Tata Steel Chess, die Langstrecke zu Beginn eines jeden Schachjahres: Auch bei der 84. Auflage des Traditionsturniers im Küstenort Wijk an Zee (15. bis 30. Januar 2022) spielt ein erlesenes Feld von 14 Teilnehmern 13 Runden. Im parallelen “Challengers” ist mit dem einstigen U16-Weltmeister IM Roven Vogel (21) ein deutscher Meisterspieler mit von der Partie. Rundenbeginn täglich 14 Uhr. Hier bist du stets auf dem aktuellen Stand des Geschehens.
“Mamedyarov und Praggnanandhaa punkten”:
Bericht zur vierten Runde auf chess.com
“Praggnanandhaa und Mamedyarov schlagen zu”:
Bericht zur vierten Runde auf chess24
Tabelle nach vier Runden:
|| Ruhetag, 19. Januar
Griechisches Königsindisch
■ Der große Grieche Georgios Souleidis inspiziert den …Lg4-Königsinder, mit dem Arjun Erigasi Roven Vogel schlug – und erinnert an eine Wijk-Partie vor einem Jahr: Radoslaw Wojtaszek vs. Fabiano Caruana, in der Caruana dieselbe Modevariante wählte und später viel Aufmerksamkeit dafür bekam, dass er seinen königsindischen Läufer in einer Konstellation hergab, in der darauf nicht viele Schachspieler gekommen wären.
Test, Test, Test
■ Natürlich geht es in allererster Linie um Schach. Das andere omnipräsente Thema lässt sich dem Foto entnehmen, das Lennart Ootes von Roven Vogel und Arjun Erigasi geknipst hat, als die beiden ihre gerade beendete Partie im Flur debattierten. Den offiziellen Covid-Test des Tages hatten sie schon hinter sich, und beide waren ausgestattet mit weiteren Tests. Alle Spieler sind angehalten, sich selbst regelmäßig zu testen.
Jugendlicher (84)
■ Die Anwesenheit der Gebrüder Jorden und Lucas van Foreest in Wijk an Zee ist im schachhistorischen Kontext nicht ungewöhnlich. Die beiden großmeisterlichen Brüder entstammen einer Schachfamilie, die im niederländischen Schach manche Spur hinterlassen hat. 1949 etwa spielte der damals 86-jährige Groß-Groß-Großonkel van Foreest ein Match gegen den deutschen, vor den Nazis nach England geflohenen Großmeister Jacques Mieses (84). “Die Jugend hat gesiegt”, stellte Mieses fest, nachdem van Foreest resigniert hatte. (Zeitungsausschnitt gefunden vom englischen Schach-Schreiber John Saunders.)
|| Runde 4, 18. Januar
Praggs erste Eins
Das erste Mal in der A-Gruppe von Wijk an Zee. Über der Premiere von Praggnanandhaa stand ohnehin die Frage, ob er sich in diesem Feld und in diesem Umfeld auf Anhieb würde akklimatisieren können. Und nun kam auch noch die Covid-Infektion seines Trainers und Vertrauten Ramachandran Ramesh dazu. Pragg sitzt allein im Hotelzimmer, während der Coach in Quarantäne ist und per Internet zu seinem Schützling Verbindung hält. Trotzdem gelang es dem 16-Jährigen jetzt, gegen den unglücklichen Nils Grandelius seinen ersten Punkt einzufahren. Der Schwede, vor einem Jahr zu Beginn überraschend Tabellenführer, hat derweil einen veritablen Fehlstart hingelegt: 0,5/4.
Vogels erste Null
■ Nun hat es Roven Vogel erwischt. Anstatt sich anhaltenden Drucks erwehren zu müssen, wollte er mit dem Kopf durch die Wand stürmen. Die Wand in Person von Arjun Erigasi war stärker.
Abräumer
■ Magnus Carlsens Elo 2900-Traum ist zumindest in Wijk ausgeträumt. Jetzt kann er “nicht abwarten”, was Vorjahressieger (und Carlsen-Sekundant) Jorden van Foreest für das Duell mit seinem Chef ausgekocht hat. Beide stehen bei 2/3, heute treffen sie aufeinander. Andrey Esipenko steht ebenfalls bei 2/3, nachdem er gestern mit der Abrissbirne das russische Verteidigungsministerium abgeräumt hat. Er wird heute dafür sorgen wollen, dass Schachfreund Vidit Gujrathi (2,5/3) nicht dem Feld davonzieht. Im Challengers werden derweil für den bislang ungefährdet durchremisierenden Roven Vogel die Gegner nicht leichter. Heute wartet mit dem indischen Großmeister Arjun Erigasi der nominelle Turnierfavorit.
|| Runde 3, 17. Januar
Knipser
■ Wir werfen einen ersten kurzen Blick auf die Tabelle, stellen fest, dass Magnus Carlsens Projekt “Elo 2900” stockt – und schauen uns einen ganz heißen Kandidaten für den Zug des Turniers genauer an, zelebriert von Richard Rapport gegen Nils Grandelius.
