Wie ein Vogelfutterhändler 7.000 Dollar mit Schach verdiente (und das meistgesehene Match der Geschichte spielte)

Fast 1,3 Millionen Menschen schauen live ein Schachmatch: In einem TV-Studio in Indonesien spielen ein Hobbyspieler und eine IM, und die mit weitem Abstand höchste Zahl von Livezuschauern beim Schach jemals verfolgt das Duell.

Das WM-Match Carlsen-Caruana, sogar pogchamps III haben nur in der Spitze deutlich mehr als 100.000 Live-Zuschauer erreicht. Der Showdown in Jakarta zwischen dem 60-jährigen Dadang Subur und IM Irene Sukandar ist offenbar mehr als zehn Mal so interessant. IM Sukandar gewinnt 3:0.

Das enorme Interesse entsteht, nachdem sich eine Affäre um den vermeintlichen Cheater Dadang Subur hochgeschaukelt und speziell in Indonesien riesige Wellen geschlagen hat. Das Match in einem indonesischen TV-Studio ist der vorerst letzte Akt der bemerkenswerten Geschichte.

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Mittlerweile ist dieses Video vom Match fast 11 Millionen Mal gesehen worden.

Diese Geschichte beginnt am 2. März, als IM Levy Rozman, beim Schach besser bekannt als “GothamChess”, daheim in Brooklyn vor seinem Computer sitzt und vor 12.000 Zuschauern Schach auf chess.com spielt. „Dewa_Kipas“ heißt sein Gegner, und Rozman kommt das Profil dieses Spielers aus Indonesien merkwürdig vor. Binnen weniger Wochen ist das Rating von Dewa_Kipas um fast 1.000 Punkte auf 2300 gestiegen – ein Schachmeister? „Sieht aus wie ein Cheater“, sagt Rozman, dem bald der ungewöhnlich konstante Zeitverbrauch seines Gegners auffällt: an die zehn Sekunden pro Zug, immer, egal, wie komplex oder simpel die Lage ist.

Ein paar Minuten später gibt Rozman auf, bevor er im nächsten Zug mattgesetzt worden wäre. Dewa_Kipas hat gewonnen, und der IM prüft, wie die Engine das Spiel seines Gegners einschätzt: Genauigkeit 93,4 Prozent versus Rozmans 81. Ein Check der vorangegangenen Partien des Indonesiers ergibt, dass er konstant auf diesem übermenschlichen Level spielt. „Melde den Cheater“, fordert Rozmans Chat. Und das tut der Amerikaner. Wenige Stunden später sperrt chess.com das Konto von Dewa_Kipas.

Der geschlossene Account von Dewa_Kipas.

Dass die Geschichte an dieser Stelle nicht vorzeitig endet, liegt an Ali Akbar aus Bandung, Indonesien. Der 24-Jährige schätzt die Partie ganz anders ein und geht damit an die Öffentlichkeit. Dewa_Kipas heiße Dadang Subur und sei sein Vater. Der 60-Jährige, ein ehemaliger Turnierspieler, habe Levy Rozman regulär besiegt, teilt Ali Akbar seinem mehr als 3.000 Köpfe starken Facebook-Gefolge mit. Nun sei das Konto seines Vaters gesperrt, weil Rozmans Fans ihn massenhaft gemeldet hätten. „Internet-Berühmtheiten können beliebig Accounts sperren lassen. Ich schwöre, das akzeptiere ich nicht“, schreibt Ali Akbar.

Sein Facebook-Post macht in den Sozialen Medien Indonesiens die Runde. Bald füllen sich Rozmans Kanäle auf Facebook, Youtube, Instagram, Twitter mit Hass-Nachrichten und Bedrohungen, viele davon auf Indonesisch. Auch gegen seine Freundin richtet sich der oft anonyme Furor: „Hey Schlampe, wir werden dich bald töten.“ Inhaltlicher Tenor: Rozman habe seinen Status als Schach-Promi genutzt, um einen unschuldigen Spieler sperren zu lassen.

Indonesische Medien greifen die Geschichte auf. Auch sie malen das Bild des Schach-Influencers, der einem Unschuldigen, mittlerweile zum „ehemaligen professionellen Schachspieler“ erhoben, Unrecht getan hat. Dann verbreitet sich die Geschichte global. Im weltgrößten Schachforum schießen mehrere Dewa_Kipas-Threads an die Spitze der meistgelesenen Beiträge, und die Moderatoren sperren die Kommentarspalten wegen der Brigaden von Dewa_Kipas-Fürsprechern, die dort lautstark einfallen. Auf Twitter versucht Rozman derweil zu erklären, dass chess.com niemanden sperrt, weil Fans das fordern. Dass es einen geregelten Prozess gibt, der zu solchen Sperren führt.

Vergeblich. Der Aufruhr setzt sich mit unverminderter Stärke fort, beinahe im Sekundentakt werden Rozmans Kanäle mit indonesischen Kommentaren geflutet. Schließlich nimmt er Kontakt mit Ali Akbar auf. Der sagt, die geballte Belästigung tue ihm leid, beharrt aber darauf, dass es beim Schach mit rechten Dingen zugegangen ist. Die computergleichen Züge seines Vaters erklärt Akbar damit, dass der 60-Jährige mit einem Computer trainiert habe. Der Zeitverbrauch sei auf das alte Mobiltelefon seines Vaters zurückzuführen, auf dem Dadang Subur nicht so schnell ziehen könne.

