Europameisterschaft (3): deutscher Doppelsieg gegen Serbien

Wenn schon nach dem ersten Match die Konditionsfrage im Raum steht, dann betrifft das besonders die klare Nummer eins des Teams. Die anderen vier, etwa gleichstark, können ja je nach Befinden aussetzen und sich einen Erholungstag nehmen. Aber was machen wir mit Vincent Keymer? Soll er durchspielen – auf die Gefahr hin, sich aufzureiben? Soll er aussetzen – auf die Gefahr hin, dass es ohne ihn nicht reicht?

Indirekt hat Keymer diese Fragen unlängst im SZ-Interview (für Abonnenten) selbst beantwortet. “Wir sind ganz klar die stärkste Mannschaft seit langer Zeit”, hat er gesagt – und nicht “Ich bin der stärkste Nationalspieler seit langer Zeit”. Rasmus Svane, Alexander Donchenko und Matthias Blübaum haben Keymers Einschätzung am Montag eindrucksvoll bestätigt. Die Mannschaft ist stark. Sie kann auch ohne ihre Nummer eins Gegner von internationaler Klasse besiegen.

Partie gewonnen, Match gewonnen, Matthias Blübaum macht Feierabend. Vincent Keymer muss noch lange weiterkämpfen und sich schließlich in die erste Partieniederlage der deutschen Delegation fügen. | Foto: Paul Meyer-Dunker/DSB

In der dritten Runde der Europameisterschaft haben die deutschen Männer Serbien 2,5:1,5 niedergerungen. Den Serben half nicht, dass es ihrer Nummer eins Alexander Predke am Ende eines mehr als 90-zügigen Zermürbungskampfes gelang, Keymer die erste deutsche Partieniederlage des Wettbewerbs zuzufügen. Der Kampf war längst zugunsten der Deutschen entschieden. Dafür hatten Svane, Donchenko und Blübaum gesorgt.

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2,5:1,5 haben auch die deutschen Frauen Serbien niedergerungen, dasselbe Ergebnis, aber ein viel klareres Match. Josefine Heinemann gewann ihre Partie, die anderen drei spielten remis.

Nach dem ersten Drittel des Turniers sind die Männer jetzt eine von zwei verlustpunktfreien Mannschaften. Am Dienstag treffen sie auf die andere, Polen. Die Frauen haben sich mit nun 5:1 Punkten auf den geteilten dritten Platz vorgearbeitet. Sie treffen in der vierten Runde auf Ungarn, die andere Mannschaft mit 5:1 Punkten. Männer wie Frauen werden nominell leicht favorisiert sein.

In der dritten Runde sah es nach zweieinhalb Stunden bei den Männern aus wie am Vortag gegen Ungarn: schwierig. Vorteil war an keinem der Bretter zu sehen, stattdessen arge Probleme: Wie sollte Matthias Blübaum jemals seine Türme verbinden und seinen König in Sicherheit bringen? Und wie Alexander Donchenko? Nachdem er ausgangs der Eröffnung mit den weißen Steinen weitgehend risikolosen Vorteil verpasst hatte, sah es aus, als müsse er sich in erster Linie nach einer Rettung umsehen.

Hier geht es schon wieder, obwohl es nicht so aussieht: Die Maschine schlägt Kuriositäten wie 19…Tf8 nebst …Tf7, gefolgt von …Kf8 und …Kg7 vor, beharrt aber darauf, dass das alles nicht mehr so schlimm ist. Matthias Blübaum bestätigte diese Einschätzung, übernahm sogar nach und nach das Kommando und konterte schließlich entscheidend.

Vincent Keymer kämpfte derweil gegen Grand-Swiss-Überraschung Alexander Predke um Ausgleich, und bei Rasmus Svane gegen Europameister Alexei Sarana war herzlich wenig los. Hätte in dieser Konstellation jemand Ersatz-Teamchef Kevin Högy (eingesprungen für den über Nacht erkrankten Jan Gustafsson) ein 2:2 gegen Serbien angeboten, er hätte es dankbar akzeptiert.

Nicht nur ließ Alexander Indjic aufseiten der Serben Matthias Blübaum aus einem Schwitzkasten entkommen. Wenig später fing er sich einen Konter ein, der zu entscheidendem schwarzen Vorteil führte. Die Partie endete mit einem kuriosen Königsmarsch Blübaums, der von f8 nach b1 führte, am weißen Damenflügel zwei Bauern auf a2 und b2 einsammelte, dann zurück nach e7, stets unter weißen Schachgeboten. Als Blübaums König im 54. Zug nach e7 zurückkehrte, gingen Indjic die Schachs aus, und sein seit 20 Zügen gefesselter Springer hing immer noch. Indjic gab auf.

Zwischenstation auf b1 im 46. Zug: Der schwarze König sammelte noch die Bauern auf a2 und b2 ein, begab sich dann zurück nach e7, und schließlich gingen Indjic die Schachgebote aus.

Da stand es schon 2:0! Während Blübaums König quer übers Brett und zurück flüchtete, stellte Alexander Donchenko den Zug des Tages aufs Brett, ein unscheinbarer Bauernzug von f3 nach f4, aber ein starkes Zeichen von Ambition. An genau dieser Stelle hätte Donchenko die Partie in ein remisträchtiges Schwerfigurenendspiel abwickeln können – was nach verkorkster Eröffnung in Ermangelung von Vorteil verständlich gewesen wäre – zumal gegen jemanden, der seine beiden ersten EM-Partien gewonnen hatte.