Führungsspieler
■ Den stolz auf seine Verteidigungsleistung twitterte Vidit Gujrathi in die Welt. Fast jeder wäre unter dem Ansturm von Daniil Dubov kollabiert, nicht so der Inder. Vidit fand eine Reihe einziger Züge, krönte seine Defensivleistung mit einem Königsmarsch übers Brett – und führt nun mit 2,5/3 das Feld im “Masters” allein an.
Zum Zungeschnalzen
■ Ist das schon der Zug des Turniers? Richard Rapport nimmt Nils Grandelius mit dem wunderbaren Ausknipser 30…Th1! aus dem Ring, wahrscheinlich zum Leidwesen von Rasmus Svane, der, heißt es, als Grandelius’ Sekundant in Wijk weilt. Nach seiner Auftaktniederlage steht der Ungar nun bei 2/3 und hat zu den führenden Carlsen und Duda aufgeschlossen. Allerdings wird er am Ende dieser Runde voraussichtlich nicht mehr Geteilter Erster sein. Die wilde Partie zwischen Dubov und Vidit hat sich zugunsten des Inders gedreht, der bald mit 2,5/3 das Feld anführen könnte.
First man standing
■ Als Roven Vogel gestern mehr als sechs Stunden lang und letztlich erfolgreich sein Endspiel gegen Daniel Dardha verteidigte, war er der der “Last man sitting”. Heute darf er als Erster aufstehen, den Saal verlassen und sich dafür auf die Schulter klopfen lassen, dass er tatsächlich die bis dahin weiße Weste von Volodar Murzin beschmutzt hat. Vogel mit Weiß wollte erkennbar nichts anbrennen lassen und mit einem halben Punkt in der Tasche spielen. Abtausch-Slawisch war dafür wahrscheinlich nicht die verkehrteste Wahl, und nach 27 Zügen akzeptierte der Russe das Remisangebot des Deutschen in ausgeglichener Stellung.
Covid: “Pragg is safe”
■ Vor der dritten Runde hat das Turnier seinen ersten Covid-Fall: Großmeister Ramachandran Ramesh ist als Begleiter und Coach des indischen Ausnahmetalents Praggnanandhaa angereist. Nach seinem positiven Test muss er seinen Schützling jetzt von einem separaten Hotelzimmer aus coachen. Ramesh (46) gilt als einer der herausragenden indischen Trainer, unter dessen Fittiche ein großer Teil der Schar von indischen Schachtalenten ihre Fähigkeiten vervollkommnet.
Härtetest für Roven Vogel
■ Einer der 28 Kontrahenten in Wijk an Zee steht nach zwei Tagen mit weißer Weste da: Volodar Murzin, 15-jähriger russischer IM aus Nischni Tagil, eine 360.000-Einwohner-Stadt im Ural etwa 125 Kilometer nördlich von Jekaterinburg. Nach seinem Sieg über Daniel Dardha schlug Murzin nun seine Landsfrau Polina Shovalova. Und wir ahnen, dass heute der in jeder Partie als nomineller Außenseiter antretende Roven Vogel der bislang härteste Härtetest bevorsteht. Der Dresdner wird danach trachten, auf Murzins weißer Weste einen Fleck zu hinterlassen.
|| Runde 2, 16. Januar
“Das hat er von meinem Vater”
■ Die Frage, wie Shakhriyar Mamedyarov auf sein Eröffnungsexperiment 3.g4?!! gekommen ist, beantwortete nach der Runde Magnus Carlsen: “Das hat er sich wahrscheinlich bei meinem Vater abgeguckt.” Henrik Carlsen pflegt seine Blitzpartien mit 1.d4 Sf6 2.g4?!! zu eröffnen. Die “Shakh Attack” muss womöglich doch in “Verbessertes Henrik-Carlsen-Gambit” umbenannt werden.
