Drama in Delhi

Einen Tag verspätet, mit zwei Spielerinnen weniger als geplant und begleitet von einer Menge öffentlichem Drama (“Lüge”, “Heuchelei”, “Erpressung”) begann am heutigen Sonntag die dritte Etappe des Grand Prix der Frauen in Neu-Delhi. Mittendrin im Drama, aber raus aus dem Turnier ist Elisabeth Pähtz. Die deutsche Nummer eins ebenso wie die zweifache Junioren-Weltmeisterin Zhansaya Abdumalik (Kasachstan) halten die Bedingungen in Neu-Delhi für unzumutbar. Beide haben sich vom Turnier zurückgezogen. Unzufrieden sind auch andere Teilnehmerinnen. Aber ein Appell an die FIDE von sechs Spielerinnen, darunter Pähtz und Abdumalik, das Turnier zu verschieben, hatte nicht gefruchtet.

Das Drama nahm seinen Lauf, als in der Nacht auf den 24. März, dem Tag vor der ersten Runde, die Spielerinnen in Neu-Delhi eintrafen. Einen offiziellen Transport zum Hotel gab es nicht. Zwar hatten die indischen Veranstalter jemanden zur Begrüßung abgestellt, aber der setzte die Spielerinnen unbegleitet in ein Taxi. In der “Vergewaltigungshauptstadt” Neu-Delhi fühlten sich die Frauen unsicher.

Im Hotel angekommen, waren nach Darstellung von Pähtz die Zimmer nicht vorbereitet. Vier Spielerinnen hätten dreieinhalb Stunden in der Lobby ausharren müssen, berichtete sie dem Schachgeflüster. Ihr sei ein Frühstück für 25 Euro angeboten worden. Am Tag danach hätten mehrere Spielerinnen ihr Zimmer räumen und ein anderes beziehen müssen. Es heißt, das Hotel sei nicht informiert gewesen, wer wann anreist.

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Abdumalik wurde nicht begrüßt, als sie gegen 1.30 Uhr am Flughafen eintraf, und ihre Kontaktperson war nicht erreichbar. Schließlich doch am Hotel in einem Industrieviertel angekommen, bestätigten sich ihre Befürchtungen hinsichtlich der Luftverschmutzung in Neu-Delhi, als sie aus dem Fenster eine brennende Müllkippe erblickte. Das Hotelpersonal riet ihr derweil davon ab, allein das Haus zu verlassen – zu gefährlich. “Ich konnte mir nicht vorstellen, hier zwei Wochen Schach zu spielen. Wir verdienen gute Bedingungen”, erklärte sie ChessBase India.

Abdumalik teilte FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich und FIDE-Geschäftsführer Emil Sutovsky mit, dass sie sich aus dem Turnier zurückzieht. Dvorkovich entschuldigte sich für die Situation, sagte, die indischen Organisatoren seien nicht ausreichend vorbereitet gewesen, daran habe auch die FIDE einen Anteil. Das Ende von Dvorkovichs Nachricht, veröffentlicht von Abdumalik auf Instagram: “Wenn die Stärke dafür findest – spiele. Respektvoll und in der Hoffnung auf gegenseitiges Verständnis, Arkady.”

Zu elft spielen? Gar nicht spielen? Ratlosigkeit während der Eröffnungsfeier. | Foto: Aditya Sur Roy/ChessBase India

Umzustimmen vermochte sie das nicht. Tags darauf während der Eröffnungsfeier sprach sich unter den Teilnehmerinnen herum, dass Abdumalik zurückzieht. Wie sollte sich das im Sinne eines fairen Turniers reparieren lassen? Der Gedanke, Abdumalik mit einer indischen Spielerin zu ersetzen, die vierte Inderin im Turnier, stieß auf wenig Gegenliebe. Die “Lösung”, zu elft zu spielen, ebenso, sie hätte das Konstrukt hinsichtlich freien Tagen (wertlos zu Beginn, wertvoll am Ende des Wettbewerbs) sowie Farbverteilung verschoben.

Am Tag, als es beginnen sollte, stand das Turnier auf der Kippe. Anstatt der Partien stand am Samstag (in Ermangelung der Anwesenheit eines FIDE-Vertreters in Neu-Delhi) ein Zoom-Meeting mit Spielerinnen und FIDE-Offiziellen inklusive Dvorkovich auf der Agenda, um eine Lösung zu finden. Da lag schon die in der Nacht verfasste Aufforderung der sechs Spielerinnen (inklusive der abgereisten Abdumalik) vor, den Wettbewerb zu verschieben, abgesandt von Elisabeth Pähtz’ E-Mail-Account an die FIDE-Chefetage.

