Der Stuttgarter WM-Kandidat

Glanzvolle Namen prägen das Kandidatenturnier 1956 in Amsterdam. Wassili Smyslow, Tigran Petrosjan, Boris Spasski, Paul Keres, David Bronstein, Efim Geller kämpfen um die Chance ihres Lebens, ein Match gegen Weltmeister Michail Botwinik. Nur WM-Kandidat Herman Pilnik scheint nicht recht bei der Sache zu sein. Der 1914 in Stuttgart geborene Argentinier erweckt auf die hochmotivierte Konkurrenz den Eindruck, als verbringe er seine Zeit viel lieber mit Bridgespielen als am Schachbrett.

via Wikipedia

Kandidatenturniersieger sowie ein Jahr später neuer Weltmeister, der siebte der Schachgeschichte, wird Wassili Smylow. Pilnik landet in Amsterdam mit 5 Punkten aus 18 Runden abgeschlagen auf dem 10. und letzten Platz. Den Ausgang des Wettbewerbs beeinflusst er trotzdem.

Mit seinem einzigen Sieg ruiniert Pilnik die Chance des zu diesem Zeitpunkt hervorragend im Rennen liegenden László Szabó auf ein WM-Duell, wie der Ungar später in seiner Autobiografie beklagen wird. Szabó, Perlen-Lesern als Teilnehmer des Großmeisterturniers Ludwigsburg 1969 bekannt, wird in Amsterdam geteilter Dritter.

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Herman Pilnik gehört in den 1940er und 1950er-Jahren der erweiterten Weltspitze an, aber ausgerechnet im sportlich bedeutsamsten Turnier seiner Karriere, Amsterdam 1956, fehlt dem WM-Kandidaten Pilnik der Biss.

Amsterdam 1956: Die WM-Kandidaten (v.l.) Panno, Pilnik, Spassky, Szabo und Filip vor Beginn des Turniers.

Der Deutschen Schachrundschau Caissa hat der Argentinier Pilnik schon 1952 die Frage nach seinem gelegentlich gezügelten Schachhunger beantwortet (und das in „einwandfreiem württembergischen Dialekt“): „Wissen Sie, ich kann Schach an sich gar nicht wirklich ausstehen, spiele es aber ab und zu recht gern.“

In seinem Geburtsland Deutschland ist über Herman Pilnik erstaunlicherweise recht wenig bekannt. Seine höchste Weltranglistenposition erreicht Pilnik laut Chessmetrics um die Jahresmitte 1945 mit Rang 12, sein höchstes nachträglich berechnetes Rating aus demselben Jahr beträgt 2670.

Spuren in der Schachgeschichte hat Pilnik einige hinterlassen, unter anderem in Bobby Fischers „Meine 60 denkwürdigen Partien“. Dort finden wir neben 59 anderen Duellen einen Sieg des elften Schachweltmeisters über Herman Pilnik in Mar del Plata 1959. Auch in der Eröffnungstheorie hinterlässt Pilnik Spuren. Die Spanisch-Zugfolge 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 d6 8.c3 0-0 9.d3 heißt Pilnik-Variante (auch: Teichmann-Variante, siehe Teichmann-Schlechter, Karlsbad 1911).

Während Pilnik sich in „seinem“ Spanier das Namensrecht wenigstens mit Richard Teichmann teilt, hat er es in „seinem“ Sizilianer gänzlich an Ewgenij Sweschnikow verloren: Die Sizilianisch-Zugfolge 1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sb5 d6 hat Pilnik einst gemeinsam mit Jorge Pelikan, einem anderen argentinischen Spieler, ausgearbeitet (zuvor war 6…a6 üblich). Pilnik spielt „seine“ Variante beispielsweise gegen Bronstein und gegen Geller 1956 bei der Schacholympiade in Moskau.

Zwar verliert er beide Partien, allerdings bleibt die Variante in der Sowjetunion im Blickfeld. Sie wird in den 1970er-Jahren von Spielern aus Tscheljabinsk gründlich erforscht, um Zugfolgen mit b7-b5 erweitert (Pilnik und Pelikan spielten das nie) und hat sich seither als Tscheljabinsker bzw. Sweschnikow-Variante sogar auf WM-Niveau bewährt. 2018 wird der einst von Pilnik erforschte Sweschnikow-Sizilianer Magnus Carlsens Hauptwaffe im Match gegen Fabiano Caruana.

