Zürich 1953 – eine Spurensuche

Mit Jochen Jansen begrüßen wir heute den zweiten Nationaltrainer in der wachsenden Riege der Gastautoren für diese Seite. Nachdem uns unlängst Jonathan Carlstedt, Ex-Coach der deutschen Frauen-Nationalmannschaft, eine exklusive Englisch-Lektion erteilt hat, fahren wir heute mit Jochen Jansen nach Zürich, um eine historische Lektion erteilt zu bekommen.

Geller gegen Euwe bei einer Tasse Tee: So verbringt Jochen Jansen seine Nachmittage.
Geller gegen Euwe bei einer Tasse Tee, begleitet von David Bronstein. So sieht es am Wochenende bei Jochen Jansen daheim aus.

Jochen Jansen ist Bondscoach der niederländischen Faustball-Nationalmannschaft, die Anfang August an der Weltmeisterschaft in der Schweiz teilgenommen hat. Außerdem ist Jochen Jansen ein Freund des Schachs, interessiert an Kultur und Geschichte des Spiels gleichermaßen. Weil Jansen immer wieder bei einer Tasse Tee in David Bronsteins legendärem Turnierbuch blättert (und das auf Twitter zu dokumentieren pflegt), ist ihm das Kandidatenturnier Zürich 1953 präsenter als manch anderes Schachereignis.

Als die WM 2019 in der Schweiz bevorstand, war klar, dass er dort auch dem Schach von 1953 nachspüren würde. Um vorbereitet zu sein, ging Jochen Jansen schon vorher auf Spurensuche. Wo genau dieses sagenhafte Turnier stattfand, war nämlich gar nicht so leicht herauszubekommen. Aber das (und viel mehr) lassen wir Schachfreund Jansen selbst erzählen.

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WM in der Schweiz, 1:4 gegen Belgien, oje. Bondscoach Jochen Jansen dirigiert seine Leute, um das Spiel zu retten.


Wie Max Euwes Buch zum Kandidatenturnier 1953 an die Stätten seines Entstehens zurückkehrte.

Von Jochen Jansen (Text und Fotos)

Aus Anlass der Faustball-Weltmeisterschaft 2019 reiste ich im August dieses Jahres in meiner Funktion als niederländischer Bundestrainer in das schweizerische Winterthur bei Zürich. Zürich – da klingelt etwas im Kopf eines jeden Schachfreunds: Das Kandidatenturnier von 1953 ist legendär, nicht zuletzt dank David Bronsteins Buch “Sternstunden des Schachs: Zürich 1953”, das längst ein Klassiker der Schachliteratur ist und wohl in den Regalen unzähliger Spieler und Fans steht. Natürlich auch in meinem.

Nicht viele Bücher werden auf dieser Seite als “Pflichtlektüre für Schachspieler” bezeichnet. Dieses schon.

Grund genug also, sich noch einmal etwas näher mit diesem Turnier zu beschäftigen, und so wuchs nach und nach in mir der Plan, am Rande der WM einmal die Spielstätte dieses berühmten Schachturniers aufzusuchen. Blieb nur, die Antwort auf eine nicht ganz unwesentliche Frage zu klären: Wo genau fand das Ganze denn eigentlich statt? Zürich ist groß, und Bronstein schweigt sich zu diesem Thema beharrlich aus.

Zürich ist groß, das Internet größer

Erster Anlaufpunkt für Internetrecherchen aller Art ist und bleibt Wikipedia. Siehe da, es gibt ein Lemma, und dazu noch eine Überraschung: Das Turnier fand nicht nur in Zürich, sondern auch in Neuhausen statt.

Neuhausen? Nie gehört …. ach, Neuhausen am Rheinfall! Ein Blick auf die Karte offenbarte, dass mein Reiseziel Winterthur ungefähr in der Mitte zwischen Zürich und Neuhausen liegt, und dass die S12 der SBB alle drei Orte verbindet. Prima, ich werde definitiv die Spielorte aufsuchen! Allerdings war da immer noch ein Detail zu klären: Wo genau haben die legendären Großmeister gespielt?

