Alles schon dagewesen!

Das Ziel des Spiels hat sich in den vergangenen 500 Jahren nicht geändert: Mattsetzen.  Aber dem Schachspieler haben sich unzählige neue Wege eröffnet, dieses Ziel zu erreichen. Manchmal machen die Meister von heute Züge, die für die Meister von gestern wie Anfängerschach aussehen.

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Sieht beiderseitig krumm aus, ergibt aber Sinn.

Hier zum Beispiel. Erst deckt der Schwarze seinen e5-Bauern mit …Ld6, obwohl das den d-Bauern und damit die Entwicklung des anderen Läufers behindert. Dann entwickelt Weiß einen Springer an den Rand, und Schwarz zieht sogleich mit einer schon entwickelten Figur ein zweites Mal, auch ein Springer, und den zieht er natürlich ebenfalls an den Rand.

Der gestrenge Doktor Tarrasch würde die Spieler des Saals verweisen und schnellstens das Brett abräumen, um so etwas nicht länger ansehen zu müssen. Und er würde nicht glauben, dass in der jüngeren Vergangenheit diese Stellung mehrfach zwischen 2.700-Großmeistern auf dem Brett stand. Sie ist tatsächlich eine der Hauptvarianten nach 1.b3 e5, und die Sequenz ergibt tatsächlich Sinn. Der Sa3 strebt danach, über c4 den Ld6 zu befragen und den Druck auf e5 zu erhöhen. …Sa5 verwehrt ihm den Zugang zum Feld c4.sob3

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Wenn gute Spieler eine Figur nach der anderen auf das scheinbar falsche Feld stellen, dann weckt das unsere Neugierde. Auch wegen dieser krummen Sequenz haben wir die DVD “Wesley So: meine Geheimwaffe 1.b3″ bestellt (deren Stärken und Schwächen wir an dieser Stelle bei Gelegenheit näher betrachten werden). Anstatt uns sogleich in die Tiefen einer modernen Eröffnung zu begeben, haben wir, angeregt von GM So, erst einmal einen Ausflug in die Schachgeschichte unternommen.

Und dabei stellen wir fest: Vieles von dem, was uns heute neu erscheint, gab es schon. Von gestern waren die alten Meister nämlich nicht.

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Der Eigenname “Harry” steht in Schachkreisen des 21. Jahrhunderts für den h-Bauern, den moderne Schachspieler noch in der Eröffnung die h-Linie hochtreiben, um die gegnerische Königsstellung anzurempeln, anstatt ordnungsgemäß ihre Entwicklung zu vollenden. Levon Aronian ist in der Weltspitze der größte Anhänger dieses Konzepts. Wer gegen Aronian Grünfeld-Indisch spielt, der darf damit rechnen, dass sehr bald Harry vor seiner Festung auftaucht, um die Pforte einzutreten.

Alles schon dagewesen!

Gehen wir zurück ins Jahr 1892, als in Havanna Weltmeister Wilhelm Steinitz seinen Titel gegen den erfindungsreichen Russen Michail Tschigorin verteidigte. Die Eröffnung der vierten Partie des Matches gestalteten beide Kontrahenten einigermaßen ungelenk, aber dann ging’s los. Nach zehn Zügen stand es so, Weiß (Steinitz) am Zug:

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Weltmeister Wilhelm Steinitz schickte Harry schon vor über 120 Jahren die h-Linie hoch.

Anstatt friedlich zu rochieren (was ein guter Zug wäre), sprang Steinitz sogleich seinen Gegenspieler an, indem er Harry (der damals noch h-Bauer hieß) auf die Reise schickte. “Eigentlich neige ich ja nicht zu frühen Angriffen in der Eröffnung”, erklärte Steinitz, nachdem er eine bemerkenswerte Partie gewonnen hatte. “Aber hier sah ich eine Schwäche in der gegnerischen Königsstellung. Man sollte mir halt nicht den Finger in den Mund stecken, dann beiße ich zu.”

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Bobby Fischer

Ebenso wie Harry steht dessen noch namenloser Kollege auf der g-Linie im Fokus moderner Schachmeister. Aus allen Lagen feuern Weiße wie Schwarze in diversen Strukturen möglichst früh den Zug g2-g4 oder …g7-g5 ab, um sogleich das Spiel zu verschärfen. Das Kandidatenturnier in Berlin sah auf höchster Ebene diverse Beispiele, unter anderem Kramniks …Tg8 nebst …g5 gegen Levon Aronian, der in diesem Fall selbst angerempelt wurde, anstatt anzurempeln.

