Die Generationenfrage

Gammelfleischparty“, das Jugendwort des Jahres 2008. Mit diesem Ausdruck nehmen Jugendliche Ü-30-Partys aufs Korn, also Feiern für alte Leute im vierten Lebensjahrzehnt. Magnus Carlsen, der die Dreißigerschwelle vor einem Jahr überschritten hat, brauchte keine drastische Formulierung wie diese, als er seinen Widerwillen bekundete, weitere WM-Matches gegen alte Leute spielen zu müssen. Ein Match gegen einen Vertreter der „nächsten Generation“ wünschte er sich.

Carlsen hatte es zunächst dem Kasparow-Vertrauten Pep Guardiola gehalten: „Thiago oder nix“ forderte der einstige Bayern-Coach, als er vor einigen Jahren von seinem Verein verlangte, für den neunfachen Preisfonds der Schach-WM 2021 den damaligen Kapitän der spanischen U21-Nationalmannschaft (im Fußball) zu verpflichten.

„Firouzja oder nix“ sagte Carlsen analog dazu nach seinem Sieg über Nepomniachtchi. Aber in seiner Weihnachtsansprache kurz danach strich Carlsen den „Firouzja“ und ersetzte ihn durch die weniger klar definierte „nächste Generation“.

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Hm.

Star Trek: The Next Generation (TV Series 1987–1994) - IMDb
Wenn ein kahler Mann die nächste Generation anführt, liegt der Verdacht nahe, dass die Nachfolger so taufrisch nicht mehr sind.

Wo fängt diese Generation an, wo hört sie auf? Zählt Worldcup-Sieger und WM-Kandidat Jan-Krzysztof Duda im fortgeschrittenen Alter von 23 Jahren noch dazu? In der polnischen U21 dürfte Duda jedenfalls nicht mehr spielen. Und ist die „Next Generation“ wirklich zwangsläufig besser als die der Vorgänger? Nicht nur Star-Trek-Fans hegen da so ihre Zweifel.

Denken wir nur an die alten Leute Boris Gelfand und Viktor Kortschnoi. Beide haben sich ihre WM-Duelle redlich erkämpft und verdient, Gelfand 2012 als 43-jähriger Senior gegen Viswanathan Anand, Kortschnoi 1981 als 50-jähriger Greis gegen Anatoli Karpow.

Unabhängig von Magnus‘ Generationenrechnung lässt sich anhand der jüngsten Linie der Schachweltmeister festmachen, dass alle 15 Jahre eine neue Generation nach dem Thron greift. Wenn nicht in den 2020ern noch ein Spätberufener dazwischenfunkt, wurde nach der Generation Vladimir Kramnik (1975) bis zu Magnus Carlsen (1990) 15 Jahre lang kein klassischer Weltmeister geboren. Ginge diese 15-Jahre-Rechnung so weiter, würde der nächste Weltmeister dem Jahrgang 2005 entstammen.

Und dann würde gelten: Alireza Firouzja? Jahrgang 2003, zu alt! Vincent Keymer? Jahrgang 2004, zu alt!

Allerdings stehen wir nun vor der im Schach neuen Gemengelage, dass der Champion müde ist. Voraussichtlich wird er nicht warten, bis ein heute 16-Jähriger herangereift ist, um ihm den Titel zu entreißen. Und das zwingt uns, unter den vor 2005 Geborenen nach potenziellen Nachfolgern Ausschau zu halten.

Was ist eigentlich mit Anish Giri (27)? Um Sticheleien gegen Magnus Carlsen ist der flinkzüngige Twitterfachmann selten verlegen, und natürlich beschäftigt ihn die von seinem norwegischen Kollegen vorgebrachte Genenerationenangelegenheit. Aber erst einmal konnte Social-Media-Spezialist Giri nicht widerstehen, Carlsen für sein vermeintliches Motivationsproblem hochzunehmen:

https://twitter.com/anishgiri/status/1470765148998717444


Von einem Twitter-Ruhestand ist bei Giri freilich nichts zu sehen. Wenig später beantwortete der 1994 geborene Niederländer die Frage, ob er eigentlich derselben Generation angehört wie Magnus Carlsen oder womöglich ein Vertreter der “nächsten Generation” ist:



Fabiano Caruana, der Magnus-Herausforderer von 2018, hat sich derweil gar nicht in die Next-Generation-Debatte eingeschaltet. Er zieht es vor, gegen Anish Giri zu sticheln.  



Was Caruana wohl davon hält, dass ihm Magnus Carlsen nach aktuellem Stand eine Revanche verweigern würde, sollte er sich dafür qualifizieren? Dass ein Herausforderer durchaus erst in seinem zweiten Duell gegen einen Titelverteidiger zuschlagen kann, wissen Schachfans spätestens seit 1969, als Boris Spasski im zweiten Versuch den armenischen Torwart Tigran Petrosjan überwand.  

Dass sich ein Schachweltmeister wie jetzt Magnus Carlsen den (nach seiner Einschätzung) stärkstmöglichen Herausforderer wünscht, war übrigens nicht immer selbstverständlich. Vor allem nicht in den Zeiten, als es keine FIDE gab und der Titel im Privatbesitz des jeweiligen Inhabers war.