Ich twitterte unter dem Hashtag #followerpower und fragte in die Runde, ob jemand wüsste, wo genau dieses Turnier stattfand. Conrad Schormann, Betreiber des besten deutschsprachigen Schachblogs “Perlen vom Bodensee” machte einen Retweet an seine Followerschaft, was die Reichweite meiner Frage enorm steigerte. Nach knapp anderthalb Stunden war die Antwort der Deutschen Schachjugend da (ja, die wissen, im Gegensatz zur Altherrenriege, wie man mit Medien arbeitet):

Ein Tweet der Schachjugend führte Jochen Jansen auf die Spur nach Neuhausen.

“Anfang im „Kirchengemeindehaus Neuhausen“- Ab Runde 8 dann Wechsel in den „Kammermusiksaal des Deutschen Kongresshauses“ in Zürich.” Na, bitte! Nun galt es nur noch, die Orte auf der Karte zu finden, was sich für das Kongresshaus Zürich einfach gestaltete: Es liegt direkt am Zürichsee zwischen der Claridenstraße und der Beethovenstraße und beherbergt unter anderem die Neue Tonhalle Zürich. Es gibt sogar einen eigenen Artikel in der Wikipedia zu “Kongresshaus Zürich”.

Mittlerer Begräbniskaffee

Alles klar soweit, aber: Kirchengemeindehaus Neuhausen? Ernsthaft?? Neben dem mondänen Prachtbau in Zürichs allererster Lage sollen die ersten acht Runden dieses bedeutenden Turniers in einem Gemeindesaal stattgefunden haben, der ansonsten im besten Fall für einen mittleren Begräbniskaffee taugt? Das kann doch nicht sein. Eine weitere und zugleich plausiblere Antwort kam am folgenden Tag vom bekannten Schachjournalisten Johannes Fischer:

Johannes Fischer hat natürlich Alexander Münninghoffs Euwe-Biographie im Schrank stehen.

So! Das Bellevue! Das klingt nach einem Ort, an dem etwas so Bedeutendes stattfindet. Und nicht Kirchengemeindesaal … Es muss das Bellevue sein, und da will ich hin!  Ein kurze Recherche im Netz förderte aber einen älteren Artikel der NZZ zutage, im dem vom Abriss des altehrwürdigen Grandhotel Bellevue zu Neuhausen berichtet wurde. So ein Pech!

“Vergesst Bronstein!”

Durch den Tweet Johannes Fischers angeregt, suchte ich im Antiquariat nach “Euwe” und “Zürich 1953” und fand eine absolute Perle der Schachliteratur: Das, Verzeihung: DAS Turnierbuch zu 1953 von Max Euwe “Schachelite im Kampf/Weltmeisterschafts-Kandidatenturnier 1953 in Neuhausen und Zürich”. Das Buch wurde sofort zu einem meiner absoluten Lieblingsbücher!

Wer ein eher enzyklopädisches Werk über Zürich 1953 sucht, der ist tatsächlich bei Euwe besser aufgehoben als bei Bronstein.

Euwe trägt in seinem Turnierbuch wirklich ALLES zusammen, was es zu diesem Turnier an Fakten gibt. Neben allen Partien (kommentiert!), Tabellen mit allen möglichen Statistiken zum Spielverlauf, einem Index aller gespielten Eröffnungen und einem eröffnungstheoretischen Teil von Paul Keres(!) sind dies vor allem: Die Vorgeschichte, die Organisation des Turniers, alle Teilnehmer im Porträt, ein Verzeichnis aller an der Planung und Durchführung des Turnier Beteiligten, ja selbst ein Verzeichnis der Sponsoren, und schließlich Fotos! Und das sind nicht nur die Bilder zu den Porträts der Teilnehmer, sondern auch Fotos vom Rahmenprogramm (wie etwa von Ausflügen der Spieler), und eben auch Fotos von den Spielstätten: Dem Kongresshaus Zürich und tatsächlich dem Kirchengemeindehaus Neuhausen! Meine Begeisterung für diese tolle Buch kennt bis heute keine Grenzen; kein Wunder also, dass ich meine Freude in die Welt hinaus twitterte!

“DEUS LO VULT”

Reisegepäck des niederländischen Faustball-Nationaltrainers: das Zürich-Turnierbuch des niederländischen Schach-Weltmeisters.

