Eines der skurrilsten Schachexperimente jemals begann vor 35 Jahren: Wolfgang Eisenbeiss, Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Parapsychologie, ließ den zweimaligen Vizeweltmeister Viktor Kortschnoi per „Medium“ gegen den 1951 gestorbenen Schachmeister Géza Maróczy zu einer Fernschachpartie antreten. Die Partie sollte beweisen, dass es ein menschliches Fortleben nach dem Tod gibt.
Das Interesse an parapsychologischen Phänomenen hatte zu jener Zeit Hochkultur. Der israelische Mentalist, Motivationstrainer und Bühnenkünstler Uri Geller erregte schon ab den 1970er-Jahren Aufsehen mit spektakulären Fernsehauftritten, indem er angeblich durch telepathische Kräfte versteckt gemalte Zeichnungen nachmalte, stehengebliebene Uhren zum Ticken brachte und vermeintlich ohne eigenes Zutun Besteck verbog. Geller bezeichnete sich nicht als Zauberkünstler, sondern gab an, die vorgeführten Effekte aufgrund „paranormaler Vorgänge“ zu bewirken. Seine „Kräfte“ habe er von Außerirdischen von einem Planeten „Hoova“ erhalten – oder von Gott. Skeptische Zauberkünstler sahen in seinen Vorführungen normale Zauberkunststücke.
Hypnotiseur im Zuschauerraum
Übersinnliches finden wir auch in der Schach-Vergangenheit von Kortschnoi, bevor dieser sich dem toten Maroczy zum Wettkampf stellte. Bei der von allerlei Affären umrankten WM 1978 in Baguio (man denke nur an Karpows berühmten Joghurtbecher) tauchte im Zuschauerraum ein sowjetischer Psychologe namens Suchar auf. Kortschnoi mutmaßte, dass dieser vor den Partien mit seinem Gegner Anatoli Karpow hypnotische Sitzungen durchführte und den Weltmeister auch während der Partien visuell aufmunterte. Kortschnoi selbst fühlte sich von Suchar gestört.
Es war die Zeit des Kalten Krieges, der Umgang miteinander war rau, ein kuscheliges Beieinandersitzen auf Pressekonferenzen nach WM-Partien, wie es heute gang und gäbe ist, war damals undenkbar. Im Buch Der KGB setzt matt – Wie der sowjetische Geheimdienst die Schachwelt manipulierte von 2009 schreibt Boris Gulko, Michael Tal (bis 1983 Sekundant von Karpow) habe bei der Schacholympiade 1990 in Novi Sad Kortschnoi erzählt, falls dieser Karpow als Weltmeister entthront hätte, wäre er vom KGB ermordet worden. Davon habe er während seiner Arbeit für Karpow erfahren.
Alexander Roschal, Redakteur der Zeitschrift „Schachmatnoje obosrenije“ (außerdem laut Gulko ehemaliger KGB-Agent) schrieb später, Tal habe einen Scherz gemacht, alle Theorien von der Ermordung seinen absurd und weit entfernt von der Realität gewesen. Gulko sieht das anders. Er versucht in seinem Werk aufzuschlüsseln, wie der KGB die Ermordung Kortschnois vorbereitete.
Wunschgegner aus dem Jenseits
Im Unterschied zu den Vorführungen von Uri Geller war das mit Kortschnoi durchgeführte Experiment anfangs nicht auf Profit und öffentliche Aufmerksamkeit angelegt. In seiner 2004 erschienen Autobiographie „Mein Leben für das Schach“ beteuert Kortschnoi, keinen Cent erhalten zu haben. Die Presse bekam erst Wind von der Partie, als sie schon zur Hälfte gespielt war.
Viktor Kortschnoi und Dr. Wolfgang Eisenbeiss kannten einander. 1985 fragte der schachbegeisterte Ökonom den Schachemigranten, gegen welchen bereits gestorbenen Großmeister er am liebsten spielen würde. Weniger um das Spiel als um sein eigenes geistiges Interesse sei es ihm gegangen, sagte Eisenbeiss Jahrzehnte später. Oder um es mit den Worten von Viktor Kortschnoi zu sagen: Dr. Eisenbeiss wollte nachweisen, dass die Seele unabhängig vom Körper existiert.