„Das größte Talent in Südamerika“

Hermann Pilnik wird am 8. Januar 1914 in Stuttgart in eine litauischstämmige Familie geboren. Seine aus Wilna (Vilnius) nach Deutschland ausgewanderten Eltern sprechen Jiddisch. Gegenüber der „Caissa“ berichtet er 1952 von seiner ersten Begegnung mit den 64 Feldern: „Zehnjährig beobachtete ich (leider!) eine Partie meines Vaters gegen meinen Onkel, und dann war es soweit. 1928 wurde ich Stuttgarter Jugendmeister und bereits ein Jahr später württembergischer Gaumeister zusammen mit Hans Schmid, ehe wir 1930 nach Argentinien auswanderten.“

„Leider“ – schon wieder so ein Wort, wie wir es aus dem Mund eines begnadeten Schachspielers nicht erwarten würden. Im Lauf des Interviews betont Pilnik noch ein weiteres Mal, dass ihm am Schach ja eigentlich nicht viel liegt, dazu später mehr.  

Nach der Übersiedlung wird Pilniks Vorname „argentinisiert“, der „Hermann“ verliert ein „n“. Sein Start in der Fremde sei kein leichter gewesen, berichtet Pilnik, „weder im Beruf als Kaufmann und erst recht nicht im Schach“.

“Anfangs war er erbost, bald schlossen wir Freundschaft”: Alexander Aljechin.

Pilniks schachliche „Erweckung“ geschieht bei der Schacholympiade 1939 in Buenos Aires, wo der 25-Jährige wenn schon nicht als Teilnehmer, so doch zumindest als Schiedsrichter dabei ist – als erster Schiedsrichter sogar. Er macht Bekanntschaft mit dem für Frankreich spielenden Alexander Aljechin. Nach Feierabend bestreiten sie mehrere freie Partien („nicht Blitzschach – solches mochte Aljechin nicht!“). „Wenigstens 60 Prozent davon“ verliert der amtierende Weltmeister. Gegen ihn, den Schiedsrichter!

An die Reaktion Aljechins erinnert Pilnik sich auch 13 Jahre später im Caissa-Interview noch genau: „Anfangs war er darüber fürchterlich erbost und warf mit Schimpfworten und Figuren um sich. Bald darauf schlossen wir aber enge Freundschaft.“ Aljechin schmeichelte: „Sie sind das größte Talent in Südamerika!“

Vom Weltmeister solchermaßen stimuliert, biegt Pilnik in den Folgejahren auf die schachliche Überholspur ab. Zunächst noch auf Südamerika begrenzt: 1941 wird er beim Turnier der „Sociedad Hebraica Argentina“ (Hebräische Gemeinschaft Argentiniens) hinter Paulino Frydman und Gideon Ståhlberg, aber vor den ebenfalls sehr starken Spielern Movsas Feigins und Moshe Czerniak Dritter. Das Preisgeld in Höhe von 150 Dollar bekräftigt seine Entscheidung, Schachprofi zu werden. In der Caissa heißt es: „Immer mehr wendet er sich dem „verhaßten“ Schach zu, das er sich – vermögenslos – als Sprungbrett zu Verdienst und Abenteuern erhofft.“

1942 gewinnt Pilnik den ersten von drei argentinischen Landesmeistertiteln. Im für ihn sehr starken Jahr 1944 teilt er in Mar del Plata mit Miguel Najdorf Platz eins und zwei, gewinnt anschließend die Meisterschaft von Paraguay und wird hinter Gideon Ståhlberg Zweiter beim Turnier in Vina del Mar (Chile).

Wer ist der beste Schachspieler Argentiniens? Um die Antwort auf diese Frage stritten in den 40er- und 50er-Jahren der aus Deutschland eingewanderte Herman Pilnik (Bild) sowie der aus Polen stammende Miguel Najdorf. Hier besiegt Pilnik Najdorf spektakulär, meist hatte allerdings sein Gegner die Nase knapp vorn. Najdorf war in Argentinien geblieben, als während der Schacholympiade 1939 in Buenos Aires der Zweite Weltkrieg ausbrach. Zahlreiche weitere europäische Spitzenspieler, auch alle Spieler von Schach-Olympiasieger „Großdeutschland“ (Deutsche und Österreicher), blieben ebenfalls. All die Schachmeister, die sich teils dauerhaft, teils zeitweise in Argentinien niederließen, verhalfen dem Schachsport zu großer Popularität in Südamerika.

