Judit Polgar, die Nationalmannschaft und die Geiseln der Hamas

Die Nationalmannschaft der Frauen hat jetzt in Berlin ein zweitägiges Training mit Judit Polgar absolviert. Die beste Schachspielerin jemals war auf Einladung des Berliner Schachverbands in der Hauptstadt zu Gast, um im Paul-Löbe-Haus des Bundestags an einer Solidaritätsveranstaltung teilzunehmen, die an die 134 noch in der Gewalt der Hamas befindlichen israelischen Geiseln erinnerte: “Chess4Solidarity – The Missing Player”.

Wenn doch die einstige WM-Kandidatin und Nummer acht der Welt in der Stadt ist, sollte daraus auch etwas entstehen, von dem der Schachsport profitiert?! Mit diesem Gedanken wandte sich Paul Meyer-Dunker, Präsident des Berliner Verbands, an DSB-Sportdirektor Kevin Högy. Der schlug einen Lehrgang mit Polgar vor, eine Idee, die sogleich Josefine Heinemann in die WhatsApp-Runde der Nationalspielerinnen warf – und auf Interesse stieß.

Judit Polgar beim Training im World Chess Club mit den Nationalspielerinnen (v.l.) Elisabeth Pähtz, Jana Schneider, Fiona Sieber, Dinara Wagner und Lara Schulze.

Blieb die Frage der Finanzierung: Honorar für Polgar plus Anreise und Übernachtung der Spielerinnen, insgesamt knapp 10.000 Euro. Diese Kosten übernahmen schließlich zu etwa jeweils einem Drittel der Berliner Schachverband, die „Emanuel Lasker Gesellschaft“ sowie der Deutsche Schachbund. Als Ort des Geschehens war bald der „World Chess Club“ gefunden, der, wie berichtet, mit dem Berliner Verband kooperiert. Die Lasker-Gesellschaft nutzte die Gelegenheit, Polgar einen Preis zu verleihen.

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„Unglaublich wertvoll“ seien die 2×6 Stunden mit Polgar gewesen, schrieb auf Instagram Fiona Sieber, ein Teil des Quintetts, das mit der ungarischen Schachlegende arbeitete. Außerdem Teil der Trainingsgruppe: Lara Schulze, Jana Schneider, Elisabeth Pähtz und Dinara Wagner. Auch Kateryna Dolzykhova wollte teilnehmen, erkrankte aber kurzfristig und sagte ab.

Lara Schulze berichtet in ihrem Blog über den Lehrgang. Unter anderem schreibt sie: „Judit erzählte uns von ihrer Karriere, ihren Erfahrungen, ihren Erfolgen und ihren Erlebnissen mit Kasparow, Anand und Co. Sie gab uns viele wichtige und interessante Tipps für den Umgang mit Verlustpartien, das Verhindern von Zeitnot und die besten Strategien fürs eigene Training. Wir sprachen viel über das richtige Mindset, Selbstbewusstsein und weitere schach- und sportpsychologische Themen.“

Zu den besprochenen Partien zählte Polgars instruktiver Sieg 1998 in Wijk an Zee über Viswanathan Anand, der nach einer ganzen Reihe lehrreicher Entscheidungen in eine schwierige, sehr schöne Kombination mündete, vielleicht die bekannteste, die Judit Polgar je gespielt hat:

Weiß zieht und gewinnt. Nicht einfach, aber sehr schön.

Die Lösung sowie die komplette Anti-Sizilianisch-Demonstration im Video:

Als Judit Polgar Viswanathan Anand zerlegte.

Zuvor hatte der Berliner Schachverband im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages zu einer politischen Schachveranstaltung geladen und dafür die Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger als Gastgeberin gewonnen. Gemäß einer Pressemitteilung der Veranstalter entstand die Solidaritätsveranstaltung aus dem Wunsch, das Schicksal der bis heute in Gefangenschaft befindlichen Geiseln in Erinnerung zu rufen und sich solidarisch mit den jüdischen und israelischen Schachfreundinnen und Schachfreunden zu zeigen.

