Anchorman im Schachfernsehen

In der Zwischenetage des Maritim-Hotels in Magdeburg liegt der Spielsaal der German Masters, der eigentlichen Meisterschaften der Frauen und Männer. Die Tür steht offen. Wer hineinschaut, sieht die besten Schachspielerinnen und -spieler Deutschlands an den Brettern brüten. Hineingehen ist nicht erlaubt. Wie bei allen anderen Gipfelturnieren weist ein Schild unmissverständlich darauf hin: keine Zuschauer.  

Links vom Spielsaal steht ein kleines Büffet mit Getränken und Snacks sowie einem Hinweis, der Unbefugte abhält zuzugreifen: „Nur für Spieler“. Die nächste Tür ist angelehnt, auch dort ein Schild: „Kommentierung Klaus Bischoff“, darunter in riesigen Lettern: „Zuschauer erwünscht“.

Hinter dieser Tür liegt das „Studio“ des offiziellen DSB-Streamers.

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Anzutreffen ist der Anchorman des deutschen Schachs hier täglich lange vor Beginn der Runde um 14 Uhr. Klaus Bischoff sitzt links von der Tür an einem Tisch, vor sich nur ein Mikrofon und ein Laptop, hinter sich zwei Roll-ups. Im 90-Grad-Winkel und in coronakonformem Abstanz zum Moderator sitzen die Gäste. Auch vor ihnen steht ein Kondensatormikrofon, dahinter die in Magdeburg obligatorischen Roll-ups mit DSB- und Gipfel-Logo für den Stream-Hintergrund.

Mehr als 50 Stunden auf Sendung: Klaus Bischoff bei der Arbeit. | Foto: Deutscher Schachbund

Was die Zuschauer daheim am Bildschirm sehen, sehen auch die, die hier Platz nehmen. Eine Leinwand neben Bischoffs Tisch zeigt die aktuell besprochene sowie die Live-Stellung. Bis zu zehn Zuschauer können hier in drei Reihen Platz nehmen.

Die Ansage „Zuschauer erwünscht“ ist ernst gemeint. Als Veteran des Schachkommentars hat Großmeister Bischoff schon live Partien erklärt, als Twitch und Streams noch nicht erfunden waren. Mit Publikum ist der Menschenfreund besonders gut, von Angesicht zu Angesicht interagiert er am liebsten.

Als Anchorman im Schach-TV ist Bischoff nicht haltungsbewusst und belehrend wie Claus Kleber, sondern entspannt und mit ironischer Distanz wie früher Ulrich Wickert – einer, der weder sich noch anderen etwas beweisen muss. Das schafft eine offene Atmosphäre, in der auch der Amateurspieler sich traut, Zugvorschläge zu machen. Diese Interaktion, ebenfalls ausdrücklich gewünscht, funktioniert im Studio gut.

Der Wüstenigel in seinen Hightech-Schachstudio. | via Twitch

Im Chat ist das schwieriger – aus technischen Gründen. Betrachtet man als technischen Schachstream-Maßstab das perfekt ausgestattete Studio von Schach-Streamer Wüstenigel mit zwei riesigen Bildschirmen und Möglichkeiten, das Licht in allen Farben zu variieren oder den Schreibtisch rauf- und runterzufahren, ist Bischoffs Equipment extrem spartanisch.

Und wir müssten für einen Vergleich gar nicht auf Wüstenigels Hightech-Gipfel schauen: Die technisch weniger ambitionierte Fiona Steil-Antoni sagte im Streaming-Gespräch mit dieser Seite: „Zwei Bildschirme müssen mindestens sein: einer zum Spielen bzw. für alles, was die Zuschauer sehen, und einer für den Chat, die Software und alles andere, was ich gerade brauche.“

Bischoff braucht nur einen Bildschirm. Die Beschränkung darauf nötigt dem Zuschauer alleine deswegen Bewunderung ab, weil Bischoff, der in diesem Jahr 60 wurde, die Texte ohne Sehhilfe lesen kann. Ein gravierender Nachteil der Beschränkung ist jedoch, dass er, um den Chat zu lesen, die Schachposition wegklicken muss.

Dieser Umstand erklärt die skurrile Begebenheit, als Rasmus Svane nach seinem Sieg als Gast kommt. Bischoff kündigt an, dessen Mikrofon zu starten – und fortan ist nichts mehr zu hören. Die Zuschauer sehen minutenlang die beiden Großmeister sich in bester Stimmung lautlos austauschen. 

Erstaunlich ist, dass das Streamen aus Magdeburg überhaupt weitgehend ruckelfrei gelingt. Wer als Gipfel-Gast das reguläre WLAN des Hotels nutzt, der verzweifelt über Verbindungsabbrüchen, die mit Glück mal ein YouTube-Video unterbrechungsfrei ermöglichen, aber jeden Stream einfrieren lassen.

Immerhin mögen die Teilnehmer der zahlreichen Deutschen Meisterschaften das wackelige Internet als Anreiz empfinden, sich seriös auf die nächste Partie vorzubereiten, anstatt nachts beim Online-Blitz zu versacken. Wer hier online spielt, nimmt davon bald Abstand, weil die Hälfte der Partien aus technischen Gründen verlorengeht.