Als beispielsweise Emanuel Lasker 1911 erstmals eine Herausforderung von José Raúl Capablanca erhielt, scheiterten die Verhandlungen über einen Wettkampf ebenso wie später die zwischen Lasker und dem in seinem Leistungszenit stehenden Akiba Rubinstein. Schachfans bedauern bis heute, dass das WM-Match Lasker-Rubinstein nie zustandegekommen ist.


Brauchen wir alte Leute wie Karjakin, Nepo, Caruana, Radjabov in künftigen WM-Zyklen überhaupt noch? Das sollte dringend diskutiert werden. Diese vier ebenso wie andere bereits über 30-jährige Cracks, MVL oder Grischuk etwa, nehmen unserem Weltmeister die Motivation zu beweisen, dass er zu Recht Weltmeister ist.

Wäre es nicht sinnvoll, den Vorstellungen unseres Regenten entsprechend künftig gar keine Spieler über 24 Jahre im WM-Zyklus mehr starten zu lassen?

Rhetorische Frage, natürlich wäre es das. Die FIDE sollte es sich mit ihrem aktuellen Champion nicht verscherzen. Was passieren kann, wenn man die Bedingungen des Weltmeisters nicht erfüllt, haben wir 1975 gesehen, nachdem Bobby Fischer nicht zur Titelverteidigung angetreten war.

Sein kampflos zum Weltmeister gekürter Nachfolger Anatoli Karpow spielte insbesondere in den ersten Jahren seiner Regentschaft ein Turnier nach dem anderen, um seinen Anspruch als bester Schachspieler der Welt zu untermauern. Aber bis Karpow allgemein anerkannt war, verging trotzdem viel Zeit. Viele hielten stattdessen den abgetauchten Bobby Fischer lange Zeit weiterhin für die „wahre“ Nummer eins.

In den ersten und letzten Jahren seiner Regentschaft musste Anatoli Karpow damit leben, dass er zwar Weltmeister war, aber von vielen nicht für die “wahre” Nummer eins gehalten wurde. | Foto: Lennart Ootes/FIDE

Oder schauen wir in die frühen 90er, als die Schachfreunde Kasparow und Short sich selbstständig machten. Wieder hatte es sich die FIDE mit dem Titelträger verscherzt. Fortan war Kasparow Privatweltmeister, Anatoli Karpow der „offizielle“ – und einmal mehr mit dem Manko behaftet, dass er zwar den Titel trägt, aber nicht die „wahre“ Nummer eins ist. Mit demselben Manko führten später die Schachfreunde Khalifman (1999-2000), Ponomarjow (2002-04) oder Kasimdzhanov (2004/05) ihre Titel spazieren.

Würde jetzt ein Caruana Weltmeister, hätten wir eine ähnliche Konstellation. Magnus Carlsen hört ja nicht auf, im Gegenteil. Die Weltrangliste würde in aller Deutlichkeit zeigen, dass die Nummer eins und der Weltmeister zwei verschiedene Schachspieler sind. Und das umso mehr, sollte es Carlsen gelingen, sein neues Ziel zu erreichen. Die Elo-Schallmauer von 2900 zu knacken, findet er viel motivierender als einen neuerlichen Gewinn des ollen Titels.

Der Weltverband sollte Wege finden, dem größten Schachspieler unserer Zeit die Titelverteidigung schmackhaft zu machen. Magnus Carlsen ist der beste Spieler nicht seiner, sondern aller Generationen, die Galionsfigur des Schachs. Die Offiziellen sollten ihm nicht mit unattraktiven WM-Kämpfen das Leben schwer machen, sondern vollumfänglich auf seine Vorstellungen eingehen. Carlsens bisherige fünf Weltmeisterschaften, darunter vier gegen Kontrahenten, die älter als er waren, haben ihn ohnehin schon unnötig viel Lebenszeit und Energie gekostet.

Und er wird ja nicht jünger.

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Springerpaar
Springerpaar
2 Jahre zuvor

Ich finde das Verhalten der Weltmeister Fischer, Kasparow und Carlsen schlichtweg arrogant und nicht akzeptabel. Fischers letzte Forderung, an welcher der WM Kampf gegen Karpow schließlich scheiterte, war die, dass der Herausforderer bei 10 Gewinnpartien mit 2 Punkten Vorsprung gewinnen musste. Das ist gerade so, als wenn beim Fußball eine Mannschaft fordert, dass die andere doch mit mindestens 2 Toren Vorsprung gewinnen muss. Also schlichtweg unfair. Kasparow hat seinen eigenen Verband gegründet und eigene Tourniere und Weltmeisterschaften veranstaltet. Egal in welcher Sportart, so eine Aufspaltung geht immer mit einem Verlust von Quantität und Qualität einher. Es gab gute Spieler, die… Weiterlesen »

Frank
Frank
2 Jahre zuvor

War der letzte Absatz ein wenig Satire? “Bester Schachspieler aller Generationen”, wo bleibt hier Kasparov? “Soll vollumfängliche auf seine Forderungen eingehen”, wie bei Bobby Fischer?