Madame de Silans und die Tal-Besieger

Drittes Oktoberwochenende 1958. Am Tag, nachdem sie mit der Sowjetunion bei der Schacholympiade in München Gold gewonnen haben, sind Michail Tal und David Bronstein in Stuttgart zu Gast. Als „zwei liebenswürdige Menschen“ bezeichnet sie die Stuttgarter Zeitung, deren Verlagsgebäude sie besichtigen und anschließend an zwei Abenden in der Stadt gegen insgesamt 177 Gegner Simultanvorstellungen geben. Unter Tals Gegnern: zwei Brüder, für die jeweils ein Höhepunkt ihrer noch jungen Schachlaufbahn ansteht. Am Freitag besiegt der 17-jährige Wolfgang Schmid den „Magier aus Riga“, einen Tag danach tut es ihm sein 19-jähriger Bruder Hartmut Schmid gleich.

Besuch bei der Stuttgarter Zeitung: “Tal und Bronstein meiden Alkohol und Nikotin, sie nippten nur höflichkeitshalber.”

Vier Jahre vor ihrem Doppelsieg über Tal hatten die beiden Sprösslinge einer schachbegeisterten Stuttgarter Familie noch bewundernd zugeschaut, wie ihr Vater und ihr Onkel sich beim Jubiläumsturnier des SV Stuttgart 1879 mit Spitzenspielern wie Herman Pilnik und Albéric Ecuyer O’Kelly de Galway duellierten.

Sie träumten davon, sich einst selbst mit der Weltklasse zu messen. Nun haben sie den angehenden Weltmeister Michail Tal zum Aufgeben gezwungen. Beide. Und das auch noch am selben Wochenende.

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Der im September 80 Jahre gewordene Wolfgang Schmid ist langjähriges aktives Mitglied und, wie sein Bruder Hartmut, inzwischen Ehrenmitglied bei den Stuttgarter Schachfreunden 1879 e.V., dem Verein, der 1971 aus einer Verschmelzung der Stuttgarter Schachfreunde 1907 und dem SV Stuttgart 1879 hervorging.

Die Tal-Besieger Hartmut und Wolfgang Schmid bei der Baden-Württembergischen Familienmeisterschaft am 14. September 2014. | via Stuttgarter Schachfreunde

Der SV Stuttgart 1879 fährt 1954 zum Jubiläumsturnier anlässlich seines 75-jährigen Bestehens ein Teilnehmerfeld auf, wie es die baden-württembergische Landeshauptstadt bis dato nicht gesehen hat. Auch der im April 1930 mit seinen Eltern nach Argentinien ausgewanderte Pilnik wird eingeladen.

Pilnik hat uns im ersten Teil dieser Reihe über die württembergischen Anfänge seiner Schachlaufbahn in den späten 20er-Jahren aufgeklärt:

„Ich komme wieder“ waren die Schlussworte Pilniks in jenem Artikel, zitiert aus der Deutschen Schachrundschau Caissa, nachdem er 1952 die Qualifikation fürs Kandidatenturnier verpasst hatte.

1954 sollte Pilnik einer der internationalen Spitzenspieler sein, die sich vor den Augen der Schmid-Brüder in Stuttgart im alten Landtag an der Heusteigstraße miteinander maßen. „Das Turnier war für damalige Verhältnisse hochkarätig besetzt. Neben Pilnik spielte unter anderem der spätere Fernschachweltmeister Albéric Ecuyer O’Kelly de Galway aus Belgien und die Französin Chantal Chaudé de Silans, damals eine der besten Spielerinnen der Welt“, sagt Wolfgang Schmid. „Zusammen mit meinem Bruder bin ich jeden Tag zum Turnier gepilgert.“ Die Brüder drückten ihrem Vater Alfons Schmid und ihrem ebenfalls teilnehmenden Onkel Hans Schmid die Daumen. „Wir haben mit großen Augen gekiebitzt. Solche Turniere gab es sonst nicht zu jener Zeit.“

Nicht Pilnik oder O’Kelly, sondern Chantal Chaudé de Silans sei der eigentliche Star dieser Veranstaltung gewesen. „Sie brachte einen Farbtupfer ins Turnier. Der damalige Vereinsvorsitzende Walter Kitt hat es verstanden, sie schön ins Bild zu setzen und ihr auch ein paar Wünsche zu erfüllen“, erinnert sich Wolfgang Schmid.