Keres und Capablanca nicht auffindbar
Keres, Capablanca oder Maróczy – Kortschnois Wunschgegner. Wohl nicht ohne Grund nannte er Keres als Ersten, war er diesem doch bereits zu Lebzeiten am Brett begegnet. Jahrzehnte später benannte er Keres als seinen Angstgegner. Hier war die Chance, nach dessen Ableben die Scharte auszuwetzen.
Wenig später wurde Kortschnoi mitgeteilt, man habe von den dreien „dort“ (im Schachhimmel?) lediglich Maróczy angetroffen. Dieser sei bereit, mit Kortschnoi die Klingen zu kreuzen. Der 1951 gestorbene Géza Maróczy (geboren 1918 in Österreich-Ungarn, gestorben 1951 in Budapest, Ungarn) war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre tot.
Das Duell Maróczy-Kortschnoi begann am 11. Juni 1985. Kortschnoi wurde als Anfangszug von Maróczy 1.e4 übermittelt. Seine Antwort 1…e6 gab Dr. Eisenbeiss an ein „Medium“ weiter. Als solches fungierte Robert Rollans, ein in der Nähe von Bonn lebender gebürtiger Rumäne, welcher im Trancezustand scheinbar den Kontakt zu Maróczy herstellen und angeblich sogar Texte von diesem aufschreiben konnte.
Rollans selbst soll nicht mit den Schachregeln vertraut gewesen sein. Kortschnoi berichtete außerdem, während der Partie keinen Kontakt zu Rollans gehabt zu haben. Zum Start wurde Kortschnoi mitgeteilt, er solle kein Brett und keine Figuren benutzen, da diese Dinge seinem überirdischen Gegner auch nicht zur Verfügung stünden. Zwei Jahre nach Partiebeginn wurde Kortschnoi dann informiert, Maróczy habe nun ein Brett, und er selbst dürfe somit ab sofort auch eines benutzen.
Maroczy und moderne Eröffnungstheorie
In der Partie (nicht enthalten in der Megabase, zum Nachspielen findest du sie in der BodenseeBase) ergab sich eine scharfe Französischvariante, in der sich Kortschnoi bald mit der Frage konfrontiert sah, ob Maroczy im Himmel womöglich den Informator abonniert hat. Maroczy hatte sich für ein Abspiel entschieden, das erst nach seinem Ableben aufgekommen war. Nur schien er damit nicht ausreichend vertraut zu sein. In einem scharfen Gefecht im Winawer-Franzosen geriet Maroczy als Weißer früh in Nachteil.
Im September 1987 gab Kortschnoi der inzwischen aufmerksam gewordenen Presse einen kurzen Kommentar ab, ohne dabei Züge preiszugeben. Maróczy habe in der Eröffnung einige Fehler gemacht und „im altmodischen Stil“ gespielt. Er selbst habe danach allerdings auch nicht sehr genau weitergespielt und frage sich nun, ob sein Vorteil noch zum Gewinn ausreiche. Kortschnoi zeigte sich angetan von der Spielstärke seines Gegners, der mit Fortschreiten der Partie immer besser zu werden schien.
Aufgrund einer längeren Erkrankung des Mediums, aber auch gelegentlicher Unlust von Maróczy (Kortschnoi: „Manchmal, so sagte man mir, sei auch Maróczy nicht in der Stimmung gewesen zu spielen – es war ihm zu langweilig“) wurde das mysteriöse Duell nach vierjähriger Pause erst 1991 wieder fortgesetzt. Kortschnoi beschreibt, als es ins Endspiel überging, wo er einen Mehrbauern besaß, habe er plötzlich starken Widerstand verspürt und kurzzeitig sogar befürchtet, die Partie noch zu verlieren: “Die Meister des vergangenen Jahrhunderts waren Virtuosen des Endspiels.” Letztlich ging für Kortschnoi alles gut. Am 11. Februar 1993 gab sich Maróczy geschlagen und wünschte Kortschnoi per Medium viel Erfolg in künftigen Wettbewerben. Das Medium selbst, Robert Rollans, starb kurioserweise neunzehn Tage nach dem Ende der Partie.
Figur eingestellt, als die Ehefrau auf die Geliebte trifft
Vieles bleibt wohl für immer im Dunkeln, ist heute nicht mehr nachprüfbar. Kortschnoi schreibt in seiner Biografie: „Die Urheber des Experiments hatten auch ihre Zweifel, ob das Spiel gegen Maróczy stattfindet oder gegen jemand anders.“ Um die Identität von Maróczy einer Prüfung zu unterziehen, seien diesem vorab 94 Fragen übermittelt worden, die angeblich nur Maróczy im gesamten Umfang alle hätte beantworten können.
