Gut ein Jahr ist es her, da stand Dinara Wagners Elozahl bei 2287, weit entfernt von internationaler Spitzenklasse. Für die Grand-Prix-Serie in der WM-Qualifikation war sie nicht qualifiziert. Auch für den deutschen Grand-Prix-Ausrichterfreiplatz war sie nicht gesetzt. Die Chance, drei Turniere im Kreis der Weltbesten zu spielen, musste sie sich erst einmal auf nationaler Ebene am Brett erkämpfen.
Jetzt steht ihre Elozahl bei 2447. Bei der dritten ihrer drei Grand-Prix-Etappen hat Wagner in einem kaum glaublichen Maße aufgetrumpft, ein Weltklassefeld hinter sich gelassen und eine GM-Norm erzielt. Nach Elo hat sie die Top 30 der Welt geentert, nach Deutscher Wertungszahl war sie nach diesem Erfolg kurzzeitig allein die nationale Nummer eins. In der Zwischenzeit hat Elisabeth Pähtz aufgeschlossen. Jetzt teilen sich Königin und Kronprinzessin mit DWZ 2472 den ersten Platz.
Zeit, sich neue Ziele zu setzen? Eigentlich wollte Wagner Mitte 2022 ja nur ein Schachjahr einlegen, um sich dann wieder in erster Linie ihrem Studium in Heidelberg zu widmen. Nun ist dieses Schachjahr so gut gelaufen, dass sich das Studium bis auf Weiteres hinten anstellen muss.
Im Interview zu ihrem Grand-Prix-Triumph spricht Dinara Wagner unter anderem über ihre Zukunftspläne, lässt das Turnier auf Zypern Revue passieren – und kann leider kein Patentrezept gegen Zeitnot anbieten, obwohl es ihr gelungen ist, dieses Problem vom einen zum anderen Turnier abzustellen.
Dinara, mittlerweile hattest du einige Zeit, dich vom Grand Prix zu erholen. Wie geht es dir?
Anfangs konnte mich gar nicht groß erholen. Als ich zurückkam, gab es gleich eine große Party. Wir haben mit Familie und Freunden meinen 24. Geburtstag nachgefeiert. Aber es stimmt, so ein langes Turnier ist sehr anstrengend und kostet Kraft. Die Erholung davon steht bei mir jetzt auf dem Programm. Ich mache gerade mit einer Freundin Urlaub in Tiflis, Georgien. Aktive Erholung, wir erkunden die Stadt, unternehmen viele Spaziergänge. Zwar fühle ich mich noch ein wenig erschöpft, aber ich spüre, dass mir dieser Urlaub sehr guttut.
Der Grand-Prix-Sieg auf Zypern war sportlich dein bei weitem größter Erfolg bislang. Du kannst unmöglich damit gerechnet haben, derart zu triumphieren. Mit welchem Ziel bist du ins Turnier gegangen?
Auf jeden Fall wollte ich besser abschneiden als beim Münchner Turnier kurz zuvor, bei dem ich Letzte geworden war. Ich dachte, wenn ich einen Platz im Mittelfeld belege, dann sollte das in Ordnung sein.
Deine erste Grand-Prix-Etappe mit der IM-Norm war sehr gut, die zweite eher bescheiden, die dritte überragend. Wie kommt das?
Ein wichtiger Faktor war sicherlich, dass mir diesmal der Start gelungen ist.
Du hast gleich in der ersten Runde die Weltranglistenzweite Aleksandra Goryachkina besiegt.
Das hat mir Selbstvertrauen gegeben, von dem ich in den Runden danach profitiert habe, ein großer Unterschied zu den beiden Turnieren davor, in die ich mich nach misslungenem Start erst einmal reinkämpfen musste. Diesmal lief es einfach.
Trotzdem musstest du manchen kritischen Moment überstehen.
Das stimmt, die Gegnerinnen waren ja auch extrem stark. Zum Beispiel gegen Kateryna Lagno oder Alexandra Kosteniuk sah es zeitweise nicht so gut für mich aus. Wahrscheinlich sind solche Phasen in schwierigen Partien leichter zu überstehen, wenn es generell läuft und du Selbstvertrauen ausstrahlst. Wenn du an dich glaubst, lässt du nicht so schnell nach, verteidigst dich hartnäckig, und irgendwann bietet sich die die Chance, wieder in die Partie zu kommen. Aber ich will gar nicht bestreiten, dass der eine oder andere etwas glückliche halbe oder ganze Punkt dabei war.
Bislang schien es fast ein Markenzeichen von dir zu sein, dass du regelmäßig in starke Zeitnot kommst. Davon war diesmal fast nichts zu sehen.
Darüber hatte ich intensiv mit meinem Trainer gesprochen. Die ständige Zeitnot war ein Problem. Ich habe mir bewusst gemacht, dass es nicht schlimm ist, nein, dass es sogar gut ist, ab und zu nicht den allerbesten Zug zu spielen, wenn ich ihn nur recht zügig spiele. Auf diese Weise vermeide ich später in der Partie grobe Fehler, die sich zwangsläufig einstellen, wenn ich keine Zeit mehr auf der Uhr habe.
Schneller zu spielen, um nicht in Zeitnot zu kommen, haben sich schon viele Schachspielerinnen und -spieler vergeblich vorgenommen. Wenn sie dann am Brett sitzen, fangen sie doch wieder an zu grübeln. Welchen Hebel hast du gefunden, um dieses Problem vom einen zum anderen Turnier abzustellen?