Last man sitting
■ Carlsen schlägt Giri furios inklusive Qualitätsopfer und Matt-Attacke, Rapport schlägt van Foreest eher technisch, der Rest endet remis, auch die verrückt eröffnete Partie zwischen Mamedyarov und Esipenko. Im Masters sind sie jetzt fertig, im Challengers läuft noch eine Partie (Diagramm rechts): Roven Vogel verteidigt ein schwieriges, aber haltbares Endspiel gegen Daniel Dardha.
The Shakh Attack
■ Wird das der Trend des Turniers? Die mit am meisten Spannung erwarteten Partien sind als erste beendet? Nachdem gestern Esipenko-Carlsen fix austrudelte, räumen heute Karjakin-Dubov rasch das Brett ab. Daniil Dubov beendet die Partie gar mit mehr Zeit auf der Uhr, als er zu Beginn hatte. Die Eröffnung des Tages zelebriert derweil Shakhriyar Mamedyarov gegen Andrey Esipenko: 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g4. Ob das gut ist? Roven Vogel spielt währenddessen im B-Turnier eine solide Schwarzpartie, in der das Remis wahrscheinlich erscheint, in der allerdings der Weiße einen kleinen, anhaltenden Vorteil verwaltet.
Vogels Frühstück
■ Roven Vogel versorgt den Schachbund während seines Wijk-Abenteuers mit Impressionen von der Nordseeküste. Die Mahlzeiten müssen die Spieler allein in ihrem Hotelzimmer einnehmen – Kontaktbeschränkung. Hier sehen wir, yummie!, den kulinarischen Teil von Vogels Vorbereitung auf die heutige Partie:
Dubov vs. Karjakin: politische Partie
■ Wenn kein Schach ist, beharken sie einander auf Twitter, heute am Brett. Magnus Carlsen vs. Anish Giri, ein Klassiker des Eliteschachs steht heute in Wijk auf dem Programm. Und eine politische Partie. Daniil Dubov trifft auf Sergej Karjakin, der gleich in zwei Konflikten um Dubov dessen Kritiker angeführt hat: als es darum ging, ob Dubov Carlsen beim WM-Match gegen einen russischen Landsmann helfen sollte und als es darum ging, ob nicht besser Andrey Esipenko statt Dubov den Grand-Prix-Freiplatz bekommen hätte.
Belgiens Keymer
■ 16 Jahre, Großmeister, Elo 2530: Daniel Dardha, Sohn albanischer Einwanderer, gilt als die größte Hoffnung des belgischen Schachs. Heute bekommt er es in Wijk mit Roven Vogel zu tun, der nach seinem Sieg bei der U16-Weltmeisterschaft vor sieben Jahren als eine der größten Hoffnungen des deutschen Schachs galt. Für Vogel spricht, dass Dardha gestern einen Fehlstart ins Challengers hingelegt hat. Vielleicht heute noch bei Dmitrij Kollars anrufen, Tipps einholen, wie dieser Belgier zu besiegen ist? Kollars hat das unlängst in Sitges wunderbar demonstriert:
25 halbe Punkte
■ 12,5/13 braucht Magnus Carlsen in Wijk, um schon am 30. Januar 2022 als erster 2900er der Schachgeschichte dazustehen. Den ersten von 25 nötigen halben Punkten hat er zum Auftakt eingefahren. Sollte das “Projekt 2900” sich in Wijk noch nicht als umsetzbar erweisen, muss Carlsen mindestens 9 Punkte holen, um keine Elopunkte zu verlieren. Würde das reichen, um das Turnier zu gewinnen? Wahrscheinlich. Der norwegische Journalist Tarjei Svensen hat ins Archiv geschaut:
|| Runde 1, 15. Januar
Opfern und tricksen, das Dubov-Rezept
■ Vollständig zufrieden kann Daniil Dubov nicht gewesen sein, er hatte ja gegen Shakriyar Mamedyarov am Abgrund balancieren müssen. Aber unzufrieden war er erst recht nicht: “Läufer nach g2, einen Bauern für nichts opfern und dann auf Tricks spielen.” So beschrieb der genialische Russe die Partie, “in der immerhin klar zu sehen war, wer Weiß spielt”.
