Kandidatenturnier 2022: Einer kommt durch?

Davon träumen alle acht Teilnehmer, seitdem sie Schach spielen: Weltmeister werden. Jetzt stehen sie vor der vorletzten Hürde auf dem Weg zu diesem Ziel, der höchsten, die es im Schach gibt. Sieben werden straucheln, einer wird die Hürde nehmen. – Oder zwei?

Die Kandidaten-Vorschau im Video: ein Blick auf die Umstände des Kandidatenturniers – und auf jeden einzelnen der acht WM-Kandidaten 2022.

Ding Liren, Alireza Firouzja, Fabiano Caruana, Ian Nepomniachtchi, Richard Rapport, Hikaru Nakamura, Teimour Radjabov und Jan-Krzysztof Duda (sortiert nach Elozahl) kämpfen ab Freitag in Madrid um das Recht, im WM-Match 2023 Magnus Carlsen herauszufordern – wenn der denn antritt. Sollte Carlsen verzichten und seinen Titel freiwillig zurückgeben, würden der Sieger und der Zweitplatzierte des Kandidatenturniers das WM-Match 2023 bestreiten. Das Kandidatenturnier 2022 wäre das erste seiner Art, bei dem nicht gilt: „Winner takes all.“

Fabiano Caruana, WM-Herausforderer 2018 und vier Jahre später neben Ding Liren der Hauptfavorit nicht nur bei den Buchmachern, glaubt nicht daran, dass Carlsen tatsächlich seinen Titel zurückgibt. Gewiss habe der Weltmeister wahrhaftig widergegeben, was er fühlt, aber Caruana geht davon aus, dass er seine Meinung ändern wird. „Für mich geht es hier nur um den ersten Platz“, sagte der Amerikaner in der Auftaktpressekonferenz, an der er als einziger Spieler teilnahm. Auf Spekulationen, ob diesmal auch Platz zwei reichen könnte, will sich Caruana nicht einlassen.

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Wiedergutmachung: Wie Teimour Radjabov ins Kandidatenturnier 2022 geriet.

Einige Geschichten, die es im Schach so noch nicht gab, hatte das Turnier schon geschrieben, bevor es begonnen hat. Mit Teimour Radjabov ist ein Spieler im Feld, der sich eigentlich für das Kandidatenturnier 2020 qualifiziert hatte. Radjabov zog zurück, als die FIDE das Kandidatenturnier trotz Pandemie durchziehen wollte – und es, wie von Radjabov befürchtet, abbrechen musste. Nun darf er seinen vor drei Jahren gewonnenen Platz im 2022er-Kandidatenturnier einnehmen. Ihm den Freiplatz zu geben, war eine umstrittene Entscheidung der FIDE-Chefetage. “Ridiculous” (lächerlich), so Magnus Carlsens Kommentar.

Teimour Radjabov am Rande der Eröffnungsfeier des Kandidatenturniers. | Foto: Stev Bonhage/FIDE

Nicht zuletzt durch den Radjabov-Freiplatz fiel die Qualifikation per Rating weg. Selbst der Weltranglistenzweite würde zuschauen müssen, sollte er sich nicht über die Qualifikationspfade World Cup, Grand Swiss oder Grand Prix qualifizieren. Aber das wiederum war dem Weltranglistenzweiten Ding Liren kaum möglich. Mehr als Schachmeistern aus anderen Teilen der Welt beschnitt das Coronavirus Ding Lirens Möglichkeiten zu reisen. Als er wegen Visaproblemem auch aus dem Grand Prix ausschied, schien Ding Liren draußen zu sein.

Sergey Karjakin war drin, qualifiziert durch seine Finalteilnahme am World Cup 2021. Dann überfiel Russland die Ukraine. Karjakin verbreitete russische Kriegspropaganda, huldigte öffentlich seinem Diktator und verhöhnte die Opfer des russischen Mordens. Die FIDE sperrte den WM-Herausforderer von 2016 – und plötzlich war Ende April doch ein Rating-Platz im Kandidatenturnier war frei.

Ding Liren kann besser rechnen als die meisten seiner Kollegen, aber dass sich ihm diese Tür öffnet, hatte er nicht vorhergesehen. Um den Rating-Platz zu bekommen, fehlten ihm 28 Partien. Er hatte ja in China während der Pandemie fast ausschließlich online gespielt, aber das Reglement sieht vor, dass nur per Rating WM-Kandidat werden darf, wer im Jahr vor dem Kandidatenturnier mindestens 30 Turnierpartien gespielt hat. Ding hatte 2 gespielt.

Ding Lirens Endspurt ins Kandidatenturnier.

Mit der Hilfe seines Verbands stampfte sich der Chinese einen nie dagewesenen Schach-Marathon aus dem Boden: 28 Turnierpartien in 28 Tagen – und das unter dem Druck, während dieses Programms ordentlich zu punkten. Würde Ding zwar das Partienpensum schaffen, aber zu viel Elo verlieren, wäre der Rating-Platz futsch.