Eine Verschiebung lehnte die FIDE kategorisch ab. Sie lasse sich nicht mit dem Turnierkalender vereinbaren. Im Lauf der Verhandlung hat eine Spielerin nach Darstellung Pähtz’ gedroht, ebenfalls abzureisen, sollten im Sinne einer gerechteren Farbverteilung die Paarungen neu gelost werden. Das Ergebnis: Das Turnier sollte nun mit einer Spielerin weniger, aber zumindest in der ersten Runde nach der ursprünglichen Auslosung gespielt werden. Weitere Modifikationen an den Paarungen sollten nur da vorgenommen werden, wo sie einer gerechteren Farbverteilung dienlich sind, hieß es in einer Pressemitteilung der FIDE am Samstag.

Die “indirekte Erpressung” einer Spielerin, wie Pähtz gegenüber ChessBase India formulierte, sei für sie der finale Anlass gewesen, sich ebenfalls vom Turnier zurückzuziehen, eine Entscheidung, die sie am Sonntagmorgen zuerst dem DSB mitteilte. Von ihrem Verband erfuhr Pähtz angesichts der Umstände Unterstützung.

Pähtz erschien zu ihrer Erstrundenpartie gegen Vaishali (Indien) nicht am Brett und wurde genullt. Nach Angaben der FIDE hatte sie dem Weltverband weniger als eine Stunde vor Beginn der Partie ihren Rückzug erklärt. Das Turnier wird nun mit zehn Spielerinnen fortgesetzt. Ob die Paarungen bleiben, wie sie sind (was für Teilnehmerinnen zu sechs Weiß- bzw. Schwarzpartien führen würde), scheint noch offen zu sein.

Während den Kommentatoren im Livestream noch nicht aufgefallen war, dass dem Wettbewerb noch eine Spielerin abhandengekommen ist, forderte der DSB schon, dass sie FIDE “die Geschehnisse aufarbeitet und sich Änderungen für die Zukunft ergeben”.

Turnierdirektor Singh Chauhan räumt Defizite bei der Organisation ein, empfindet sie aber als nicht so gravierend, dass deswegen Spielerinnen das Turnier verlassen müssten. Das Hotel sei erstklassig und bereits Schauplatz mancher hochklassiger Schach- und Sportveranstaltung gewesen. Abdumalik sei früher als geplant am Flughafen angekommen, deswegen habe sie niemand empfangen. Singh Chauhan deutete außerdem an, ähnliche Vorfälle und kurzfristige Änderungen des Reglements hätten schon während anderer Frauenturniere der jüngeren Vergangenheit für Missstimmung gesorgt.

“Kein Grund, sich zurückzuziehen”: Turnierdirektor Singh Chauhan.

Tatsächlich scheint sich Neu-Delhi eine Unzufriedenheit zu entladen, die sich über Monate angestaut hat. Beim vergangenen Grand Prix in München etwa erfuhren alle Beteiligten extrem kurzfristig die Details der Veranstaltung. Während des Turniers protestierten nach Informationen dieser Seite Spielerinnen, weil der für technische Fragen zuständige FIDE-Offizielle nicht erreichbar war. Erst eine Mail mit FIDE-Chef Dvorkovich im cc sorgte dafür, dass sich jemand zuständig fühlte.

Dinara Wagner (rechts) spielt in diesen Tagen Europameisterschaft. Danach sollte das vierte Grand-Prix-Turnier auf ihrem Schachkalender stehen, aber sie weiß noch nicht, wo und wann es stattfinden wird.

Obwohl die FIDE das vergangene Jahr zu dem der Frauen im Schach ausgerufen hat, gibt sie gerade auf diesem Feld durchgehend ein unglückliches Bild ab. Das achtköpfige Kandidatenturnier hat sie kurzfristig in zwei Viererwettbewerbe geteilt, um ein Aufeinandertreffen von Russinnen und Ukrainerinnen zumindest hinauszuschieben, ohne diesen Grund je zu benennen. Während im Grand Prix die Russinnen spielen, hatten sich die Muzychuk-Schwestern schon vor Beginn des Grand Prix in Indien von diesem zurückgezogen, ohne dass die FIDE das öffentlich registriert hätte. Zuletzt zauberte der Schach-Weltverband allen Ernstes Saudi-Arabien als Partner in Sachen Gleichstellung aus dem Hut.