Im Buch von Weltmeister Euwe fanden sich dann auch immer mehr Gemeinsamkeiten mit meiner anstehenden Reise nach Winterthur. Diese Gemeinsamkeiten beginnen schon mit der Tatsache, dass ich als niederländischer Bondscoach ausgerechnet im Buch des niederländischen Weltmeisters fündig wurde. Weiter konnte ich dem Buch entnehmen, dass die Entscheidung, das Kandidatenturnier 1953 in die Schweiz zu holen, auf dem FIDE-Kongress im Vorjahr fiel – in Winterthur! Als ich dann noch las, dass das Buch bei der Druckerei Ziegler in Winterthur gedruckt wurde, war endgültig klar: Ich werde definitiv die Spielstätten aufsuchen, komme das was wolle, und dieses herrliche Buch wird mich begleiten! Also wurde flugs der Aufenthalt in der Schweiz um einen Tag verlängert, denn der volle Terminkalender der Faustball-WM würde mir keine Gelegenheit bieten, die Orte des Kandidatenturniers von 1953 zu besuchen. Zum Reiseschach im Koffer gesellte sich nun noch Euwes Turnierbuch, und ich bestieg am Morgen des 9. August den Eurocity 9 von Düsseldorf nach Zürich.

Freiluftschach in der Winterthurer Altstadt.

Wie erwartet bot die WM-Woche nur sehr wenig Zeit und Gelegenheit für Schachliches. Zudem ließen sich in Winterthur keine historischen Plätze sicher lokalisieren. Die Druckerei des Turnierbuches liegt heute in einem modernen Industriebau im Gewerbegebiet, und zum Ort des FIDE-Kongresses konnte ich bis dato keinen genauen Ort identifizieren. Einheimische waren der Ansicht, dass solche Veranstaltungen damals gerne im Casino stattfanden (heute ein Theater). Auf meinem Bummel durch die schöne Altstadt von Winterthur entdeckte ich immerhin ein Freiluftschach, an dem ich dann auch eine kleine Partie spielen konnte.

Später dann bot ein Sponsorentermin eine einzigartige Möglichkeit: Einmal Schach auf hohem Niveau – auch wenn dieses Niveau nicht bei über 2.500 Elo, sondern stattdessen auf über 2.500 Meter lag. Eine Partie im Freien über den Wolken, das erlebt man nicht alle Tage! Die Winterthurer ROBAUEN GmbH hatte unsere Mannschaft auf den Gipfel des Säntis, des höchsten Berges im Alpstein, geladen. Nationalspieler Niek van Maurik ist ebenfalls ein begeisterter Schachamateur, und so nahmen wir mein Reiseschach mit auf den Berg. Natürlich kam Holländisch aufs Brett:

Schach auf dem Gipfel des Säntis: Nationalspieler Niek van Maurik (rechts) konfrontiert Bondscoach Jochen Jansen mit, natürlich, Holländisch.

Mehr Schach war aber beim besten Willen am Rande einer WM-Teilnahme nicht drin. Abends war man selbst für eine kleine Partie gegen den Computer zu müde. Gut, dass ich einen Extra-Tag gebucht hatte: Der Sonntag nach der WM war einzig und allein für die Spurensuche des Kandidatenturniers von 1953 in Neuhausen und Zürich reserviert!

Wird fortgesetzt…

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Marek
Marek
4 Jahre zuvor

Ein wunderbarer Bericht und vielen Dank fürs Teilen der Erlebnisse.

Viele Grüße
Marek

johannes
johannes
4 Jahre zuvor

Das ist aber spannend: wann kommt denn Teil 2?

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[…] wollte er dem legendären Kandidatenturnier von 1953 nachspüren, eine schachliche Spurensuche, deren ersten Teil wir unlängst veröffentlicht haben, niedergeschrieben von Jansen höchstselbst, dem neuesten […]

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[…] des Kandidatenturniers 1953 via WikipediaZürich 1953 – eine SpurensucheAls sich Perlen-Autor Jochen Jansen in Zürich auf die Suche nach Spuren des legendären […]

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[…] wohingegen er sich nach den beiden bisher von ihm erreichten Erstauflagen (Budapest 1950 und Zürich 1953) erstmals in seiner Karriere nicht für ein solches qualifiziert […]