Die heute nicht mehr so bekannte Chantal Chaudé de Silans (1919-2001) hatte damals einen Namen in der Schachwelt. Bei der Schacholympiade 1950 in Dubrovnik hat sie beispielsweise an der Seite von Savielly Tartakower und Nicolas Rossolimo für die französische Nationalmannschaft in der offenen Klasse gespielt, als „erste Frau, die je in einer (Männer-) Nationalmannschaft an einer Schacholympiade teilnahm“, wie wir aus dem Chessbase-Artikel „Chantal Chaudé de Silans zum 100. Geburtstag“ über die Schachmeisterin und Mutter von vier Kindern erfahren. Auch Wolfgang Schmid, unterstützt vom Vereinsvorsitzenden Claus Seyfried, hat 2019 für die Stuttgarter Schachfreunde über Chantal Chaudé de Silans geschrieben: „Stuttgart 1879 und Madame Chaudé de Silans“.

Sportlich lief es für die Französin nicht überragend. Theo Schuster schrieb in der Stuttgarter Zeitung: „Die französische Meisterin Madame Chaudé de Silans erkrankte während des Turniers und fand in Stuttgart nicht ihre volle Spielstärke. Die Pariserin durfte sich trotzdem der herzlichen Sympathien von Spielern und Zuschauern erfreuen.“

Gottlieb Machate.

In einer der dramatischsten Partien des Turniers gewann sie trotz gesundheitlicher Einschränkung gegen Theo Schuster (achtmaliger württembergischer Meister). Beim Festbankett zum Turnierende bedachte sie das Publikum mit anhaltendem Beifall. Als Andenken gaben ihr die „galanten Stuttgarter einen süßen kleinen Langhaardackel mit nach Paris“, heißt es bei Schuster.

Der selbst mitspielende Schuster hatte vor dem Turnier seine Beziehungen spielen lassen, um ein möglichst attraktives Feld zusammenzustellen. Neben den bereits genannten internationalen großen Namen waren starke einheimische Spieler am Start, darunter Gottlieb Machate. Der in Breslau geborene Machate gewann einmal die württembergische Meisterschaft und wurde außerdem 1947 und 1948 Dritter bei der Gesamtdeutschen Meisterschaft.

Aus seinem privaten Fotoalbum steuert Wolfgang Schmid für diesen Artikel ein Foto vom Turnier 1954 bei, auf dem die am Turnier teilnehmenden Pilnik, O’Kelly, Schuster mit Madame de Silans bei der Abschlussveranstaltung zu sehen sind. Außerdem hat Wolfgang Schmid noch das Partieformular seines Vaters von dessen 21-zügiger Niederlage gegen Pilnik aufbewahrt – ein Scheveninger Sizilianer, gespielt am 29. November 1954 und mit der Unterschrift des Argentiniers versehen. „Leider hat mein Vater mit 13…Lh5? und vor allem 15…g5?? zwei schlechte Züge gemacht.“

Herman Pilnik, Theo Schuster, Albéric Ecuyer O’Kelly de Galway und Chantal Chaudé de Silans.

Der damals 19-jährige Stuttgarter Lokalmatador Eberhard Herter brachte denspäteren Turniersieger Herman Pilnik an den Rand einer Niederlage. „Pilnik hat gegen Herter um sein Leben kämpfen müssen. Der erste Teil der Partie war prima, Eberhard stand lange sehr gut bis besser. An einer Stelle hätte er sogar direkt gewinnen können“, sagt Herters späterer Mannschaftskollege Dieter Migl, der die spannende Partie für diesen Beitrag analysiert hat (vielen Dank!).

Über sein Abschneiden schreibt Eberhard Herter in seinem Buch „Schach in Württemberg“ selbstkritisch: „Mein größter Misserfolg war das Jubiläumsturnier des SV Stuttgart 1879 im Jahre 1954, wo ich gegen Pilnik, Lutz, Machate und Wolk vier Punkte verpatzte und damit statt dem dritten Platz nach Pilnik und O’Kelly den dritten Platz von hinten erreichte. So etwas darf einem Meister nicht passieren.“

Eberhard Herter ist von uns gegangen
Eberhard Herter. | via Stuttgarter Schachfreunde

Dennoch nahm Herter sich und sein Turnierresultat anscheinend nicht allzu ernst, wie seine abschließende Bemerkung zum Turnier zeigt: „Ganz besonders enttäuscht waren natürlich die Zuschauer, die an ein besonderes Talent geglaubt hatten, wie etwa jener Bauer von den Fildern, der während meiner Partie gegen Pilnik in die Stille des Turniersaals hinein seinem Sohn lautstark erklärte: „Guck, Bua, do hockt dr Herter, der hot an richtiga Schachkopf!“ Er wusste noch nicht, dass es ‚richtiga Schwachkopf` hätte heißen müssen.“

Nur zu gerne hätten wir diesen Beitrag mit Erinnerungen von Eberhard Herter (1935-2021) garniert. Der zuletzt im Schwarzwald lebende Herter wollte sich mit dem Schreiber dieser Zeilen treffen und aus seinem reichen Schachleben erzählen.