Die Grand-Prix-Serie 2022/23 ist mit dem Rückzug der Muzychuk-Schwestern und dem kastrierten dritten von vier Turnieren sportlich verzerrt. Wie wenig Bedeutung ihr der Weltverband beimisst, lässt sich daran ablesen, dass in Neu-Delhi kein Offizieller des Weltverbands anwesend ist. Was auch damit zusammenhängt, dass die FIDE den Grand Prix in Neu-Delhi und das in dieser Woche beginnende Kandidatinnenfinale so terminiert hat, dass sie einander überschneiden.

“Gleichstellung, eine Top-Priorität von Saudi-Arabien und der FIDE”: Die FIDE hat ihren Tweet zur Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien mittlerweile gelöscht. | Foto via FIDE

Was aus dem vierten der vier Grand-Prix-Turniere wird, ist derweil offen. Offiziell war es für Ende April in Polen angesetzt. Mittlerweile heißt es Mai/Juni, Austragungsort offen. Dass Polen zurückgezogen hat, mutmaßlich wegen der Russinnen im Feld, ist nirgendwo offiziell bestätigt. Es verschwand nur klammheimlich der Austragungsort Bydgoszcz von der Website.

Im Anschluss an sein Gespräch mit den Spielerinnen, die den Frust über vergangene Veranstaltungen und zu geringe Bezahlung äußerten, veröffentlichte die FIDE eine Entschuldigung Dvorkovichs – auch das nicht unfallfrei. Der Weltverband mochte sich einen Seitenhieb auf den indischen Ausrichter nicht verkneifen, obwohl doch die Entschuldigung der eigenen Versäumnisse der vergangenen Monate gelten sollte.

Wie Entschuldigen nicht geht.

Ein gewaltiges Social-Media-Hauen-und-Stechen zwischen den kasachischen Spitzenspielerinnen Abdumalik und Bibisara Assaubayeva begleitete das Drama vor der ersten Runde in Neu-Delhi. Assaubayeva schoss auf Instagram zuerst, nachdem Abumalik zurückgezogen hatte: Nur weil Abdumalik glaube, aus vorgeschobenen Gründen alles über den Haufen werfen zu können, sei aus Lügen eine Hysterie entstanden, die das Turnier gefährde. Assaubayeva stellte Sportlichkeit, Professionalismus und Einstellung ihrer Landsfrau infrage. Wer auf Kleinigkeiten so übertrieben reagiere, solle besser “heiraten und Borscht kochen”.

Abdumalik schoss zurück: Sie warf Assaubayeva “hässliche Lügen und Heuchelei” vor, stellte fest, sie seien doch beide nicht mit den Bedingungen einverstanden gewesen, hätten beide den Appell an die FIDE unterschrieben. Assaubayeva konterte, sie habe nie etwas unterschrieben, und die Umstände in Delhi seinen in Ordnung. Dennoch hätten zwei Spielerinnen einen Nervenzusammenbruch erlitten, nur weil Abdumalik zurückgezogen hat.

An dieser Stelle grätschte Elisabeth Pähtz rein. Mit einem Facebook- und Instagram-Post stellte sie sich auf die Seite von Abdumalik, die keinesfalls das Turnier habe zerstören wollen, sondern ihre Konsequenzen aus unzureichender Organisation gezogen habe. Außerdem sei Assaubayeva in der Besprechung mit der FIDE die Erste gewesen, die gedroht habe, sich aus dem Wettbewerb zurückzuziehen. Ihre Darstellung, sie habe das Schreiben an die FIDE nicht mitunterzeichnet und habe nie mit Rückzug gedroht, sei gelogen.

Am Sonntag dann, 24 Stunden verspätet, sollte Schach gespielt werden. Aber auch hier war noch ein Drama zu besichtigen. Vor dem Anpfiff der Partien eilte Turnierdirektor Singh Chauhan von Brett zu Brett, um allen Spielerinnen die Hand zu reichen, eine versöhnliche Geste. Aleksandra Goryachkina verweigerte den Handschlag.

Kein Frieden: Goryachkina verweigert den Handschlag mit dem Turnierdirektor. | Foto: ChessBase India

Assaubayeva veröffentlichte im Lauf des Sonntagabends auf Facebook eine Entschuldigung.