Vidit statt Gassi
■ Wer Schach spielt oder kommentiert, der kennt die Ungeduld, die im privaten, schachunkundigen Umfeld ausbricht, wenn es mal wieder länger dauert. Gestern traf dieses Phänomen Peter Svidler und Jan Gustafsson, während Vidit Gujrathi sechseinhalb Stunden lang sein Endspiel zum Gewinn knetete. Gustafssons Tochter sah es mit Ungeduld, und Svidlers Hund drückte die Blase. Der Welpe hätte Gassi gehen sollen, nur war der Begleiter am oberen Ende der Leine anderweitig verpflichtet.
Drei Sieger zum Auftakt
■ Vorjahressieger Jorden van Foreest (gegen Nils Grandelius), Vidit Gujrathi (gegen Sam Shankland) und Jan-Krzysztof Duda (gegen Richard Rapport) starten mit Siegen ins Turnier. WM-Kandidat Duda ist jetzt erstmals Teil der Top 10 der Welt. Mamedyarov lässt Dubov entschlüpfen, Caruana Karjakin. Roven Vogel lässt zum Auftakt nichts anbrennen. Ein wenig spektakuläres Remis gegen einen GM aus der 2600er-Klasse ist ein solider Start ins Challengers für den Dresdner.
Minus zwei Elo
■ Drei Stunden gespielt, minus zwei Elo für Magnus Carlsen: Schwarzremis nach gut 20 Zügen bei vollem Brett gegen Andrey Esipenko. Shakh Mamedyarov derweil offenbar auf der Siegerstraße in einem kaum durchschaubaren Gefecht gegen Daniil Dubov, während Fabiano Caruana starken Druck auf die Bastion von Verteidigungsminister Sergej Karjakin ausübt. Bei Roven Vogel im B-Turnier (Diagramm) werden wir jetzt sehen, ob der Durchbruch 20.d5 nebst 21.Txb6 zu Vorteil führt.
Beim Frisör
■ ElitärTraditionell geprägte Schachfreunde rümpfen über sowas schon seit Jahren die Nase: Schach darf jetzt Spaß machen, Schach soll Figuren produzieren, die ein möglichst breites Publikum erreichen. Eine dieser Figuren: US-Großmeister Robert Hess, ein, wenn nicht das Gesicht des Branchenriesen chess.com. Hess kann gleichermaßen kompetent Schach vermitteln – und seine Freude an der Sache. Das führt zu immer neuen Hess-Storylines. Zum Auftakt des Tata Steel Chess hat ihn sein Arbeitgeber erstmal zum Frisör geschickt, damit er auf Sendung ordentlich aussieht. Natürlich wurde daraus ein Clip für den Live-Stream:
Traumpaar wiedervereint
■ Lange waren sie nicht gemeinsam zu sehen, nun werden sie uns zwei Wochen lang durchs Wijk-Geschehen führen. Peter Svidler und Jan Gustafsson, Traumpaar des Schachfernsehens, sind live:
Projekt 2900
■ Andere nennen es “Tata Steel Chess”, für Magnus Carlsen ist es der Auftakt des Projekts “Elo 2900”. Eine Turniervorschau des Perlen-YouTube-Kanals:
Namaste
■ Über die neuen, verbesserten Tiebreak-Regeln in Wijk haben wir berichtet. Auf eine weitere Änderung des Reglements hat jetzt Surya Ganguly aufmerksam gemacht, einstiger Sekundant von Viswanathan Anand und Teilnehmer des Challenger-Turniers. Das Tata Steel Chess ist wahrscheinlich das erste Schachturnier, das den Spieler:innen eine Alternative zum Handschlag vor der Partie nahelegt: “Namaste” sagen, eine unter Hindus verbreitete Grußformel, übersetzt etwa: “Ich verbeuge mich vor dir.”
Revanche gegen Esipenko?
■ Viel falsch machen kann man in Wijk beim Auslosen nicht, attraktive Paarungen ergeben sich automatisch. Trotzdem sehen wir gleich in der ersten Runde manche besonders attraktive Paarung, allen voran Andrey Esipenko vs. Magnus Carlsen – für den Weltmeister eine Gelegenheit zur Revanche:
Mit leichter Hand hat Esipenko vor einem Jahr Carlsens Sizilianer zertrümmert. Einige Monate später trafen die beiden im World Cup erneut aufeinander. Carlsen gewann zwar das Match hauchdünn, aber Esipenko hatte sich erneut als Gegenspieler auf Augenhöhe erwiesen. Im “Challengers” führt Roven Vogel zum Auftakt die weißen Steine gegen den jungen niederländischen GM Max Warmerdam (Elo 2607).
(Titelfoto via Tata Steel Chess/Twitter)
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