Der DSB-Stream läuft unterbrechungsfrei. Während neun Gipfeltagen ist Bischoff mehr als 50 Stunden auf Sendung.

“Da muss ich nochmal Pfleger fragen”

Am stärksten ist der Moderator, wenn Phasen zu überbrücken sind, in denen an allen Brettern nachgedacht wird. Eine Engine benutzt Bischoff nicht – gut so! Der Bundesligaspieler vom FC Bayern erläutert mögliche Pläne und Abwicklungen ausschließlich mit Hilfe seines großmeisterlichen Schachverstands. Zuschauer sind eingeladen, die Expertise eines Computerprogramms einzubringen, was am Ehesten mit den Zuschauern vor Ort gelingt.

Neben seiner schachlichen Erfahrung schöpft Bischoff aus einem niemals versiegenden Quell an Anekdoten. Als Schwarz in einer Partie Ld6 zur Deckung des e5 zieht, obwohl der Läufer den d7-Bauern verstellt, erinnert ihn das an einen Schaukampf der Klitschko-Brüder gegen Vladimir Kramnik. Der damalige Weltmeister hatte alle Mühe, trotz krummer Züge der Box-Brüder die Partie in ein einigermaßen glaubhaftes Remis abzuwickeln.

Als es um einen vergifteten Bauern auf b2 geht, erzählt Bischoff von einem Mann, der seinen Sohn enterbt hat, weil der immer die vergifteten Bauern auf b2 wegnahm. “Genau kriege ich das aber nicht zusammen, da muss ich noch mal Helmut Pfleger fragen”, sagt der Großmeister und kehrt zur Partie zurück.

Zu den Anekdoten kommen Bonmots wie dieses: „Als Schwabe habe ich lieber den Mehrbauern als die Kompensation.“

Auf die Perlen ist Bischoff nicht gut zu sprechen. Die „Ochsenbäckchen“, die Kritik am Sendeschluss, als es bei der World-Cup-Quali spannend wurde, auch die Kritik an Spielern, die nicht zum Interview erscheinen, wirkt nach:

Die Präferenz einer schmackhaften und gesicherten Abendmahlzeit erscheint demjenigen in einem anderen Licht, der in Magdeburg gegen 21 Uhr in einem Restaurant in der Nähe des Hotels abgewiesen wird: Die Küche sei bereits geschlossen. Und auch für mindestens einen der trotz des denkbar kurzen Weges nicht erschienenen Spieler gibt es eine schlüssige Erklärung: Der Betreffende musste zum Dopingtest.

Nach dem Gipfelmarathon von Großmeister Bischoff mit täglichen Streams dürfen am Sonntag zur Blitzmeisterschaft zwei Kommentatoren ran, die im Schachbund-Kontext neu sind und dort nicht unbedingt zu erwarten waren: Schachwirt Gunny und Blitzgott Fritzi führen die Zuschauer durchs Geschehen.

Trotz erheblicher technischer Schwierigkeiten, die mitten im Stream einen Wechsel von Lichess zu ChessBase erforderlich machten, ist diese erste Zusammenarbeit des DSB mit etablierten Schachstreamern ein Top-Event. Gerne mehr davon!

Auch in Kombination mit Klaus Bischoff. Wer stundenlang moderiert, hat es mit einem Sidekick an seiner Seite viel leichter. Diese Rolle könnte jemand spielen, der kein Großmeister ist, der Fragen aus Amateursicht stellt und dem auf die Bretter fokussierten Bischoff hilft, den Chat auf dem Zweitbildschirm im Auge zu behalten. Dem Format würde es guttun.

Wir sind gespannt, was kommt. Auf jeden Fall ist die jüngste Entwicklung erfreulich. Sie könnte der Beginn einer aufregenden Zukunft sein.


Dr. Franz Jürgen Schell, geb. 1961, lebt in Hamburg. Turnierschachspieler 1978-1982 (Ingo-Zahl 95), nur kurzes schachliches Comeback Anfang 2020 wegen Lockdown. Seit April 2020 Online-Spieler, jetzt zur Deutschen Seniorenmeisterschaft in Magdeburg wieder ins Turnierschach eingestiegen. Schreibt sonst auch auf aerzteschach.de

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Stefan Meyer
Stefan Meyer
2 Jahre zuvor

Auch in Kombination mit Klaus Bischoff. Wer stundenlang moderiert, hat es mit einem Sidekick an seiner Seite viel leichter. Diese Rolle könnte jemand spielen, der kein Großmeister ist, der Fragen aus Amateursicht stellt und dem auf die Bretter fokussierten Bischoff hilft, den Chat auf dem Zweitbildschirm im Auge zu behalten. Dem Format würde es guttun.

100% Zustimmung. Niemand hat etwas davon, wenn Klaus Bischoff selbst ständig den Chat im Blick haben muss oder sich mit technischen Problemen rumzuschlagen hat. Alle hätten etwas davon, wenn ihm jemand diese Dinge abnehmen würde und er sich ausschließlich auf seine Analysen konzentrieren könnte.