Pilniks nordamerikanische Erfolgsserie beginnt mit einem schweren Autounfall bei der Anreise. „Längst nicht genesen und trotz Abraten der Ärzte nimmt Pilnik 1945 in Hollywood an der Panamerikanischen Meisterschaft teil und lässt außer Ruben Fine und Samuel Reshevsky als Drittplatzierter die gesamte nordamerikanische Spitzenklasse hinter sich; ein Triumph des Willens!”, meldet die „Caissa“ – mit einer Formulierung, die heutzutage in Folge des gleichnamigen NS-Propagandafilms nicht mehr verwendet würde.

Hollywood 1945: Pilnik mit Kopfverband.

Wie kommt es zum Autounfall bei der Anreise nach Hollywood? Einige der eingeladenen Spieler können nicht teilnehmen, da sich die USA im Pazifikkrieg befinden und für sie die Anreise schwierig ist. Der nachnominierte Ersatzmann Pilnik, der ebenfalls Anreiseschwierigkeiten hat und seine Flugreservierung verliert, reist mit dem Auto weiter. Nachts stößt er mit einem unbeleuchteten Lastwagen zusammen. Er wacht in einem Krankenhaus in Yuma, Arizona, auf. Mit drei Tagen Verspätung, den Kopf in Verbände gehüllt, erreicht Pilnik Hollywood, wo er für seinen Partiegewinn gegen Weaver Adams einen Schönheitspreis bekommt.

Weitere erste Plätze (Mexiko 1949) und vordere Platzierungen in Einzelturnieren folgen, bevor Pilnik 1950 zum ersten Mal für die argentinische Nationalmannschaft bei einem großen Turnier ans Brett darf – eine Erfolgsgeschichte nimmt ihren Lauf.

Die Eheleute Perón empfingen 1950 die argentinische Schach-Nationalmannschaft.

Nachdem die argentinische Nationalmannschaft bei der Schacholympiade 1950 in Dubrovnik überraschend Silber gewinnt, lädt Staatspräsident Juan Domingo Perón die Spieler zu einem Empfang ein. Zur Belohnung und Würdigung der brillanten Leistungen will er jedem ein Geschenk machen. Perón fragt alle fünf nach ihren Wünschen. Welcher der Herren Miguel Najdorf, Julio Bolbochan, Carlos Guimard (Namensgeber von 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sd2 Sc6!?) und Héctor Rossetto es ist, der sich nicht ganz unbescheiden gleich ein Haus wünscht, erfahren wir aus diesem Text von GM Zenón Franco leider nicht, dafür aber die Antwort des Spielers vom Reservebrett:

„Ich möchte einen Kuss von Ihnen.“

Herman Pilnik ist alles andere als ein politischer Anhänger seines fünf Jahre später vom Militär gestürzten (und 1973, wenige Monate vor seinem Tod, nochmals ins Amt gewählten) Staatspräsidenten, Zenón Franco bezeichnet Pilnik gar als „Anti-Peronisten“.Pilnik soll seine Bitte an Juan Peróns ebenfalls anwesende Gattin gerichtet haben.

Von der Schacholympiade ist Pilnik mit breiter Brust und der individuellen Goldmedaille am ersten Reservebrett heimgekehrt (+6 −1 = 3), hat also immensen Anteil am erstmaligen Erreichen eines argentinischen Podestplatzes.

Bei der Dame, deren Kuss Pilnik mehr Wert ist als Materielles oder etwa Unterstützung seines schachlichen Vorankommens, handelt es sich um die legendäre Eva Perón (1919-1952), deren Leben und vor allem früher Tod den Komponisten Andrew Lloyd Webber zum weltberühmt gewordenen Musical „Evita“ inspirieren sollte („Don’t cry for me, Argentina“).

Eva Perón, die als Model und Schauspielerin bekannt geworden war und als „Evita“ zum Engel der Armen avancierte, wird von vielen Argentiniern auch heute noch kultisch verehrt und als große Wohltäterin ihrer Nation gefeiert. Ob sie an jenem Abend auch Pilnik beschenkt, ihm also den Kuss gewährt, ist Zenón Francos Artikel leider nicht zu entnehmen.

