Ambitioniert und mit Profi-Attitüde spielt Matthew Sadler nicht mehr, aber das hält den britischen Großmeister nicht davon ab, mit einer Elo von 2694 auf Rang 43 der Weltrangliste zu stehen. Und gäbe es in der Weltrangliste eine Kombinationswertung aus Schach- und Computerschach-Verstand, wahrscheinlich stünde er auf Platz 1.
Dass die Lust des 47-Jährigen auf Schach neu und in ungeahntem Maße entflammt ist, liegt an einer Maschine: 2018 war Sadler der einzige Schachmeister, dem DeepMind exklusiven Zugang zu den von AlphaZero gespielten Partien gewährte – eine Offenbarung. Im Gespräch mit dieser Seite hat Sadler von dieser “großen emotionalen Erfahrung” berichtet:
Wenig später erschien “Game Changer“, das Buch, das die Einsichten der Supermaschine so herunterbricht, dass Menschen davon lernen können. Beginnend mit der AlphaZero-Revolution hat sich das menschliche wie das maschinelle Schach seitdem rasant entwickelt. Parallel hat Sadler spezifische Trainingsmethoden ersonnen, wie die Engines uns helfen können, bessere Schachspieler zu werden. Und er hat diese Methoden aufgeschrieben: “The Silicon Road to Chess Improvement” ist gerade erschienen.
Nun, da das zweite Buch fertig ist, widmet sich Sadler dem Schach zweier menschlicher Spieler. Das WM-Match in Dubai kommentiert er gemeinsam mit Garry Kasparow für dessen Portal kasparovchess.com, außerdem für seinen “Silicon Road”-YouTube-Kanal. Vor Beginn der dritten Partie fand er die Zeit, in einem Gespräch mit Stefan Löffler/Frankfurter Allgemeine Zeitung und dem Schreiber dieser Zeilen seine Eindrücke vom WM-Auftakt zu teilen.
Wir haben Sadler vor dem Hintergrund des WM-Kampfs auch nach der Bedeutung von Engines fürs Spitzenschach, nach Trainingsmethoden und technischen sowie schachlichen Entwicklungen befragt. Dieser Teil des Gesprächs wird demnächst veröffentlicht. Heute, vorab, geht es ausschließlich um den Auftakt des Matches Carlsen versus Nepomniachtchi.
Matthew, Schach-Weltmeisterschaft! Gefällt dir, was du siehst?
Ein toller Start, WM-würdige, inhaltsreiche Partien, Schwergewichtsklasse. Beide sind gut in Form, das ist vielversprechend. Wir werden bald entschiedene Partien sehen. Magnus versucht offenbar, frühzeitig einen ersten Punch zu setzen. Aber vor allem hat mich beeindruckt, wie präzise Magnus‘ Spiel wurde, als er in der zweiten Partie in eine schwierige Lage geraten war. In dieser Phase hat er fast ausschließlich den Engine-Zug gespielt. Auch Nepo hat mich immer dann beeindruckt, wenn es schwierig für ihn war. In der ersten Partie etwa nach dem kleinen Fehler 22.Lf4. Oder in der zweiten, nachdem Magnus volle Kompensation gefunden hatte. Andere wären kollabiert, Nepo blieb solide und stabil, er hat jeweils ungefährdete Remisen rausgeholt.
Kann er diese Stabilität halten? Seine Launenhaftigkeit galt ja bislang als größte Schwäche.
Werden wir sehen. Dies ist sein erstes WM-Match. Wahrscheinlich wird auch Nepo selbst erst hinterher wissen, ob er wirklich all das hat, was es braucht, um auf diesem Level über diese Distanz zu bestehen.
War Magnus‘ Versuch in der ersten Partie wirklich der Versuch, früh einen Punch zu setzen? Objektiv betrachtet, steht er etwas schlechter.
