Schach-Substanz und heiterer Charme: WM-Gewinnerin Judit Polgar

Die Gewinnerin des WM-Matches steht längst fest. Judit Polgar hat als “offizielle” Kommentatorin das Kräftemessen zweier Giganten mit Klasse und Charme bereichert.

Ob beim Plaudern mit Woody Harrelson oder beim Frage-Antwort-Spiel mit DeepMind-Chef Demis Hassabis, dem Polgar und Moderatorin Anna Rudolf die Geheimnisse von AlphaZero entlockten – die Ungarin agierte so souverän, als sei der Platz im Studio vor der Kamera ihr angestammter.

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Als Duo eine WM-Entdeckung: Anna Rudolf (l.) und Judit Polgar. (Foto: Daniel King)

Dass mit Judit Polgar in erster Linie ein Schachspieler der Weltklasse durch die WM-Partien führt, geriet bei solchen Ausflügen leicht in Vergessenheit. Aber eher früher als später wandte sie sich nach dem Zwiegespräch mit ihren Gästen wieder dem Geschehen auf dem Brett zu, und dann blitzte stets die gewaltige Neuronenpower der ehemaligen WM-Kandidatin auf.

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“So eine fiese Falle”, rief Polgar nach Carlsens 35. Zug in der zehnten Partie. Während auf chess24 die Herren Grischuk, Svidler und Giri noch grübelten, hatte Judit Polgar längst durchschaut, dass Carlsens vermeintliches Übersehen in Wirklichkeit ein vergifteter Köder war, den der Champion in beiderseitiger Zeitnot für seinen Herausforderer ausgelegt hatte.

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Huch, gewinnt Weiß nicht die Dame? Nein, der Köder ist vergiftet. Hätte Fabiano Caruana hier mit gut fünf Minuten auf der Uhr 36.Db3+ Kh8 37.c4 einen Damenfang versucht, 37…Txb6! wäre ein böses Erwachen gewesen. Gleiches gilt für 36.Dd4 e3! und Schwarz gewinnt. Judit Polgar hatte beides sogleich gesehen.

Als vor einigen Jahren die Schachplattform chess24 das kongeniale Kommentatorenduo Peter Svidler/Jan Gustafsson etabliert hatte, schien es zunächst, als würde hinsichtlich schachlicher Klasse und Unterhaltungswert so schnell niemand an deren Thron rütteln können. Neben diesen beiden etablierte sich außerdem der Schachkanal aus St. Louis mit gezielt leichterer Kost als chess24-Alternative für den Gelegenheitsschachspieler. Wo soll da noch Raum sein für andere? Zumal zur WM 2018 der Branchenriese chess.com mit seiner geballten Marktmacht und Twitch-Erfahrung ins Übertragungsgeschäft drängte.

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Kasparow, Karpow, Anand, Topalow: Judit Polgar hat sie alle geschlagen. Nur gegen den deutschen Großmeister Gerald Hertneck hatte sie stets nichts zu bestellen. Eine ihrer Niederlagen gegen Hertneck, eine Französisch-Musterpartie, ist jetzt auf unserem Youtube-Kanal kommentiert zu sehen.

WM-Organisator Worldchess zeigte mit der Besetzung seiner Moderatorenstühle, wie sich diesen dreien inhaltlich das Leben schwer machen lässt. Wo Svidler/Gustafsson sich in Ironie oder Zynismus ergehen, wo in St. Louis lautstarke Oberflächlichkeit zelebriert wird, da kombinieren Polgar und Rudolf heiteren Charme mit schachlicher Substanz. Judit Polgar ist auch als Schachmoderatorin Weltklasse.

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Vera Menchik (1906-44).

Am Brett hat Judit Polgar alle geschlagen. Kasparow, Karpow, Anand oder Topalow zählen zu den Opfern der einzigen Frau, der es während der 200-jährigen Geschichte des Wettkampfschachs gelang, in die Weltklasse vorzudringen, in die Nähe des Weltmeistertitels gar.

Bis fast zum Schachgipfel aufzusteigen, blieb allen anderen großen Schachmeisterinnen verwehrt, sei es Vera Menchik in der ersten oder Maja Tschiburdanidse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese beiden schnupperten ebenso wie aktuell die Chinesin Hou Yifan an den Top 50, eine rare Errungenschaft, die doch verblasst, wenn wir ihr Judit Polgars Klasse gegenüberstellen. Jünger als Bobby Fischer war sie, als sie den GM-Titel verliehen bekam, und sie kämpfte sich bis auf Platz acht der Weltrangliste vor.