Die Episode ist zu schön, um sie nicht zu erzählen, aber Pilniks Nachfahren, mit denen wir für diesen Beitrag Kontakt aufgenommen haben, bezweifeln gar, dass sie sich wie von Franco beschrieben zugetragen hat (mehr dazu demnächst).

In jedem Fall bleibt die argentinische Mannschaft mit Pilnik (der 1950 den IM-Titel verliehen bekommt) auch in den Folgejahren in der Erfolgsspur. Die Argentinier wiederholen ihren zweiten Platz bei den Schacholympiaden in Helsinki 1952 und Amsterdam 1954.

“Ich komme wieder”

Pilniks persönliche Formkurve zeigt weiter nach oben. Zwei Jahre später qualifiziert er sich für das Interzonenturnier, die Vorstufe zum WM-Kandidatentunier. Im September 1952, demselben Monat in dem das Interzonenturnier beginnt, bekommt Pilnik den Großmeistertitel verliehen. Am Rande dieses im schwedischen Ostseeküstenort Saltsjöbaden („das Salzmeerbad“) durchgeführten Turnieres dürfte das Caissa-Interview entstanden sein, das wir in diesem Beitrag mehrfach zitieren.

Pilnik wird in Schweden Elfter, verpasst die Qualifikation für das nächste Kandidatenturnier. In Stockholm bzw. Saltsjöbaden macht er einen etwas „schachmüden“ Eindruck, was auf seine Rolle als „Hängepartiekönig“ zurückgeführt wird. Außerdem hatte er auf dem Weg zum GM-Titel in den Monaten zuvor eine Reihe schwerer Turniere bestritten.

„Pilnik beabsichtigt, in seine zweite Heimat (Anm. d. Autors: Argentinien) zurückzukehren, um sich einmal gründlich vom Schachspiel auszuruhen“, schreibt die Caissa und gibt dem erschöpften Pilnik das Interview-Schlusswort: „Aber ich fürchte“, meint dieser mit einem Augenzwinkern, „ich fürchte, ich komme wieder.“

(Wird fortgesetzt)


In der Fortsetzung erfahren wir, wie es Pilnik 25 Jahre nach seinem württembergischen (Gau-)Meistertitel im Jahr 1954 wieder zu einem Schachturnier in seine Geburtsstadt Stuttgart zurück verschlägt, wie er sich bei seinem zweiten Interzonenturnier schlägt, Details zum Verhältnis zu seinem Dauerrivalen Miguel Najdorf (auch damals gab es schon „Banter“ 🙂 und einiges mehr.


Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de

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Christoph
Christoph
2 Jahre zuvor

Danke fuer die Hintergrundinfo. Den Caissa Jahrgang 52 habe ich gebunden zu Hause, jetzt kann ich den entsprechenden Artikel besser einordnen.

Ingo Althöfer
Ingo Althöfer
2 Jahre zuvor

Danke für den tollen Artikel. Wie war eigentlich das Verhältnis
zwischen Pilnik und Eliskases?

Claus Seyfried
2 Jahre zuvor

Danke Martin, für deine immer wieder sehr guten und interessanten Recherchen! Und natürlich gefällt es meinen Vereinskollegen und mir, wenn meine Stuttgarter Wahlheimat dabei eine Rolle spielt!

Kommentator
Kommentator
2 Jahre zuvor

In einem Bericht über den 11. Kongreß des Schwäbischen Schachbundes heißt es in den “Deutschen Schachblättern” 1929, S. 324: “Am Gauturnier des Neckarkreises haben sich die Vereine Ludwigsburg, Stuttgart und Untertürkheim beteiligt. Sieger und Gaumeister für 1929 wurde Hans Schmid, Stuttgart.” Pilniks Darstellung dreiundzwanzig Jahre später ist somit in mehrfacher Hinsicht falsch. Einen “württembergischen Gaumeister” konnte es nicht geben, da es keinen Gau Württemberg gab. Und den Gaumeistertitel gewann Schmid allein, Titel wurden damals (wie heute auch) nicht “geteilt”. Bei der genannten Gelegenheit fand auch ein Blitztunier statt, für das Pilnik-Stuttgart mit 4 Punkten aus 4 Partien als Sieger vor… Weiterlesen »

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