In der Zwischenzeit hat das Magazin Wired die Geschichte aufgegriffen. Der Wired-Reporterin erzählt Dadang Subur, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Vogelfutter bestreitet, seine Geschichte, die eines Autodidakten, der viele Schachbücher besitze und sogar gemeinsam mit einem Großmeister trainiert habe. Wie sein Sohn bestätigt er, die Partie gegen Rozman ohne Hilfe gespielt zu haben. Sein Vater habe mit dem Programm „Shredder“ trainiert und dieses Programm mehrere Male geschlagen, sagt Ali Akbar. Ein indonesischer Andreas Scheele?

Die Reporterin fragt bei chess.com nach – und hört: „Ein absolut sicherer Betrugsfall.“ Chess.com-Mitgründer Daniel Rensch erklärt, Dewa_Kipas habe auf chess.com eindeutig übermenschlich gut gespielt, besser, als es ein Großmeister könne.

GM-Herausforderung abgelehnt

Drei Tage vergehen, bis auf den Rozman-Kanälen die Kommentare nur noch im Minutentakt eingehen, darunter zunehmend solche, die Scham für die massenhafte Belästigung und Beleidigung zuvor ausdrücken. Subur und Akbar teilen derweil mit, sie wollten jetzt beweisen, dass Subur spielen kann. Sie wollen ein Match gegen einen Schachmeister vor laufender Kamera organisieren. „Ich bin zuversichtlich zu gewinnen“, sagt Subur laut Wired.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c4/Megaranto_susanto_20081119_olympiade_dresden.jpg
GM Susanto Megaranto, Elo 2550. | via Wikipedia

Womöglich haben sie nicht damit gerechnet, dass sofort Herausforderungen eingehen. GM Susanto Megaranto möchte ein Match gegen Dadang Subur spielen, ebenso IM Anjas Novita. Subur lehnt ab, er hat seine Meinung in dieser Sache radikal geändert. Am 16. März erklärt er laut chess.com gegenüber einer indonesischen Tageszeitung, dass er aufgehört hat, Schach zu spielen. Herausforderungen werde er nicht annehmen.

Am 17. März treten Levy Rozman und Dadang Subur im Podcast #CloseTheDoor von Deddy Corbuzier auf, einem indonesischen Schauspieler, Fernsehmoderator und YouTuber, dessen Youtube-Kanal 13,8 Millionen Menschen folgen. Rozman sagt, dass er seinen Schachgegner und dessen Sohn die Sache nicht übelnimmt. Die Geschichte habe sich schlicht verselbstständigt. Auf die Frage von Corbuzier, ob Rozman “zu 100 Prozent sicher” sei, dass Subur ihn betrogen habe, windet sich der Streamer: “Ich muss chess.com zustimmen. Was kann ich sagen?”

Als unabhängige Expertin in diesem Podcast fungiert IM Irene Sukandar, die dem Publikum das Phänomen Cheating beim Schach erklären soll. Corbuzier schlägt Subur vor, ein Match gegen Sukandar zu spielen. Wieder ändert Subur seine Auffassung – diesmal akzeptiert er.

Mutmaßlich spielt eine Rolle, dass Corbuzier veritable Geldpreise für die Kontrahenten in Aussicht stellt. Als Sponsor des Matchs setzt das indonesische Onlineversandunternehmen Tokopedia 10.500 Dollar Preisgeld aus. Ein indonesischer Geschäftsmann verdoppelt diese Summe.

In drei Partien gegen die IM geht Dadang Subur chancenlos unter. Neben taktischen Patzern macht er während der knapp 90 Minuten viel Fundamentales falsch – und wird dafür belohnt. 7.000 Dollar bekommt der Vogelfutterverkäufer für die drei krachenden Niederlagen, mehr als das Doppelte des durchschnittlichen Jahreseinkommens in Indonesien.

Durch dieses Match ist das Interesse am Schach in Indonesien erheblich gestiegen. Chess.com verbucht als Folge des Vergleichs nach eigenen Angaben das etwa 40-Fache der normalen Zahl an Anmeldungen aus Indonesien. Rozman teilt auf Twitter mit, wie sehr ihn das Interesse am Spiel in Indonesien freue. Er versucht jetzt, die Geschichte in etwas Gutes für das Schach zu verwandeln, indem er Benefiz-Streams mit indonesischen Spielern organisiert.

Irene Sukandar dreht an derselben Schraube. „Die Sache hat mit Negativität angefangen, aber hat sich jetzt ins Positive gedreht. Hoffentlich hält das an“, erklärt sie laut chess.com. Sponsoren hätten jetzt gesehen, in welchem Maße Schach Aufmerksamkeit erzeugen kann. Für das Schach sei der Tag des Matches zwischen ihr und Dadang Subur „ein historischer“ gewesen.

https://twitter.com/GothamChess/status/1373957034262028290
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Chesshans
Chesshans
2 Jahre zuvor

Wieso hat das Ganze einen schalen Beigeschmack? Ist es einen Betrug wert, um die Popularität von Schach zu steigern? Schon erstaunlich zu sehen, wie das Internet inzwischen funktioniert..

Manfred Menacher
Manfred Menacher
2 Jahre zuvor

Hoffentlich macht das keine Schule, dass sich das schamlose und skrupellose Betrügen lohnt….

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[…] einen Markt für eine verlässliche, belastbare Cheater-Erkennung, eine, die es zum Beispiel einem Dewa_Kipas verwehren würde, binnen zwei Wochen sein Rating um 1.000 Punkte zu steigern, ohne […]

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