Ein Schulfreund von mir wohnte in einem Vorort von Lübeck direkt neben der Freiwilligen Feuerwehr. Als ich ihn einmal fragte, ob das mit Beeinträchtigungen verbunden sei, überlegte er kurz und antwortete dann süffisant mit einem kleinen Bonmot: “Nein. Außer ihrem Durst löschen die da gar nichts.”
Ich hatte schon lange nicht mehr an diesen Spruch gedacht, aber er fiel mir schlagartig wieder ein, als ich auf der Website der Deutschen Schachjugend auf diesen Artikel stieß:
Ein kleiner Exkurs in meine Vergangenheit: Als ich Anfang der 1990er-Jahre in den Lübecker Schachverein eintrat, um von dort aus die Schachwelt zu erobern, kam ich durch einen baldigen Vereinswechsel schnell zum SV Bad Schwartau. Neben den Einsätzen in den Jugendmannschaften sammelte ich dort erste Wettkampferfahrung auch bei den Herren in der Bezirksliga. Die Spieltage am Freitagabend führten mich dann regelmäßig in die Vereinsheime der Klubs rund um Lübeck.
Hinterzimmer, Bahnhofsgaststätte, Hotelpension
Dort beschlichen mich – mindestens zehn Jahre, bevor ich das Wort “Vereinssterben” zum ersten mal hörte – schnell beunruhigende Gedanken zur Zukunft dieser Vereine. Gespielt wurde oft an Orten, die selbst damals schon wie aus der Zeit gefallen zu sein schienen. Hinterzimmer in Dorfkneipen, Bahnhofsgaststätten, Hotelpensionen.
An den holzvertäfelten Wänden hingen Hirschgeweihe und vergilbte Zeitungsartikel aus vergangenen Tagen. Die Postkarten an der Wand in der Ecke; ein Foto vom Fußballverein. Hinter der Tür stand ein Hutständer. Im Hauptraum spielte die Jukebox neben der Theke in einer Endlosschleife Hits wie ‘Griechischer Wein’ (Udo Jürgens), ‘Ich will ‘nen Cowboy als Mann’ (Gitte Haenning), und ‘Die Kleine Kneipe’ (Peter Alexander): Melancholische Sehnsucht nach einer Zeit, in der alles besser war – auch die Zukunft.
Zigarettenrauch hing in der Luft. Nach der Partie hing er in den Klamotten. Meine Eltern wunderten sich manchmal, dass ich nach Rauch und Bier roch, wenn ich spätabends vom Schach zurückkam.
Als ich bei einem Auswärtsspiel in einem solchen Vereinslokal einmal ein Butterbrot auspackte, bekam ich sofort eine Standpauke vom Kellner, der mich unfreundlich darüber belehrte, dass der Verzehr von mitgebrachten Speisen selbstverständlich verboten sei. Heute würde ich ganz anders reagieren; damals packte ich als schüchterner Jugendlicher mein Butterbrot kleinlaut wieder ein.
Besser ein anderes Hobby?
Unsere Mannschaften bestanden meist aus einem oder zwei Erwachsenen; allein schon, weil eine Aufsicht und ein Fahrer gebraucht wurden. Die restlichen Spieler waren aufstrebende Jugendliche. Ganz anders sah es allerdings bei unseren Gegnern aus. Das waren zumeist ältere Herren. Allesamt längst pensioniert und, objektiv gesagt, nicht besonders spielstark. Jugendliche oder gar Frauen suchte man dort vergebens.
Damals war das alles nicht so meine Welt. Ich hatte zu der Zeit den Ehrgeiz, mich möglichst schnell für die Jugendlandesliga- und Jugendbundesligamannschaften des Vereins zu qualifizieren. Gegen relativ schwache Senioren in irgendwelchen Kneipen spielen zu müssen, war für mich eher ein notwendiges Übel und nur ein Mittel zum Zweck. Wir fragten uns damals oft, warum Erwachsene, die bestenfalls eine DWZ von 1400 hatten, überhaupt Schach spielen, und ob sie sich nicht lieber ein anderes Hobby suchen sollten.
Inzwischen sehe ich das – mit etwa 25 Jahren zusätzlicher Lebenserfahrung – natürlich ganz anders.
Heute sind die meisten dieser Vereine mitsamt ihrer Spiellokale verschwunden. Bahnhofsgastätten gibt es ohnehin nicht mehr. Dorfkneipen auch nicht. Und Vereine, die nur aus Senioren bestehen und keine Jugendarbeit betreiben, sterben irgendwann notwendigerweise und buchstäblich aus.
Diese Entwicklung ist sehr bedauerlich. Sie hat auch im Raum Lübeck schweren Schaden angerichtet. Vereine wie Kücknitz, Siems, Strand, Burg auf Fehmarn gibt es allenfalls noch als traurige Schatten ihrer selbst. Das berühmte Travemünder Open gibt es leider gar nicht mehr.
Soweit so gut, bzw. soweit so schlecht. Über das sterbenden Vereine lamentieren die “Veranwortlichen” auf allen Ebenen ja schon lange. Genauso ist derzeit im Gespräch, dass Schach einen nie dagewesenen Boom erlebt. Die Stichworte “Corona”, “pogchamps” und “Damengambit” begegnen dem geneigten Leser ständig, meist noch garniert mit der griffigen Anekdote, dass inzwischen landauf, landab sogar die Schachbretter knapp werden.