Alles schon dagewesen!

Wer den Inhalt oben genannter DVD anschaut, dem fällt sogleich eine alte Partie zwischen Bobby Fischer und Ulf Andersson auf, gespielt in Siegen 1970. Fischer eröffnete seine Partien ja gelegentlich mit 1.b3. Gegen den eigentlich supersoliden Andersson lief das 1970 besonders gut, denn Fischer bekam mit Weiß einen vorteilhaften Igel auf das Brett, in dem es der Schwarze versäumt hatte, sich einen Maroczy-Aufbau zu basteln. Der schwarze Bauer auf c7 statt c5 macht diesen Igel angenehm für Weiß.

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Wer würde darauf von alleine kommen? Kh1 nebst Tg1 und g4.

Was nun folgte, sollte der Normalsterbliche gesehen haben, weil er alleine in einer ähnlichen Situation nicht darauf kommen würde, sich schon an dieser Stelle von allen Schablonen zu lösen. Unsereins würde 13.Tfd1 oder etwas ähnlich Uninspiriertes ziehen.

Fischer spielte 13.Kh1! mit der Idee, Tg1 und dann g4 folgen zu lassen. Der Amerikaner trieb das Konzept noch auf die Spitze, indem er danach per Tg3 und T1g1 die Türme auf der g-Linie verdoppelte.

Zehn Züge später stand es so:

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Nach 22.Sf5! sah sich der Schwarze sah einem kaum zu parierenden Angriff ausgesetzt.

Also hat Fischer g2-g4 bei eigener kurzer Rochade erfunden? Natürlich nicht.

Alles schon dagewesen!

Ab ins Jahr 1857, in dem Fischers Landsmann Paul Morphy die Schachwelt aufmischte. Jetzt dürfte es nicht schwer zu erraten sein, wie Morphy (Schwarz) dem weißen König an den Kragen ging, nachdem der Weiße ihm per 15.h3 eine Angriffsmarke präsentiert hatte.

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Fischers Inspiration: Paul Morphy zieht …Kh8 nebst …g5 und …Tg8.

Genau, 15…Kh8 gefolgt von …g5, …Tg8, und der Angriff spielte sich von alleine. Bemerkenswert an dieser Partie: Beide spielten ohne Ansicht des Brettes, und der Weiße, einer der Besten der Welt, gar gegen vier Gegner gleichzeitig. Dass Morphy noch besser war als alle anderen, hatte sich zu dieser Zeit noch nicht herumgesprochen, vielleicht glaubte es Morphy noch nicht einmal selbst. Sein kurzer, aber bis heute wirkender Schach-Höhenflug hatte ja 1857 gerade erst begonnen.

“Das ist modernes Schach”, schwärmen Wesley So und Oliver Reeh angesichts der Zugfolge 1.b3 e5 2.Lb2 Sc6 3.e3 Sf6 4.Lb5 Ld6 5.Sa3 Sa5 (siehe Diagramm ganz oben).

Alles schon dagewesen!

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4…Ld6 hat zuerst der Deutsche Adolf Anderssen im Jahr 1859 gespielt.

Dann sollten allerdings tatsächlich 120 Jahre vergehen, bevor DDR-Großmeister Rainer Knaak darauf kam, 5.Sa3 mit 5…Sa5 zu beantworten. Zu einer ernsthaften, anerkannten Eröffnungsvariante wurde die Chose noch einmal 40 Jahre später. Heute ist 4…Ld6 und 5…Sa5 sogar derart anerkannt, dass Wesley So den Weißspielern empfiehlt, sich darauf besser nicht einzulassen. Aber das beleuchten wir ein anderes Mal.

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[…] krude Stellung zum Beispiel, wie sie häufig nach 1.b3 e5 entsteht, haben wir unlängst im Beitrag „Alles schon dagewesen!“ betrachtet und festgestellt, dass sie regelmäßig unter 2.700-Großmeistern debattiert wird […]

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[…] Der stand im Juli in unserem Igel-Epos ausführlich zur Debatte (und kam am Rande auch im Beitrag „Alles schon dagewesen!“ vor, als Bobby Fischer gegen Bent Larsen einen „Igel im Anzug“ spielte). Seinerzeit […]

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[…] zweite DVD haben wir bei anderer Gelegenheit schon kurz vorgestellt. Seitdem steht auf der Agenda, das einmal ausführlich zu tun, aber man […]