Tat er das? Ich mochte seine Vorbereitung sehr. Was Magnus mit 8…Sa5 begonnen hat, ist recht forciert. Lass eine Engine die Stellung spielen, dann gelangst du fast automatisch zum 16. Zug der Partie. Für eine vorbereitete Variante erscheint mir das eine gute Wahl: Dem Gegner keine Möglichkeit geben, eigene Ideen einzubringen, sondern ihn in eine Variante zwingen, die zu etwas führt, dass du ausführlich präpariert hast. Natürlich kannst du argumentieren, dass die Engine nach 16 Zügen Weiß bevorzugt. Aber finde mal einen Plan für Weiß, etwas, das deinen Mehrbauern zur Geltung bringt. Schwierig. Auf der anderen Seite zeigen Engine-Partien, dass Schwarz gleich eine ganze Reihe von Plänen zur Verfügung hat, eigenes Spiel aufzuziehen. Verlauf und Ergebnisse von Engine-Partien offenbaren, dass die Position komfortabel für den Schwarzen mit seinem Läuferpaar und seiner schönen Struktur ist. Außerdem ist die Stellung reichhaltig genug, dass jedes Ergebnis herauskommen kann. Weiß muss nur ein wenig vom rechten Pfad abkommen, dann wird Schwarz am Drücker sein. Und genau das ist ja in der Partie passiert, der Lohn für eine Vorbereitung, die darauf abzielte, auch mit Schwarz Gewinnchancen zu suchen.
Gehen die Engines wirklich alle bis zu Zug 16? 14…Dxe5 15.Dxb7 Dh2 war die forcierte Alternative zu Magnus‘ 14…Tfb8.
Dazu habe ich gerade ein Video aufgenommen. Als ich Nepos 14.Kf1 sah, dachte ich auch sofort: „Wow, und jetzt …Dxe5!“ Das scheint auch in Ordnung zu sein, aber es forciert weiter an einer Stelle, an der Magnus Nepo zwingen wollte, nun selbst zu denken. Auf 14…Dxe5 wäre Nepo vorbereitet gewesen, das ließ sich ja an seinem schnell gespielten 14.Kf1 ablesen. 14…Tfb8 war vielleicht nicht die objektiv bessere Wahl, aber die beste unter diesen Umständen. Die Stellung wird weniger forciert, voller Möglichkeiten – auch solchen, Fehler zu machen. Genau die Art von Stellung, in der das Gefühl fürs Schach zählt, eine von Magnus‘ großen Stärken.
Hat sich Spanisch jetzt schon erledigt für Team Nepo?
Kasparov reichte 1993 für sein WM-Match gegen Short nur eine Anti-Marshall-Idee. Der Aufbau mit a4, d3, Sbd2 hat ihn quasi durchs Match getragen. (Das Gespräch mit Sadler haben wir kurz vor Beginn der dritten Partie geführt. Wenig später sollte Nepomniachtchi genau diesen von Sadler erwähnten Kasparov-Aufbau ansteuern, Anm. d. Red.) Das würde heute nicht mehr funktionieren. Ich nehme an, dass sich 8.h3 zumindest in diesem Match erledigt hat. Zumindest würde es mich überraschen, sollte sich Nepo noch einmal auf 8…Sa5 einlassen. Aber wenn 1.e4 sein Hauptzug sein soll, dann wird er eine ganze Reihe von Anti-Marshall-Ideen präpariert haben.
Ist Magnus besser vorbereitet?
Zumindest hat er das Eröffnungsduell in den ersten beiden Partien gewonnen. In der ersten hat er Nepo dahin gelockt, wo er ihn haben wollte, und in der zweiten hatte er 8.Se5 vorbereitet, das zu dieser Dubov-Katalanisch-Semislawisch-Struktur führt, die Nepo wahrscheinlich gar nicht spielen wollte. Nepo dürfte einen ruhigen Katalanen im Sinn gehabt haben, und dann findet er sich plötzlich in dieser verrückten Dubov-Stellung wieder. Ganz clever vorbereitet von Magnus.
Die Engines mögen den schwarzen Mehrbauern.
Aber der Mensch Magnus war auf die Struktur eingestellt, damit vertraut, er kannte die Herausforderungen und Gefahren, die beide bewältigen müssen, wenn sie so etwas spielen. Das zählt mehr als ein „minus 0,4“ der Engine.
Nepomniachtchi hat auch diese Herausforderung bestanden. 11…Dd7 sah allerdings komisch aus.