Paul Meyer-Dunker, Judit Polgar, Sofia Polgar und Lior Aizenberg. | Foto via Berliner Schachverband

Von der Eskalation in Gaza ist das Schachleben hier wie dort nicht unberührt.

Nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, der mehr als 1400 israelische Leben kostete, geriet kurz vor seinem 9. Geburtstag mit Omad Munder-Zichri ein Schachspieler in die Gewalt der Terroristen. Der Viertklässler war zum Zeitpunkt der Attacke zu Besuch bei seinen Großeltern in einem grenznahen Kibbuz. Sein Onkel kam ums Leben. Er wurde mit seiner Mutter und Großmutter verschleppt. Nachdem er seinen Geburtstag als Geisel erlebt hatte, ist er wieder frei.

Am Berliner Schachspielbetrieb nimmt die Schachabteilung des jüdisch geprägten Vereins Makkabi Berlin teil. Nach dem 7. Oktober stellte der Verein mit seinen 75 Prozent nichtjüdischen Mitgliedern den Spiel- und Trainingsbetrieb komplett ein. Später nahm er ihn unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen, teilweise unter Polizeischutz wieder auf.

Jüdische Sportlerinnen und Sportler haben nach dem 7.Oktober Spielbetrieb und Training einstellen müssen, weil sich ihre Sicherheit nicht garantieren ließ.

Jüdinnen und Juden müssten in Deutschland zu oft erleben, wie Antisemitismus abgewiegelt wird, sagte Schönberger zur Begrüßung vor rund 100 Gästen. Der Kampf gegen Antisemitismus werde gesellschaftlich „leider nicht in dem Maße geführt wird, wie es nötig wäre“. An dem anschließenden Podium nahmen Aaron Sagui, Gesandter der Israelischen Botschaft, Ingrid Lauterbach, die Präsidentin des Deutschen Schachbunds, und Lior Aizenberg teil, Gründer und CEO von “Chess4All” und Initiator von “Chess4Solidarity”. Vertreterinnen und Vertreter des „Hostages and Missing Families Forum“ berichteten über die teilweise bis heute währenden Gefangenschaften von Verwandten und das Leben im Grenzgebiet zu Gaza.

Lauterbach sieht den Weltschachverband FIDE in der Pflicht, bei Meisterschaften die Teilnahme von israelischen Schachspielerinnen und Schachspielern zu ermöglichen – und einzugreifen, sollten Israelis boykottiert werden. Ihrer Auffassung nach sollte die FIDE boykottierende Verbände sanktionieren. Derartige Sanktionen gegen den Iran standen bei der FIDE vor vier Jahren auf der Agenda, aber die Angelegenheit ruht seitdem. Iranische Athleten sind weiterhin angehalten, den Wettkampf mit Israelis zu boykottieren.

Auch Judit und Sofia Polgár hielten kurze Ansprachen. Sofia Polgar verwies auf ihren Lebensmittelpunkt in der Nähe von Tel Aviv in Israel. Dies sei eine sehr emotionale Veranstaltung für sie.  Sie äußerte ihre Freude über die Solidarität.

Judit Polgar beim Simultan, gefilmt von Dinara Wagner.

Dann wurde Schach gespielt, simultan, 40 Bretter, von denen Judit und Sofia jeweils 20 übernahmen. Über mehr als drei Stunden maßen sie sich mit einer Reihe von bekannten Berliner Spielerinnen und Spielern sowie Talenten. Unter anderem Schachboxweltmeisterin Alina Rath war dabei.

36:4 triumphierten die Polgars. Sofia verlor zwei Partien und gab drei Remis ab. Jan Holger Neuenbäumer von den SF Siemensstadt gelang es als Einzigem, Judit Polgar einen halben Punkt abzuringen.