Ein Patentrezept kann ich leider nicht anbieten. Ich hatte mir in Absprache mit meinem Trainer vorgenommen, das unbedingt zu ändern, und dann habe ich es geändert. Wahrscheinlich spielt auch bei diesem Thema eine Rolle, dass ich früh Selbstvertrauen getankt hatte und dass es dann einfach lief.
Wer ist dein Trainer?
Wir haben vereinbart, dass das geheim bleibt.
Rund-um-die-Uhr-Zugriff auf einen 2600-Großmeister ist eine Ressource, die sich nicht vielen bietet. Welche Rolle spielt dein Mann Dennis?
Dennis und ich haben vor dem Turnier gemeinsam an meinem Schach gearbeitet, aber währenddessen gar nicht. Trotzdem war Dennis als mentale Stütze während des Turniers ganz wichtig für mich. Wir haben jeden Tag gesprochen. Übrigens war die Unterstützung aus der Ferne auch ansonsten fantastisch. Ich habe täglich aufmunternde, anspornende Nachrichten von der Familie und Freunden bekommen, dafür bin ich dankbar. Auch diese Unterstützung hat dazu beigetragen, dass es so gut lief.
Du hattest vier Runden vor Schluss die IM-Norm sicher. Und brauchtest dann noch zwei Punkte aus vier Partien für eine GM-Norm. Wenn man noch vier Remis braucht, läuft man dann Gefahr, vielleicht auch unterbewusst das eigene Spiel umzustellen und defensiver zu werden?
Glaube ich nicht. Ich habe das als komfortable Situation empfunden, als sportlich machbar. Aber dann habe ich ja ausgerechnet an meinem Geburtstag gleich eine Partie verloren…
…und du musstest in der letzten Runde gewinnen, um dir noch die GM-Norm zu sichern. Mit Schwarz gegen eine 2500-GM. Wie bist du diese wichtige Partie angegangen?
Ich wollte vor allem solide spielen, weil ich Bella Khotenashvili als sehr unternehmungslustig eingeschätzt habe, eine Gegnerin, gegen die ich gar nicht viel tun muss, um eine dynamische Partie mit Ungleichgewichten zu bekommen. Ich war mir sicher, wenn ich solide stehe und ansonsten nicht viel los ist, dann würde sie versuchen, Chancen zu kreieren. Und das wiederum würde mir Chancen geben.
Wir haben zuletzt im Juni 2022 gesprochen. Du sagtest, du wollest im kommenden Jahr dein Studium zurückstellen und dich mehr auf Schach konzentrieren. Jetzt ist dieses Jahr um, du stehst unter den besten 30 der Welt und näherst dich Regionen, in denen du als Profi leben könntest. Wie geht es weiter?
Das ist eine Frage, die auch zwischen Dennis und mir aufgekommen ist. Aufgeben möchte ich mein Studium nicht, das ist keine Option. Ich will auf jeden Fall zweigleisig fahren und irgendwann meinen Hochschulabschluss in der Tasche haben. Trotzdem wird in der nächsten Zukunft mein Fokus auf dem Schach bleiben. Nachdem es zuletzt so gut gelaufen ist, will ich herausfinden, was ich noch erreichen kann. Mittelfristig muss ich dann sehen, wie ich Schach und Studium miteinander verbinde.
Sehen wir dich in der nächsten Saison in der Bundesliga und der Frauenbundesliga?
In der vergangenen Saison habe ich ja schon Bundesliga-Einsätze für den SC Viernheim gehabt. Ich hoffe, dass das auch in der kommenden Saison so sein wird. Auch in der Frauenbundesliga werde ich wieder spielen, allerdings für einen anderen Verein. Ich wechsele zur OSG Baden-Baden.
Nach dem Grand Prix auf Zypern hast du in einem Interview gesagt, dass du am liebsten sofort die zweite GM-Norm nachlegen willst. Beim GM-Rundenturnier während der Dortmunder Schachtage bietet sich eine Gelegenheit dafür.
Was ich aus der ersten Freude heraus auf Zypern gesagt habe, war schon sehr optimistisch. In Dortmund müsste ich für eine GM-Norm in einem starken Feld sieben Punkte aus neun Partien holen. Natürlich ist das nicht unmöglich, aber ich kann kaum erwarten, dass jetzt jedes Turnier so überragend läuft wie der Grand Prix in Nikosia. Erst einmal möchte ich mir den IM-Titel sichern, das ist mein unmittelbares Ziel. Dass ich das Zeug zum GM habe, glaube ich durchaus, aber ich nehme an, dass ich bis dahin noch einige Zeit brauchen werde.
Für Leserinnen und Leser dieses Interviews hast du eine Partie aus dem Grand Prix vorbereitet. Welche?
Meine Weißpartie aus der vierten Runde gegen GM und Blitzschach-Weltmeisterin Nana Dzagnidze, ein Beispiel dafür, dass auch bei diesem gelungenen Turnier nicht alles perfekt gelaufen ist. Ich kam mit Vorteil aus der Eröffnung, hatte gute Gewinnchancen im Endspiel, habe aber den richtigen Plan nicht gefunden. Das Ergebnis war zwar nicht in meinem Sinne, aber ich finde die Partie inhaltsreich und instruktiv.
(Titelfoto: Mark Livshitz/FIDE)
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