Der Engine-Zug 11…b4 war außerordentlich schwierig zu spielen, mit erheblichem positionellen Risiko verbunden. Dazu das Wissen, einem bestens vorbereiteten Gegner gegenüberzusitzen. …b4 nebst …La6 hätte sich als Auftakt ja noch recht leicht spielen lassen, aber abzuschätzen, wohin das führt, oje. Meine Engine-Partien zeigen, dass Schwarz am besten fährt, wenn er nach weißem e4 den Springer auf d5 opfert, ihn einfach stehen lässt und auf seine Bauernmasse setzt. Und das hätte Nepo im Voraus planen müssen. Extrem schwierig. Nepo war sich wahrscheinlich bewusst, dass …Dd7 nicht der beste Zug ist, aber einer, der zu einer Stellung führt, die er ohne große Fehler spielen kann. Eine gute praktische Entscheidung.
„Schlechteste WM-Partie jemals“ hat Nepo hinterher zu Magnus gesagt.
Bestimmt nicht. Auch Nepos 13…Sd3, nicht die Top-Wahl der Engine, war am Brett stark und aggressiv. Es droht …b4, …La6 und so weiter, und nun musste Magnus schwierige Entscheidungen treffen. Einmal mehr: starkes, praktisches Schach von Nepo, nachdem er in eine clevere Vorbereitung geraten war. Und das Ergebnis war, dass Magnus das Detail 17…Lxe5 nebst 18…Sac5 entgangen ist. Was mir übrigens ein gutes Gefühl bereitet hat. Als ich anfangs ohne Engine analysiert habe, war mir das auch entgangen.
Woher kommt so ein schwarzes Loch?
Naja, du versuchst so sehr, dir einen Vorposten für einen Oktopus auf d6 zu schaffen, da kommt dir gar nicht in den Sinn, dass Schwarz ihn dir freiwillig geben könnte.
Und aus schwarzer Perspektive?
Da sieht es anders aus. 17…Lxe5 nebst 18…Sac5 ist ja fast das einzige, was Schwarz in der Partie hält. Wenn alles andere sich als schlecht erweist, kommst du früher oder später darauf.
In Vorteil kam Schwarz erst, nachdem Weiß 20.Tb1 gezogen hatte.
Die Engines wollen stattdessen 20.Le3 sehen, und die Stellung wäre unklar. Aber auch das wäre verbunden mit einigen Feinheiten und einigem Rechenaufwand. Und Magnus hatte ja schon für die drei Züge davor 35 Minuten investiert. Danach zügig 20.Tb1 zu spielen, ist aus menschlicher Sicht verständlich: So verschwindet der im weißen Lager eingepflanzte Sd3 vom Brett. Auch das war wahrscheinlich eine praktische Entscheidung. Magnus hat gesehen, er behält seinen Sd6, damit kann er arbeiten, während Nepo zwar Material gewonnen hat, aber von vorne anfangen muss, Pläne zu finden und Spiel aufzuziehen. Seine beiden Monsterspringer waren nach dieser Abwicklung ja verschwunden. Und Magnus hat ab diesem Moment fantastisch gespielt. Beeindruckend.
Alles ziemlich durch die Carlsen-Fanbrille betrachtet: Sadler lobt Carlsen, weil er ihn loben will?! Wenn Nepo einen “ruhigen Katalanen” wollte statt “dieser Dubov-Katalanisch-Semislawisch-Struktur”, warum hat er dann das zweischneidige 7.-b5!? gespielt statt des gängigen 7.-a6 ? Auch nach dem Hauptzug 8.a4 wird es eher kein ruhiger Katalane. Dass Nepo dann als Erster Bedenkzeit verbrauchte war vielleicht auch eine bewusste Entscheidung: Er weiß selbst, dass er mitunter (viel) zu schnell spielt, diesmal “sass er auf seinen Händen”. Ungenauigkeiten von Carlsen werden dann bagatellisiert: 17.Se5 “Detail entgangen”, 20.Tb1 “aus menschlicher Sicht verständlich”. Man kann es auch so sehen: Er erlaubt zwar, von… Weiterlesen »