Unter anderem wurde Maroczy ein falsch geschriebener Name eines früheren Gegners übermittelt. Maróczy habe die Schreibweise korrigiert, aus „Romi“ wurde „Romih“. In seinen Antworten hat der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts groß gewordene Zeitgenosse von Lasker, Rubinstein oder Tarrasch einige Episoden und Bewertungen aus seiner langen Turnierpraxis preisgegeben. Unter anderem nannte er den Grund, warum Capablanca in Karlsbad 1929, einem Turnier, an dem Maróczy ebenfalls teilgenommen hatte, bereits im neunten Zug gegen Sämisch ohne Not eine Figur eingestellt hat: „Capablanca war an diesem Tag sehr nervös. Er hatte eine Romanze mit einer georgischen Prinzessin. Sie saß unter den Zuschauern, aber am gleichen Tag kam auch Capablancas Ehefrau nach Karlsbad und ging auch in den Saal.“. Außerdem habe er Nimzowitsch, den Sieger dieses Turniers, für einen unsympathischen Menschen gehalten.
Kortschnoi glaubte an Seelenwanderung
Die mysteriöse Schachpartie Maróczy-Kortschnoi machte anschließend die Runde. Selbst der damals längst abgetauchte 11. Schachweltmeister Bobby Fischer hatte sich angeblich mit großem Interesse die Notation angeschaut und geurteilt, dass es sich beim Gegner von Kortschnoi um einen Spieler auf GM-Level gehandelt habe.
Wie ist diese Geschichte abschließend zu beurteilen? Handelt es sich um esoterischen Quatsch? Oder faulen Zauber? Diese Gretchenfrage muss wohl jeder für sich selbst beantworten. Im christlichen Glauben wird von der Beschäftigung mit dem Thema Totenbeschwörung dringend abgeraten, laut Bibel ist diese nicht zulässig und eine Sünde, die zu „dämonischer Gebundenheit“ führt. Religionszweifler könnten argumentieren, Kortschnoi habe in Wahrheit zum Beispiel gegen das fliegende Spaghettimonster gespielt.
Die beiden nachträglich berichteten Versionen der Ereignisse von Kortschnoi und Dr. Eisenbeiss stimmen nicht in allen Details überein, das lässt Platz für Skepsis. Beispielsweise finden sich im Internet Mutmaßungen, Dr. Eisenbeiss habe Zugang zu Tagebüchern von Maróczy gehabt und dadurch persönliche Dinge in dessen Namen äußern können. Möglicherweise war also auch Kortschnoi in diesem Spiel nur eine Art Schachfigur von Dr. Eisenbeiss. Kortschnoi gibt in seiner Biographie an, viel über Seelenwanderung gelesen zu haben – er sei geneigt, an dieses Phänomen zu glauben.
Wie beurteilte Kortschnoi im Rückblick dieses Ereignis? In einem Interview mit Hartmut Metz aus dem Jahr 2001 äußerte er sich so: „Viele Leute meinten, dass ich in Wahrheit eine Partie gegen den Zürchcher Schachclub ausgetragen habe. Ich weiß es nicht.“
Kortschnoi starb 2016. Vielleicht hat Maróczy im Schachhimmel inzwischen bereits ein Rematch erhalten. Diesmal ohne Medium.
Unter seinem Pseudonym „Nathan Rihm“ hat Martin Hahn bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht. Mehr über ihn auf der Nathan-Rihm-Fanpage bei Facebook. Kontakt: nathanrihm@gmx.de
Wenn jemand während eines Gesprächs einen Stift in der Hand hält und diesen ständig bewegt, ist das für Psychologen der Ausdruck einer Barriere, die gegen mögliche Gegenargumente helfen soll. Ein Stift gilt als symbolische Waffe. Wie oft hat Viktor Kortschnoi während des Interviews seinen Kugelschreiber herumgedreht? Für Parapsychologen spielt das keine Rolle. Für mich schon. Kortschnoi wollte vom fliegenden Spaghettimonster ablenken! Für die Presse war es ein gefundenes Fressen.
Spitzenidee, das Thema wieder zu präsentieren.