Ding Liren gelang nicht nur die Punktlandung, gerade rechtzeitig die erforderliche Menge an Partien zu spielen. Er lieferte auch sehr ordentliche Ergebnisse ab und steigerte sein Rating sogar. Der 29-Jährige stieg wieder über 2800 und überholte Alireza Firouzja, den Aufsteiger des Jahres 2021, der ihm den zweiten Platz in der Weltrangliste abgenommen hatte. Ding Liren geht in Madrid jetzt als Nummer zwei der Welt ins Rennen.

Erleichterung: Turnierfavorit Ding Liren ist tatsächlich unterwegs, in China verabschiedet von einer 17-köpfigen Schar Schachfans.

Sollte bei künftigen Kandidatenturnieren kurzfristig ein Teilnehmer ausfallen, wird für Rating-Nachrücker ein Endspurt wie der von Ding Liren nicht möglich sein. Die FIDE hat ihr Reglement geändert: mehr Partien sind erforderlich, und sie müssen gegen internationale Gegner gespielt werden. Ding Liren hatte ausschließlich gegen Chinesen gespielt.

Ian Nepomniachtchi geht als Vizeweltmeister ins Kandidatenturnier. Der Verlierer des WM-Matches bekommt einen Platz im nächsten Kandidatenturnier, so weit die Regel, so weit unstrittig. Aber sollte an diesem Turnier der nie dagewesenen Umstände ein russischer Spieler teilnehmen (und womöglich WM-Herausforderer 2023 werden)? Die russischen Staatsmedien und der dem Putin-Kreml eng verbundene Verband werden jeden sportlichen Erfolg Nepomniachtchis in ihrem Sinne ausschlachten, ob der das will oder nicht.

FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich nahm an der Eröffnungspressekonferenz nicht teil, hatte aber zuvor Journalisten durch den Palast geführt. Der offiziell neutrale, aber tatsächlich im Wahlkampf befindliche FIDE-Twitter-Account beeilte sich, der Welt mitzuteilen, der russische FIDE-Präsident habe mit der in Charkiw geborenen Olga Alexandrova “Hand und Hirn” gespielt. Alexandrova lebt in Spanien, sie ist die Ehefrau des spanischen Großmeisters Miguel Illescas.

Natürlich ist Nepomniachtchi kein Karjakin. Der 31-Jährige hat den Überfall auf die Ukraine öffentlich individuell verurteilt („Wahnsinn“), außerdem hat er den offenen Brief russischer Schachmeister gegen den Krieg unterschrieben. Andererseits tritt er in Madrid als Vertreter des russischen Schachverbands an (in dessen Aufsichtsrat unter anderem Putin-Sprecher Dmitry Peskov und Verteidigungsminister Sergei Shoigu sitzen). Nepomniachtchi hat nicht – wie viele andere russische Schachspieler – das Angebot angenommen, vom russischen Verband zur FIDE zu wechseln.

Die richtigen Spieler, um Freiplätze für den WM-Zyklus zu bekommen? Hikaru Nakamura hat diese Frage am Brett beantwortet.

Die Kontroverse, ob Hikaru Nakamura teilnehmen sollte, ist längst ausgefochten. Der Spieler selbst hat sie in Berlin sensationell souverän geklärt. Die Debatte war aufgekommen, als die FIDE dem ehemaligen Weltranglistenzweiten einen Freiplatz für den Grand Prix gegeben hatte – einem Hobbyspieler, der längst kein Profi mehr ist und Schach nur noch schnell am Bildschirm spielt.

Tja.

Nakamura gewann den Grand Prix vor einer Reihe von Elitegroßmeistern. Jetzt halten es nicht wenige Beobachter für möglich, dass Nakamura 2.0 beim Kandidatenturnier da weitermacht, wo er beim Grand Prix aufgehört hat. Während seine Kollegen in Madrid unter enormen Druck stehen, weit mehr, als bei jedem anderen Turnier, kann der aller materiellen Sorgen ledige Nakamura Spaß haben und sich, wenn es gut läuft, davon tragen lassen, angefeuert von der siebenstelligen Schar seiner Fans in den Sozialen Medien.

Sicher ist, dass am ehesten ein WM-Herausforderer Hikaru Nakamura oder Alireza Firouzja Magnus Carlsen bewegen würde, seine Haltung in Sachen Titelverteidigung zu überdenken. Ein Match gegen Nakamura würde das meistverfolgte in der bald 150-jährigen Geschichte der Schachweltmeisterschaften.  

Wird er wieder überragen? Oder unter dem Druck einbrechen? Alireza Firouzja inspiziert den Spielort. | Foto: Stev Bonhage/FIDE
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