest in dieser konkreten Stellung neu.
Die Uraufführung von Pilniks den Sowjets gleich dreifach vorgesetzter Neuerung 9…g5!? missglückt. Alle drei argentinischen Spieler gehen in ihren Partien nach 10.fxg5 Sfd7 11.Sxe6 usw. unter. Wie wir bereits wissen, hat sich Pilnik trotz der Niederlage gegen Spasski in Runde 14 am Ende des Turniers auf Platz acht liegend fürs Kandidatenturnier qualifiziert – ebenso wie sein auf Platz drei ins Ziel kommender, heute 87-jähriger Landsmann Óscar Panno, von dem später noch die Rede sein wird.
Die Göteborger Variante erscheint darauf nicht mehr spielbar. Beim nächsten Interzonenturnier, in Portorož 1958, rehabilitiert sie jedoch der erst fünfzehnjährige Bobby Fischer in seiner Partie gegen Svetozar Gligorić.
Amsterdam 1956
Ob der 1981 gestorbene Herman Pilnik zeitlebens das Kandidatenturnier 1956 in Amsterdam als den Höhepunkt seiner Schachlaufbahn betrachtet hat? „Der 1914 in Stuttgart geborene Argentinier erweckt auf die hochmotivierte Konkurrenz den Eindruck, als verbringe er Zeit viel lieber mit Bridgespielen als am Schachbrett“, stand im ersten Teil dieser Reihe. De facto war es jedenfalls sein wichtigstes, hochrangigstes Einzelturnier. Wenigen erlesenen Topspielern ist es je vergönnt, bei einem Qualifikationsturnier zur Weltmeisterschaft dabei zu sein.
Andererseits hat Pilnik als Teamplayer, als Spieler der argentinischen Nationalmannschaft, wohl die größeren Glanzpunkte gesetzt. 1950 bis 1958 war er ohne Unterbrechung bei fünf Schacholympiaden dabei, erzielte in 59 Partien hervorragende 38,5 Punkte (+27, =23, -9), darunter Unentschieden gegen Wassili Smyslow, Efim Geller, Samuel Reshevsky, Arthur Bisguier, Wolfgang Unzicker und Svetozar Gligorić, wie diesem Artikel von Sergio Negri und Enrique Arguiñariz zu entnehmen ist.
Bei drei seiner vier Schacholympiaden erreicht Pilnik mit Argentinien den zweiten Platz. Bei seiner letzten Teilnahme in München 1958 (bei der Pilnik sogar am ersten Brett spielen darf), wird Argentinien Dritter – Pilniks „schlechteste“ Schacholympia-Platzierung. Immer stand er auf dem Olympiatreppchen. Er hatte wahrlich keine schlechte Nationalmannschaftskarriere. Im Jahr seiner letzten Schacholympiateilnahme (1958) wird Pilnik außerdem nochmals argentinischer Einzelmeister, zum dritten und letzten Mal.
Gemäß der Internetseite „Tartajubow on chess“ schreibt Ludek Pachmann in seinem auf Englisch unter dem Titel „Chess and Communism“ erschienenen Buch, dass Pilnik „sehr oft an romantischen Abenden mit schönen Frauen“ gesehen wurde. Weiter ist bei Tartajubow zu lesen: „Pilnik war ein Romantiker in allen Lebensbereichen, optimistisch, ein sehr guter Gesprächspartner, und im Schach besaß er einen energischen Angriffsstil, galt aber gleichzeitig als Spieler der klassischen Schule.”
Pilniks Nationalmannschaftskollege Óscar Panno (*1935) hat ihn als einen „Bohemien“ beschrieben, dessen Großmeistertitel nicht als Resultat gründlichen Schach-Studiums zustande gekommen sei, sondern eher Frucht seines bemerkenswerten Talents, insbesondere für taktisches Spiel, gewesen sei.
Negi und Arguiñariz schreiben außerdem, Pilnik sei einer der wenigen Profis gewesen, die das argentinische Schach in jenen Jahren hatte (neben Najdorf und dem gebürtigen Österreicher Erich Eliskases), da er seinen Lebensunterhalt ausschließlich durch Teilnahmen an Meisterturnieren auf verschiedene Erdteilen bestritt, wobei er sich zusätzlich durch Erfolge beim Pokern behalf.
Pilnik habe sich wenig Gedanken über das Anhäufen materieller Besitztümer gemacht (siehe hierzu auch die Eva-Peron-Anekdote aus Teil 1 der Pilnik-Reihe, Anm. d. Autors) und habe stets nur nach dem Nötigsten gestrebt, um von Tag zu Tag über die Runden zu kommen. „Pilniks Leidenschaft waren Schach, Poker und Frauen“, heißt es.
1959 übersiedelt Herman Pilnik von Argentinien nach Chile. Zehn Jahre später kehrt er zurück, bevor er 1970 ein letztes Mal den Landessitz wechselt und sich in Venezuela niederlässt. In der dortigen Militärschule in Caracas unterrichtet Pilnik Schach. Internationalen Schachauftritte werden rar. „Er nahm an drei nationalen chilenischen Meisterschaften teil und gewann seltsamerweise keine einzige, obwohl er nach einhelliger Meinung der stärkste einheimische Schachspieler des Landes war“, heißt es bei Zenon Franco.
Herman Pilnik stirbt in Caracas am 12. November 1981. In seinen 67 Jahren lebte der Weltenbummler in vier Ländern auf zwei Kontinenten.
Schließen wollen wir mit einem weiteren Aufeinandertreffen am Schachbrett unserer Hauptperson mit seinem großen Rivalen „Don Miguel“ (Najdorf). Wie wir bereits erfahren haben, war seine Gesamtbilanz gegen diesen zeitlebens keine gute. 1973, im Spätherbst beider Karrieren, trafen sie in Buenos Aires aufeinander. Noch einmal sollte sich der von seinem Gegner zu Beginn dieses Artikels als „Stümper“ titulierte Außenseiter Pilnik durchsetzen.
Die Begleitgeschichte zur Partie entnehmen wir diesem (hier „frei“ übersetzten) Artikel von Zenón Franco:
Pilnik wollte gegen seinen großen Rivalen etwas anderes spielen als die üblichen klassischen Verteidigungen oder Königsindisch, worin er seine Vorbereitung gegenüber der von Najdorf unterlegen wähnte, „denn natürlich hatte er bei Abenden mit schönen Frauen” die Schachtheorie nicht richtig studiert. Doch wie sollte er sich in so kurzer Zeit eine neue Verteidigung draufschaffen? Am Tag zuvor schlug ihm ein ihn bewundernder Amateur vor, es doch mal mit der moderen Benoni-Verteidigung zu versuchen. Bobby Fischer hatte diese ein Jahr zuvor im WM-Kampf gegen Boris Spasski wiederbelebt. Pilniks theoriekundiger Fan begann, seinem Idol eine Benoni-Variante nach der anderen zu zeigen. Obwohl Pilnik sich zunächst außerstande sah, das Gezeigte aufs Brett zu bringen, beschloss er, es trotzdem zu tun und …. sehen wir, was passierte:
Vielen Dank an Dieter Migl, der auch bereits im zweiten Teil dieser Reihe beteiligt war, für die Anlayse.
Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de
[…] at the Chess Olympiad in Manila 1992) Photo 7: Herman Pilnik (Perlen vom Bodensee, read more: Herman Pilnik: WM-Kandidat, Weltenbummler, Lebemann | Perlen vom Bodensee, and: Der Stuttgarter WM-Kandidat | Perlen vom Bodensee, in German) […]