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Ein Teil des Trainingsprogramms für Vater Polgars Wunderkinder: Diese 5.334 Mattkombinationen gab Laszlo Polgar als Buch heraus, das wir auch empfehlen, weil es angesichts seines Umfangs ein Schnäppchen ist.

Die drei meisterhaft Schach spielenden Polgar-Schwestern sind das Ergebnis eines Forschungsprojekts unter dem Dach ihres Elternhauses. Vater Laszlo war überzeugt, dass es jedes Kind in jedem Studienfeld zur Meisterschaft bringen kann, wenn es nur gefördert wird. Für ihre Töchter Zsusza, Zsofia und Judit hatten sich die Eltern das Studienfach Schach ausgesucht. Zumindest am Beispiel dieser drei belegten sie, dass ihre These stimmt.

Mittlerweile haben sich alle drei vom Wettkampfschach zurückgezogen, Zsofia sogar vom Schach und aus der Öffentlichkeit allgemein. Ende 1999 heiratete sie den israelischen Arzt (und Schachgroßmeister) Yona Kosashvili. Das Paar bekam zwei Söhne, emigrierte für kurze Zeit von Israel nach Kanada, kehrte aber wieder zurück.

Zsusza, die in den USA lebt und sich jetzt Susan nennt, betätigt sich seit dem Ende ihrer Karriere als Spielerin beim Schach vor allem als Lautsprecher in eigener Sache. In aufgeklärten Schachkreisen gelten sie und ihr in ihrem Namen twitternder Ehemann Paul Truong als kaum vorzeigbar (wer mehr wissen möchte, klickt hier oder hier), was aber Susans Existenz als Schachlehrerin kaum schadet. Nicht nur bei der Schacholympiade 2008 in Deutschland durfte Susan Polgar als Ehrengast für sich trommeln. In Batumi 2018 war sie ebenfalls mit von der Partie.

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Judit Polgars hochgelobte Trilogie ist auch auf Deutsch erschienen. Dieses ist der erste von drei Bänden.

Schachlich stand Judit, die jüngste des Trios ehemaliger Wunderkinder, weit über ihren Schwestern, als sie 2014 das professionelle Spiel aufgab. Dem Schach bleibt sie gleichwohl erhalten, auch als Teamchefin der ungarischen Nationalmannschaft, aber vor allem als Botschafterin.

Schon 2012 gründete Judit Polgar eine Stiftung, die sich vor allem dem Schulschach verschrieben hat und bald auch außerhalb der Grenzen Ungarns agierte. Wenig später veröffentlichte sie eine hochgelobte, instruktive Trilogie, in der sie ihren Weg vom Schach-Wunderkind bis in die Weltklasse nachvollzieht. “Für mich war das Schreiben eine aufregende Zeitreise”, sagt Judit Polgar. Ihren Lesern soll diese Zeitreise die Ideen und Konzepte nahebringen, die zu begreifen notwendig ist, um einmal so gut zu werden wie die Autorin.

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[…] Die Gewinnerin der WM haben wir längst gekürt. Ein zweiter Gewinner sollte ebenfalls erwähnt werden. Großmeister und Schach-Erklärer Daniel King machte als Moderator der Pressekonferenzen einen souveränen und um einige Klassen besseren Job als jede andere, die WorldChess bislang damit betraut hatte. Obendrein produzierte King reihenweise Youtube-Häppchen, die gleichermaßen verdaulich wie substanziell-kompetent waren. Diesen stets schwierigen Spagat vollbringen wenige Schach-Berichterstatter unfallfrei, King absolviert ihn mit Leichtigkeit. […]

Reinhard Murina
Reinhard Murina
5 Jahre zuvor

“Kasparow, Karpow, Anand, Topalow: Judit Polgar hat sie alle geschlagen. Nur gegen den deutschen Großmeister Gerald Hertneck hatte sie stets nichts zu bestellen” Welche Bedeutung man dem Wort “sets” auch geben mag, “fairer” wäre da aus meiner Sicht genau das zu schreiben, wie es auch Gerald Hertneck tut…. “Ganz aufgewühlt meinte sie zu mir, dass sie sich hoffentlich eines Tages gegen mich revanchieren würde, aber sie sollte Unrecht behalten. Denn es kam nie wieder zu einer Partie zwischen uns beiden. Sie war schon auf dem Weg zur Weltspitze, und mein Stern begann im Grunde schon wieder zu sinken… aber dieser… Weiterlesen »