Sollte Magnus Carlsen nicht zum WM-Match 2023 antreten, wird Ian Nepomniachtchi gegen Ding Liren um den Titel spielen. Das ergab der 14. und letzte Spieltag des Kandidatenturniers 2022, an dem der um einen halben Punkt zurückliegende Chinese dem US-Amerikaner Hikaru Nakamura durch einen Sieg im direkten Vergleich den zweiten Platz entriss.
Nepomniachtchi beendete den Wettbewerb als ungeschlagener Erster mit 9,5 Punkten aus 14 Partien, dem besten Ergebnis jemals in einem Kandidatenturnier des gegenwärtigen Formats. Die herausragende Leistung des Russen repräsentiert auch eines der bemerkenswertesten Comebacks der Schachgeschichte. Nach seinem WM-Debakel Ende 2021 hatten nicht wenige Beobachter gemutmaßt, davon werde sich der Herausforderer nicht so bald erholen.
Schon während der vorletzten Runde, als Nepos Sieg bei zwei Punkten Vorsprung mehr oder weniger feststand, geriet der Wettstreit der Kandidaten in den Hintergrund. Magnus Carlsen erschien im Palast von Santona – und damit die personifizierte Antwort auf die Frage, worum die WM-Kandidaten eigentlich spielen.
Carlsen war gekommen, um hinter verschlossenen Türen mit FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich und -Generaldirektor Emil Sutovsky die WM-Frage zu besprechen. Auf der Grundlage dieses Austauschs erarbeitet die FIDE einen Vorschlag zum Modus des WM-Matches 2023. Dazu soll sich Carlsen bis zum 20. Juli erklären.
Ein Ultimatum stellt dieses Datum nicht dar, eher eine dringende Bitte, an der Gestaltung des nächstens WM-Matches zielführend mitzuarbeiten. Für FIDE und potenzielle Ausrichter ist das nächste Match leichter zu organisieren, wenn klar ist, wer spielt und nach welchem Modus. Mancher westliche Organisator mag exklusiv an einem Rückkampf Carlsen-Nepomniachtchi interessiert sein, an einer WM Nepomniachtchi-Ding nicht. Chinesische Organisatoren könnten es andersherum sehen.
Die Verhandlungsposition der FIDE gegenüber Carlsen und die Organisation eines WM-Matchs mit siebenstelligem Preisfond wäre einfacher, hätte Nakamura das Kandidatenturnier gewonnen oder wäre zumindest Zweiter geworden. Für den Fall, dass Carlsen abwinkt, hätte der Weltverband die WM-Konstellation Nepo versus Naka in der Hinterhand gehabt. Dafür Geld und einen Veranstaltungsort aufzutreiben, wäre allein wegen des Millionenpublikums, das Nakamura mitbringt, leicht gewesen. Außerdem: Russland versus USA, auch das ein Aspekt, der dem Match gut 50 Jahre nach Fischer versus Spassky einige Aufmerksamkeit beschert hätte.
Nun droht Nepo versus Ding, schachlich ein Leckerbissen, keine Frage, aber wen außerhalb der harten Fan-Szene interessiert das? Zumal wenn es in Nowosibirsk oder Guangzhou ausgetragen wird? Kein Wunder, dass Dvorkovich und Sutovsky längst öffentlich betont haben, wie sehr sie sich einen Verbleib des Weltmeisters im WM-Zyklus wünschen.
Nepo versus Ding wäre nicht nur viel weniger attraktiv als Carlsen versus Nepo. Ein Abtritt des unbestritten besten Schachspielers der Welt und ein WM-Match der beiden Zweitbesten würde dem Sport einmal mehr eine Spaltung bescheren: hier der offizielle Weltmeister, dort der beste Spieler. Ein FIDE-Weltmeister von Carlsens Gnaden wäre nach außen schwer vermittelbar. Er hätte ein Legitimationsproblem.
Carlsen würde eine solche Spaltung weniger schmerzen als den Weltverband. Der Norweger braucht die FIDE längst nicht so sehr, wie die FIDE ihn braucht. Diese Konstellation setzt Dvorkovich und Sutovsky unter Druck, den Vorstellungen ihres Champions entgegenzukommen.
Womöglich ist der aus der Match-Müdigkeit des Weltmeisters entstandene Druck heilsam. Dass das WM-Match als lange Folge klassischer Partien sein Verfallsdatum erreicht hat, steht spätestens seit Carlsen-Caruana 2018 auf der Tagesordnung. Aber für radikale Änderungen (und das Verkaufen derselben an die traditionsbewusste Schachszene, deren Aufschrei abzusehen ist) fehlte ohne Druck der Mut. Noch Ende 2021, Carlsen versus Nepo, haben Dvorkovich und Co. ein allenfalls marginal verändertes WM-Reglement als Reform dargerstellt.
Soll die Ära Carlsen wie gewünscht weitergehen, muss die FIDE jetzt liefern – und eine Balance finden zwischen der Tradtion, die 1886 mit Wilhelm Steinitz begann und die es fortzusetzen gilt, und den Anforderungen einer neuen Zeit. Im Raum stehen zwei Stichtage: Der 20. Juli, bis zu dem Dvorkovich Carlsen um eine Wasserstandsmeldung gebeten hat, und der 7. August, der Tag, an dem Dvorkovich abgewählt werden könnte.
