“Schweigen hilft Missbrauchern und Ermöglichern”: Ermittlungen gegen US-Großmeister Alejandro Ramirez

Der Vorwurf: sexuelles Fehlverhalten. GM Alejandro Ramirez steht im Fokus einer Untersuchung des US-Schachverbands und des Saint Louis Chess Club. Als Kommentator des Saint-Louis-Schachkanals, als Trainer der Frauen-Nationalmannschaft der USA und des Schachteams der Universität Saint Louis ist der einstige Sekundant von Fabiano Caruana eines der bekanntesten Gesichter der US-Schachszene. Ermittlungsbehörden sind offenbar nicht involviert.

Die zweifache US-Schachmeisterin, Autorin und Pokerspielerin Jennifer Shahade hat den Vorgang am Mittwoch öffentlich gemacht. „Die Zeit ist um“ überschrieb die 42-Jährige einen Tweet, in dem sie ihre Anschuldigungen formulierte. Ramirez habe sich vor neun und zehn Jahren an ihr vergriffen. Nun hätten sich ihr „alarmierende Beweise“ anderer Opfer offenbart, darunter Minderjährige.

Alejandro Ramirez als Kommentator in Saint Louis. | Foto: Lennart Ootes/Grand Chess Tour

Auf Anfrage von chess.com sagte Ramirez (34), er könne aufgrund der laufenden Untersuchungen den Fall nicht kommentieren. „Ich verstehe die Besorgnis, die die gegen mich erhobenen Anschuldigungen auslösen. Ich kooperiere voll und ganz mit beiden Untersuchungen und freue mich auf die Gelegenheit, meine Seite der Geschichte darzulegen.“

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Shahade suggeriert, dass es ein mühsamer Prozess war, im US-Schach eine Untersuchung auszulösen und voranzutreiben. Mädchen im Schach zu fördern, sei aber sinnlos, „wenn wir nicht glasklar machen können, dass die Sicherheit von Frauen, Mädchen und Kindern höchste Priorität hat. Deshalb mache ich die Angelegenheit jetzt öffentlich.“

In Saint Louis waren Shahade und Ramirez jahrelang Teil eines Kommentatorenteams.

Als Kommentatorin in Saint Louis hat Shahade viele Jahre mit Ramirez zusammengearbeitet. Nicht so im Herbst während des Sinquefield Cups. In jenen Wochen hat sie nach eigenen Angaben dem US-Verband und dem Verein in der US-Schachhauptstadt die Anschuldigungen mitgeteilt und sich vom Kommentieren zurückgezogen. Ihre Zeit seitdem habe sie mit Poker, Schreiben und der Arbeit mit Mädchen im Schach ausgefüllt.

Die Vorfälle vor neun und zehn Jahren habe sie abgehakt gehabt. „Ich war weitergezogen.“ Dann hätten sich „mehrere Frauen, unabhängig voneinander und ohne Kenntnis meiner eigenen Erfahrung, mit ihren eigenen Geschichten über Missbrauch“ an sie gewandt und von viel jüngeren Opfern berichtet. „Ich sah alarmierende Beweise, darunter Texte, die den Missbrauch einer Minderjährigen offenbarten, während er sie trainierte, sowie einen Text an ein mutmaßliches Opfer, in dem er sie als Verlockung bezeichnete.“

Gegenüber chess.com erklärte Shahade, dass Kinder, Mädchen und Frauen, die mit Ramirez interagieren, es ihrer Auffassung verdienen, so schnell wie möglich zu erfahren, was im Raum steht. „Außerdem könnte dies weitere Beweise ans Licht bringen.“ Sexuelles Fehlverhalten sei ein umfassendes Problem im Schach. „Schweigen hilft Missbrauchern und Ermöglichern.“

Nach ihrem Tweet, den binnen zwölf Stunden mehr als eine Million Menschen gesehen haben, erfuhr Shahade ausschließlich überwältigenden Zuspruch. Zahlreiche Beobachter zeigten sich schockiert. Andere deuteten an, das Problem sei bekannt. Der US-Verband reagierte wortkarg: „Wir sind uns bewusst, dass eine unserer Mitarbeiterinnen schwerwiegende Vorwürfe gegen ein Mitglied der Schachgemeinschaft erhoben hat.“ Zum Stand der Dinge wollte der Verband keinen Kommentar abgeben.