Schach – Geselligkeit und Wohlfühlaspekte
Hält dieser Boom an? Wird er sich auf die Mitgliedszahlen der Vereine auswirken? Sehen wir nur ein Strohfeuer, das erlischt, sobald die coronabedingten Einschränkungen des Lebens verschwinden?
Ich bin eher skeptisch und vermute, dass eine ganze Reihe von den erwachsenen Anfängern, die sich jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben für Schach interessieren, schon bald wieder abspringen werden, weil Schach eben doch kein besonders einsteigerfreundliches Hobby ist. Viele werden feststellen, dass sich die erhofften schnellen Fortschritte trotz Chessable-Kursen eben doch nicht so einfach einstellen.
Daher hat die Schachjugend völlig Recht, wenn sie im oben genannten Artikel anmerkt
… dass die Vereine viele Schachspieler:innen nicht erreichen. Viele Menschen spielen begeistert Schach, finden aber keinen Grund, Schach im Verein zu spielen, da das Angebot sie nicht anspricht.
Wir bauen zu sehr auf den Wettbewerbscharakter. Wo bleibt die Geselligkeit? Wo der Wohlfühlaspekt?”
In der Tat. In den meisten Vereinen steht der Wettbewerbsgedanke im Vordergrund. Einerseits ist das sinnvoll, verständlich und nachvollziehbar. Andererseits besteht dadurch aber die Gefahr, gerade jetzt viele potenzielle Mitglieder nicht ansprechen zu können, weil die wegen mangelnder Spielstärke oder aus Desinteresse am Wettbewerb eher auf Geselligkeit und den Wohlfühlaspekt setzen.
Genau wie man es in der Freiwilligen Feuerwehr mitunter mit Mitgliedern zu tun hat, denen es vor allem um die Geselligkeit geht (und eine Möglichkeit, ihren Durst zu löschen), sind auch Schachvereine wertvoll, in denen es nur noch ein paar alte Männer gibt, die allwöchentlich ein Bier trinken wollen, dabei schlecht Schach spielen und trotzdem ihren Spaß haben.
Wenn man diesen Gedanken berücksichtigt, wird man vermutlich ein noch größeres Mitgliederpotenzial ausschöpfen können. Letzten Endes liegt es wieder mal an den ganzen Freiwilligen in den Vereinen, Angebote zu machen und spielschwache Erwachsene nicht wie Mitglieder zweiter Klasse zu behandeln.
Ich wünsche viel Erfolg! Auch in dieser Hinsicht ist der Schachboom eine Chance!
Autor Jan Jettel lebt und arbeitet seit mehr als fünf Jahren in San Francisco. Mit dem Schach hat er in den frühen 1990ern beim Lübecker SV begonnen, später für den SV Bad Schwartau unter anderem in der Jugendbundesliga gespielt. Die Verbindung zum heimischen Schach hält er schreibend in seinem lesenswerten Blog “Schachwelten“, in dem dieser Beitrag zum ersten Mal erschien (obiger Text ist eine redaktionell leicht bearbeitete Fassung). Außerdem führt Jettel alias SchachNotizen einen der aktivsten und ideenreichsten Twitter-Accounts in der deutschsprachigen Schachszene.
Ich denke, es kommt immer auf die handelnden Personen an. In meinem
Heimatverein Heitersheim (80 Mitglieder, davon 40 Jugendliche) und auch in unserem Schachbezirk Freiburg (Steigerung in den letzten Jahren von 900 auf 1.100 aktive Mitglieder) konnten wir von einem Rückgang der Mitgliederzahl nichts spüren. Dahinter steckt natürlich auch ein entsprechender Einsatz aller Beteiligten. Also einfach die Ärmel hochkrempeln und etwas unternehmen wie z.B. Schach-AG`s, regelmäßige Einsteigerkurse für Erwachsene, Teilnahme am Stadtfest usw., dann klappts auch mit den Neumitgliedern.
Gerhard Prill, 1. Vorsitzender im Schachbezirk Freiburg im Breisgau
[…] Jan Jettel fehlten die Worte, seine Enttäuschung […]
Das ist alles relativ. Es gibt kleine Vereine wie mein Tierschutzverein der richtig zu kämpfen hat und dann gibt es die großen. Aktuell gibt es hier eine gute Analyse
Natürlich muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen Geselligkeit und Wettbewerb und dies ist sicherlich leichter gesagt als realisiert in einem Verein. Die Subkultur der Schachvereine hat ihre gesellschaftliche Anschlussfähigkeit verloren, die Altersklasse der 20-50-jährigen fehlt dort weitgehend; daher kommen und bleiben keine Jugendlichen, Frauen und Studenten. Witze über nerdige Schachspieler gehen übrigens mittlerweile genauso gut wie früher Witze über Blondinen oder Ostfriesen, d.h. die Außendarstellung der Schachvereine ist desolat. Es gab übrigens in Großstädten nie wirklich ein Sterben der Sportvereine oder Spiel- und Freizeitgruppen, die Krise der Schachvereine besteht dagegen seit 30 Jahren. Schach wird ein erfolgreiches Onlinespiel bleiben, aber… Weiterlesen »