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Thorsten
Thorsten
1 Jahr zuvor

Ich finde das Statement des DSB inakzeptabel. Wir reden von einem 5-Sterne-Hotel und ein Eröffnungsessen gab es genau wie eine Veranstaltung zur Eröffnung. Das Klima in der Gegend war den Spielerinnen bekannt. Wer dort zu dieser Jahreszeit nicht sein will, sagt vorher ab. Das Abholen vom Airport via Taxi ohne Begleiter war in der Tat ein schweres Versäumnis der Organisatoren. Aber es fehlen genaue, belegte Informationen. In dem Text kam jetzt heraus, dass es jemanden zum Empfang gab. Elisabeth mag psychisch angeschlagen sein nach dem Chaos, aber ihr Ausstieg sollte nicht vom DSB als richtig bezeichnet werden. Ich hätte großes… Weiterlesen »

Walter Rädler
Walter Rädler
1 Jahr zuvor

1972 in Reykjavik: Weltmeisterschaft und einer der beiden steigt nicht in die Maschine ein und lässt alle anderen warten. Bobby Fischer spielt eine Partie nicht, um seine Forderungen durchzuboxen. Es war nicht nur das Match des Jahrhunderts wegen dem wunderbaren Schach von Bobby Fischer, sondern auch das Ballyhoo von ihm. Marketingmäßig hat er alles richtig gemacht, um einen Hype zu erzeugen, moralisch natürlich nicht. Heute hast du die Skandale und eine unglaubliche Fanbase durch das Internet, das steigert die Sache noch einmal. => Clemens Allwermann hat mit seiner Theorie durchaus Recht. So etwas wie Taxi, Frühstück.. gehört alles vertraglich vereinbart,… Weiterlesen »

Frank Hoppe
Frank Hoppe
1 Jahr zuvor

@Conrad: Bitte mal die ca. 40 Rechtschreibfehler beseitigen.

Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

Nicht schön, irgendwo war wie folgt zu lesen : ‘Als die ersten Spielerinnen am 24. März, dem Tag vor der ersten Runde, in Neu-Delhi ankamen, gab es keinen offiziellen Flughafen-Transport und die Spielerinnen mussten Taxis nehmen, ohne zu wissen, wohin sie eigentlich fahren sollten. Ein FIDE-Funktionär ist in Neu-Delhi nicht anwesend. Als sie dann im Hotel ankamen, erfuhren sie, dass die Zimmer noch nicht fertig waren und das Frühstück nicht im Preis inbegriffen war. Angesichts dieser schlechten Bedingungen beschloss Zhansaya Abdumalik spontan wieder abzureisen.’ Ja, es kann auch Schach gespielt werden, ich selbst habe unter schlechteren Bedingungen gespielt, Schach ist… Weiterlesen »

trackback

[…] Kasachin Bibisara Assaubayeva. Die Partie zwischen zwei der zentralen Darstellerinnen des Grand-Prix-Dramas von Delhi verlief dramenfrei, ereignisarm und mündete bald in eine […]

Lars Köppen
Lars Köppen
1 Jahr zuvor

Es wäre jetzt noch zu klären, was Abdumalik von der Aktion hat. Da sie ja in Bydgoszcz bzw. dem Ersatzort laut Regeln aussetzen muss, werden jetzt rein rechnerisch auf jeden Fall Goryachkina, Koneru und Dzagnidze an ihr vorbeiziehen (in Delhi gibt es keinen 11. und 12. Platz mehr), Tan (setzt in Delhi aus) reicht ein 10. Platz in letzten GP, Dronavali (holt in Delhi garantiert Platz 10, s.o.) reicht auch ein 10. Platz. Selbst wenn jetzt Delhi und Bydgoszcz abgesagt werden, verpasst sie die Qualifikation zum Kandidatinnen-Turnier über Platz 1&2 im Gesamt-GP. Die Qualifikation über die beste ELO aller nicht… Weiterlesen »

schachkatze
schachkatze
1 Jahr zuvor

Wer ist denn nun die Spielerin, die nach dem Rückzug von Abdumalik, keine neue Paarung mit normaler Farbverteilung wollte?

Clemens Allwermann
Clemens Allwermann
1 Jahr zuvor

Seien wir ehrlich: Schach ist auch gerade wegen solcher Skandale,m wie Analperlen, Ramirez und jetzt Neu-Delhi gerade so populär, ich werde so oft auf Schach angesprochen wie sonst nie…
Gruss, euer Clemens.

Stefan Anker
Stefan Anker
1 Jahr zuvor

Mir kommt es so vor, dass die Fide grundsätzlich eher frauenfeindlich auf- und eingestellt ist. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass sie ein Männerturnier so schlecht und vor allem mit so wenig Interesse an den Teilnehmern organisieren würden. Und die Saudis als Partner in Sachen Gleichberechtigung? Da würde ich als Frau wahrscheinlich aus der Fide austreten und eigene Turniere veranstalten.