Jennifer Shahade mit (von links) Yasser Seirawan, Rex Sinquefield und Maurice Ashley. Aus deren Saint-Louis-Schachbetrieb hat sie sich zuletzt zurückgezogen. | via Saint Louis Chess Club/YouTube

Offen ist, ob das US-Schach jahrelang ein offenes Geheimnis ignoriert hat, oder ob die jetzt im Raum stehenden Vorwürfe nur Betroffenen bekannt waren. US-Großmeister Hikaru Nakamura sagte in einer ersten Reaktion in seinem Schach-Stream, er sei „nicht überrascht“.

Auf ihrem Discord-Kanal äußerten sich die US-Nummer eins Fabiano Caruana und dessen Sekundant Christian Chirila, die gerade erst Ramirez in ihren Podcast „C-Squared“ eingeladen hatten. „Ich bin geschockt“, sagte Caruana. „Das sind ernsthafte Anschuldigungen. Ich hoffe, sie sind nicht wahr.“ Chirila äußerte sich ähnlich: „Ich kenne Alejandro schon lange, und ich kann sagen, ich habe das nicht kommen sehen. Ich möchte jetzt abwarten, bis mehr bekannt wird.“

Alejandro Ramirez als Gast im C-Squared-Podcast.
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Amontillado
Amontillado
1 Jahr zuvor

Die Erfahrung zeigt leider, dass der Weg an die Öffentlichkeit manchmal der einzig effektive ist, insofern hat sie alles richtig gemacht. Ich hoffe, sie hat die Beweise, von denen sie spricht, auch gesammelt und verfügbar, sonst kann so ein Schuss natürlich schnell nach hinten losgehen.

Inwieweit das “ein offenes Geheimnis” war, wäre natürlich schon interessant zu wissen. Caruana und Chirila sind als gute Freunde von Ramirez nicht unbedingt die neutralste Quelle – Hikaru Nakamura, der es sich zum Beruf gemacht hat, der Klicks wegen jedes Drama zu kommentieren und zu befeuern, freilich auch nicht.

Lars Köppen
Lars Köppen
1 Jahr zuvor

Was hat es denn mit dem Tweet von Tatev Abrahamyan auf sich? Ist sie auch betroffen und hat Vorwürfe gegen Ramirez erhoben oder soll das Foto nur allgemein illustrieren, dass Ramirez übergriffig ist?

Faustus
Faustus
1 Jahr zuvor

Ich denke man sollte die Ermittlungen abwarten.
Etwas finde ich allerdings seltsam. Die Vorfälle über die Jennifer Shahade spricht liegen 10 Jahre zurück. Damals war Alejandro Ramirez 24 – Jennifer Shahade aber bereits 32. Zudem hat sie ein hohes Selbstbewusstsein und war schon relativ bekannt.
Derartige Vorfälle sind doch häufig von unterschiedlichen Machtverhältnissen geprägt. Irgendwie passt dies nicht in das Schema ähnlicher Fälle.
Ganz anders verhält es sich natürlich bei Minderjährigen, die er unterrichtet.

Sie sind beide herausragende Schachkommentatoren – ich würde es bedauern, falls man sie auf der Schachbühne nicht mehr sieht.

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Rafael Müdder
Rafael Müdder
1 Jahr zuvor

Dies ist natürlich eine schlimme Anschuldigung. Und schauen wir Mal, was noch passieren wird. Allerdings ist es gut, das dieses grundsätzliche Problem einer breiten Öffentlichkeit bewusster gemacht wird. Ja, auch im Schach gibt es leider sexuelle Übergriffe. Hier hat vor Jahren bereits die DSJ Stellung bezogen und auf das Problem nicht nur hingewiesen, sondern versucht auch gegen zu steuern. So zum Beispiel der Ehrenkodex der DSJ ist, um Minderjährige zu schützen, oder auch die Pflichtteilnahme aller Trainer an einer Informationsveranstaltung zu genau diesen Thema. Weiterhin mit Plakaten und Broschüren. Dort steht auch drin, wo man sich bei der DSJ hinwenden… Weiterlesen »