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Kommentierender
Kommentierender
1 Monat zuvor

Warum bezahlt ein Landesverband mehrere Tausend Euro für Trainingseinheiten von Nationalspielerinnen, von denen kaum welche aus Berlin stammen? Aus welchem Etatposten mag das finanziert worden sein? Als zahlendes Mitglied des Berliner Schachverbandes würde ich das sehr kritisch bewerten.

Matthias
Matthias
1 Monat zuvor

Eine einseitige, und ziemlich gruselige Veranstaltung, die die aktuelle Lage in der Region, und vor allem in Gaza vollkommen außer Acht lässt. Nun – heute – sind sogar die USA von der Seite Israels gerückt. Endlich.
Btw: Israel ist das Land, gegen das die meisten UN Resolutionen verhängt wurden.
Jedes Menschenleben zählt, jedes. Das sollten gerade wir Deutschen wissen.

Facepalm
Facepalm
1 Monat zuvor

Also ca. 8.000 € Honorar für 2×6 Stunden?

Jan
Jan
1 Monat zuvor

Politik mit Sport vermatschen ist ein NOGO! Besonders wenn es ekelhafter Opportunismus ist. Die Krone ist diese perverse Geldverschwendung, oder ist das schon die Veruntreuung von Geldern?

joschi
joschi
1 Monat zuvor

Ich mag kein politisches Engagement im Sport. Der Konflikt in Israel ist zu kompliziert, um Position zu beziehen. Paul Mayer-Dunker kann privat tun, was er will, aber in seiner Position als Berliner Schachverbandchef und DSB-Funktionär ist politisches Engagement inakzeptabel.
Er hätte sich das Training wenigstens von Israel sponsern lassen können …

Genozid in Palestine
Genozid in Palestine
1 Monat zuvor

Ich finde es erstens : sehr fragwürdig – warum sponsort ein Klammer Verband wie der Deutsche Schachbund solch ein Event ?
Zweitens : man unterstützt ein Land (Israel) welches gerade massiv einen Genozid begeht. Es sind 32k Menschen umgebracht worden und davon ca 40% Kinder!
Hören Sie endlich auf diesen Genozid auf allen Ebenen zu unterstützen!

Thomas Richter
Thomas Richter
1 Monat zuvor

Rein schachlich: Polgars Kombination fällt für mich unter die Rubrik “entweder man sieht es oder man sieht es nicht” – (wie schnell) haben es die Nationalspielerinnen gesehen?
Es ist ja eine Variante auf ein bekanntes Motiv, lehrbuchmäßig (weißer Springer auf e5, schwarzer König auf g7, schwarze Dame auf d6) z.B. 1.Txf7+ Txf7 2.Dh8+ Kxh8 3.Sxf7+ und 4.Sxd6. Variante auch Seirawan-Kogan, World Open 1986 – wer nicht versteht, warum Kogan nach 39.Lxe6+ aufgegeben hat: es steht auch in Kommentaren auf chessgames.com .

Silvio
Silvio
1 Monat zuvor

Da stellt jemand recht kurzfristig in Berlin einen lohnenswerten Event auf die Beine: Lohnenswert für die trainierten Spielerinnen Lohnenswert für die Teilnehmer am Simultan Lohnenswert für das Image von Schach und DSB in der Politik Lohnenswert für die öffentliche Wirkung von Schach. Und prompt melden sich hier die kleinen und großen Mäkler, kritisieren Ausgaben und Abläufe, beanstanden Finanzierung und Inhalte usw.. Die meisten Kommentare hier sind für mich einfach nur kläglich. Das übliche Rumkritteln und Beckmessern statt vielleicht mal selbst etwas Ähnliches oder Kleineres zu organisieren. Von mir aus großes DANKESCHÖN an alle Organisatoren und Beteiligten dieses Events! Danke auch… Weiterlesen »