Sätze in seinem Buch „Schach in Württemberg“ wie „Als ich dem Großmeister Efim Bogoljubow beim „Schachwelt“-Turnier 1947 die vom Organisator Edmund Wolf mühsam besorgten Schwarzmarkt-Zigarren überbringen durfte, stand ich zum ersten Mal einem früheren Weltklassespieler gegenüber…“ verhießen interessante Anekdoten. Leider kam das infolge Corona mehrmals verschobene und dann für September 2021 avisierte Treffen nicht mehr zustande. Eberhard Herter starb am 25. Juli 2021.

Theo Schusters Fazit vom Kampf um den Turniergewinn: „Der Sieg von Großmeister Pilnik war sehr sicher, auch wenn der Abstand zu seinem belgischen Kollegen nur einen halben Punkt beträgt. O’Kelly fiel durch seine Startniederlage zurück, gab aber dann nur noch zwei Unentschieden ab, während Pilnik ungeschlagen das Turnier beendetet.“

Eine besondere Erinnerung oder eine mit Pilnik verbundene Episode kann unser Zeitzeuge Wolfgang Schmid nicht erzählen. „Ich hätte mir damals nicht mal vorstellen können, Pilnik überhaupt anzusprechen. Ich habe allenfalls noch bruchstückhafte Erinnerungen, alle aus der Distanz heraus. Dieses Turnier war für mich eine andere Welt. Zuschauen zu können, hat mich schon ein Stück weit inspiriert, schachlich voranzukommen, nach dem Motto „da will ich auch mal hin“ sozusagen. Das hat leider nicht geklappt.“

„Aus Hartmut Schmids Fotoalbum. Eine fröhliche Runde genießt das Festbankett zum Abschluss des Turniers. Links erkennt man Mme. Chaudé. Rechts daneben mit erhobenem Glas Kitt. Verdeckt vermutlich Pilnik. Bestens erkennbar Schuster, dann weiter Osswald, Hans Schmid, Alfons Schmid, Oette, Herter, Wolk, Machate.“ | via Stuttgarter Schachfreunde

„Leider nicht geklappt“ – so ganz stimmt das nicht: Wolfgang Schmid und sein Bruder Hartmut wurden wie zuvor auch schon ihr Vater Alfons und ihr Onkel Hans württembergische Spitzenspieler und jeder jeweils zweimal Württembergischer Meister: Hartmut Schmid 1962 und 1966, Wolfgang Schmid 1968 und 1970.

Dazu das eingangs erwähnte Glanzstück, jeweils ein Sieg über Michail Tal, erzielt am selben Wochenende. Wolfgang Schmid: „Diese Partien gehören zu den vielen gemeinsamen schönen Schacherinnerungen. Wann gelang es schon einem Brüderpaar, den (kommenden) Weltmeister an einem Wochenende gleich zweimal zu besiegen?“ Den Schachbrüdern aus Stuttgart gelang es am 24. und 25. Oktober 1958.

„Die Partie hatte kein besonders hohes Niveau, da ich bereits sehr früh einen Fehler gemacht habe“, sagt Wolfgang Schmidt über seinen Sieg. „Vielleicht hat Tal mich daraufhin etwas unterschätzt? Glücklicherweise kam ich dann immer besser in die Partie.“

Wie Wolfgang Schmid Michail Tal besiegte.

Da es sich „nur“ um Simultanvorstellungen gehandelt habe, sei um die beiden Partien seinerzeit nicht allzu viel Aufhebens gemacht worden. „Das besondere war eher, dass einem Brüderpaar an einem Wochenende zwei Siege gelangen.“

„Schachlich war ich damals schon relativ gut unterwegs“, sagt Wolfgang Schmid. 1959 und 1960 gewann er die Württembergische Jugendmeisterschaft. Bei der Deutschen Jugendmeisterschaft 1959, ein Rundenturnier mit 16 Teilnehmern, wurde Schmid zusammen mit Helmut Pfleger geteilter Zweiter. „Nachdem ich eine Runde vor Schluss sogar auf dem geteilten ersten Platz gelegen hatte“, betont Schmid. „Diese Ergebnisse waren für mich sicher wichtiger als ein Sieg im Simultan, obwohl das natürlich auch sehr schön war.“

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Ingo Althöfer
Ingo Althöfer
2 Jahre zuvor

Ein sehr schöner Artikel, danke. Bitte die beiden Simultansiege zeigen!
Ingo Althöfer.

Manfred Kern
Manfred Kern
2 Jahre zuvor

Ein sehr schöner und interessanter Artikel. Besonders für mich, weil ich um 1970 selbst in Stuttgart Schach gespielt habe, auch gegen die Schmid-Brüder und Meister Machate (gegen die ich verloren habe). Auch Schuster, Herter, A.Schmid und Oette kannte ich persönlich. Ich habe schöne Erinnerungen an diese Zeit und erfuhr hier viele Dinge, die ich bisher nicht wußte.

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