“Die Ära des Schachweltmeisters Magnus Carlsen könnte bereits in wenigen Wochen zu Ende gehen”, meldete der “Standard” – falsch. Auch wenn Magnus Carlsen sich bis zum 20. Juli nicht bei der FIDE meldet, bleibt er trotzdem Weltmeister. Der Fixpunkt für alle Beteiligten ist und bleibt die Vertragsunterzeichnung zum WM-Match. Die hatte sich schon in den vergangenen Jahren länger hingezogen, als der FIDE lieb war. 2021 in Dubai war es weniger die WM-Unlust des Titelverteidigers als die in Dubai verbotenen Glücksspiel-Geschäfte seines Sponsors Unibet, die eine Vereinbarung zur Zufriedenheit aller Beteiligten schwierig machte.
Unmittelbar nach dem Treffen in Madrid verbreitete die Zeitung El Pais, Carlsen habe den FIDE-Oberen seine Vorstellungen von einem WM-Match mehr oder weniger diktiert. In Wirklichkeit dürfte es eher ein Austausch gewesen sein, auf dessen Basis die FIDE ein Kompromissformat entwickelt, das sie Carlsen und Nepomniachtchi jetzt vorlegt.
Wie das genau aussieht, ist nicht bekannt. Sutovsky sagte auf Anfrage von chess.com, die Sache sei zu sensibel, dazu wolle er sich nicht öffentlich äußern. In welche Richtung die FIDE plant, lässt sich trotzdem anhand der vielen öffentlichen Äußerungen aller Beteiligten zusammenpuzzlen.
Fest steht schon jetzt: Carlsens dem Vernehmen nach bevorzugtes Modell, statt einer Turnierpartie einen Satz von vier Schnellpartien pro Spieltag (analog zu seiner Meltwater Champions Chess Tour), wird sicher nicht zur Anwendung kommen. Es wäre zu radikal. Carlsen sieht das selbst, dem Vernehmen nach hat er im Gespräch mit der FIDE gar nicht erst darauf bestanden.
Beim WM-Match 2023 wird klassisches Schach gespielt – aber wahrscheinlich nicht ausschließlich. Fest steht nämlich auch: Der Modus des WM-Matches wird sich ändern. Die Frage ist, wie stark diese Änderung ausfällt.
Eine Möglichkeit, ein WM-Match auszutragen, wäre, Sätze mit einer geraden Anzahl von klassischen Partien zu spielen. Sätze, die unentschieden enden, werden per Tiebreak entschieden. Zu einem solchen “Tennis-Format” mit drei Sätzen hatte die FIDE schon vor dem Kandidatenturnier die Meinungen von Top-Ten-Spielern eingeholt. Das ließ Ian Nepomniachtchi im chess.com-Stream zum Kandidatenturnier durchblicken, bevor Carlsen nach Madrid kam.
Demnach könnte ein WM-Match über drei Sätze mit jeweils vier Turnierpartien ausgetragen werden. Sollte es am Ende eines Satzes 2:2 stehen, entscheidet ein Tiebreak mit vier Schnellpartien, danach ggf. Blitz und Armageddon. Theoretisch könnte ein WM-Match nach sechs Turnierpartien vorbei sein, sollte einer der Kontrahenten beide Sätze vorzeitig gewinnen. Länger als zwölf Turnierpartien könnte das Match nicht dauern.
Anders als Ding Liren und Hikaru Nakamura, die beide fest davon ausgehen, dass Carlsen spielen wird, sagte Dvorkovich nach der Begegnung in Madrid zwar, er würde eine Titelverteidigung Carlsens bevorzugen. Aber er geht noch lange nicht davon aus, dass es dazu kommt. Dvorkovich ist „mäßig optimistisch“. Sein Generalsekretär sieht das ähnlich: „Magnus meint, was er gesagt hat.” Für die FIDE gilt: “Wir suchen nach Möglichkeiten, Carlsen im WM-Zyklus zu halten.“
Den Modus des WM-Matchs nach Carlsens Vorstellungen umzukrempeln und klassisches Schach quasi abzuschaffen, ist allerdings keine Möglichkeit, auf die sich die FIDE-Führung einlassen würde. Gleichwohl gab sich Dvorkovich offen dafür, den Match-Modus zu ändern: hin zu einem Format, in dem auch kürzere Bedenkzeiten eine Rolle spielen. „Dahin geht der Trend“, so Dvorkovich. „Die Frage ist, wie schnell wir diese Änderungen vornehmen sollten.“
Ich finde der Zyklus der WM alle zwei Jahre ist viel zu kurz. Da kann man Carlsen schon verstehen, dass er nicht Lust hat dafür ständig ins Trainingslager zu gehen. Wenn die WM nur alle drei oder sogar nur alle vier Jahre wäre, würde die Exklusivität des Events steigen – und der Titelverteidiger wäre entlastet.
“Die herausragende Leistung des Russen repräsentiert auch eines der bemerkenswertesten Comebacks der Schachgeschichte. Nach seinem WM-Debakel Ende 2021 hatten nicht wenige Beobachter gemutmaßt, davon werde sich der Herausforderer nicht so bald erholen.” Gab es das, leicht verändert, nicht schon einmal anno 2014? “Die herausragende Leistung des Inders repräsentiert eines der bemerkenswertesten Comebacks der Schachgeschichte. Nach seinem WM-Debakel 2013 hatten nahezu alle Experten suggeriert, davon werde sich der Ex-Weltmeister nie wieder erholen.” Ohnehin hieß es, Anand sei erledigt und solle vom Turnierschach zurücktreten. Parallele: Anand hatte bei Halbzeit noch einen Konkurrenten, aber Aronian ist dann in der zweiten Turnierhälfte komplett eingebrochen… Weiterlesen »
[…] WerbungCarlsen, Nepo, Ding – und jetzt?Die Frage ist beantwortet. Carlsen scheidet freiwillig aus, Nepo und Ding spielen um den Titel. […]