20.f4, Gewinnversuch, der couragierteste Zug des Tages: Donchenko hätte die Partie per 20.Lxa6 Da5+ 21.Kf1 Dxa6+ 22.Kg2 Dxa2 23.Dxd5 Dxb2 24.Tb1 usw. mehr oder weniger abmoderieren können. Daran war er nicht interessiert.

Donchenko war an Remisabwicklungen nicht interessiert. Der Gießener setzte auf Königsangriff – mit eigenem König auf e1 bei geöffneter e-Linie! Derlei Chuzpe des Gegners in einer Partie, die eigentlich günstig für Schwarz gelaufen war, ließ Velimir Ivic nicht unbeeindruckt. 15 Züge später war er matt.

“Außer Kontrolle” war seine Partie, gestand Alexander Donchenko hinterher. Und er wusste auch nicht, ob er besser oder schlechter steht. Aber er wusste, wo das Tor steht, und das war entscheidend.

Nun musste nur noch Rasmus Svane das tun, wofür er am zweiten Brett sitzt: Partien gegen starke Leute “wegremisieren, während die anderen punkten”, wie Gustafsson sein Nominierungskalkül erklärt hat. Dieses Kalkül ging auch gegen Serbien auf. Nach den ersten drei beendeten Partien war der Kampf entschieden.

Am ersten Brett kämpfte Alexander Predke trotzdem weiter. Vincent Keymer gelang es vom 1. bis zum 91. Zug nicht, den leichten, aber steten Druck des Serben abzuschütteln. Im 92. Zug unterlief ihm der Fehler, der es Weiß erlaubte, das günstige Endspiel in ein gewonnenes zu verwandeln.

Rasmus Svane, die Wand am zweiten Brett. | Foto: Paul Meyer-Dunker

Die Grundlage für den 2,5:1,5-Sieg der Frauen war – ein Unentschieden. Als Hanna-Marie Kleks lange unschuldig-ausgeglichen erscheinende Stellung nach und nach schwierig zu werden drohte, warf sie einen Rettungsanker in Form eines Läuferopfers auf h3 aus, das zu einem Dauerschach führte. Damit war die Mannschaft auf Siegkurs.

Die Partie war zuletzt nicht gut gelaufen, ein Störfeuer musste her. Da kam 21…Lxh3!? gerade recht. Und es sollte funktionieren.

Die zweite Grundlage war die günstige Konstellation am dritten Brett: die Mathematikerin des Teams vor der rechenintensivsten Stellung. Ähnlich wie nebenan warf auch Josefine Heinemanns Gegnerin in schwerer See einen Rettungsanker gen h3 aus, ein Anker auf Chance allerdings. Würde Heinemann richtig spielen, wäre die schwarze Stellung nicht zu retten.

19…Lh3+, den nahm Heinemann natürlich nicht, das wäre Matt in 6.

Beim Stande von nun 1,5:0,5 für Deutschland sollte nicht mehr viel anbrennen. Das schottische Durcheinander auf dem Brett von Elisabeth Pähtz löste sich in ein ausgeglichenes, spannungarmes Endspiel auf, ähnlich war es bei Dinara Wagner, die sich allerdings ohne Not einen Schreckmoment eingehandelt hatte:

Besser direkt auf b2 nehmen und im Zweifel den b7 abgeben. Dinara Wagner wollte mit erst 22…Sxe4 den Mehrbauern behalten. Das hätte nach 23.Txe4 Dxb2 24.d6 brandgefährlich werden können. Der weiße Freibauer hat Monsterpotenzial.

In der Partie bekam Weiß nicht mehr als ein trotz Mehrbauern ungewinnbares Turmendspiel, das zu halten Wagner keine Mühe bereitete: 2,5:1,5.

Hanna-Marie Kleks halber Punkt war die Grundlage, Josefine Heinemanns ganzer schon mehr als die halbe Miete. Bundestrainer Yuri Yakovich wird es zufrieden zur Kenntnis genommen haben. | Foto: Paul Meyer-Dunker/DSB
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Thomas Richter
Thomas Richter
5 Monate zuvor

Natürlich ist es eine Mannschaft – auch ohne Keymer wäre Deutschland auf Platz 5 der Setzliste (statt Platz 3), Norwegen dagegen ohne Carlsen auf Platz 22 (in dieser Region sind sie momentan auch) statt Platz 8. Dass Deutschland so weit oben in der Setzliste ist liegt neben der eigenen Stärke auch daran, dass im Vergleich zu früheren Turnieren z.B. Giri, Vachier-Lagrave, Firouzja, Russland und die Ukraine fehlen (beim vorletzten Turnier 2019 war auch Aronian noch Europäer). Unklar auch, ob Keymer wirklich (bereits) “ganz klar stärker” ist als Naiditsch zu dessen besten Zeiten. Egal wie Keymer das selbst einschätzt – er… Weiterlesen »

Frank Tobias
Frank Tobias
5 Monate zuvor

Danke für deine sach-und fachkundigen Einlassungen im Schach in YT und auch hier. Für mich stellt es ein absolutes Rätsel dar, dass unsere (erfolgreichen!) Aushängeschilder in diesem Sport um jeden Cent kämpfen müssen, währenddessen andere Nationen begriffen haben, wie wichtig es ist, Menschen in Taktik und Technik zu schulen. Im Fußball werden Unsummen an Gelder ausgegeben und aus dem Fenster geschmissen….nur auf Verdacht! Aber ne Million pro Jahr für unsere Schach-Nationalmannschaften sind offenbar zuviel. Vielleicht sollten unsere Nationalmannschaft geschlossen nach Indien oder Rumänien wechseln! Das würde endlich mal den Finger medial in die Wunde legen und damit bewirken, dass den… Weiterlesen »