Hans Niemanns König enthauptet

Seit Dienstagabend ist das Schach um eine skurrile Szene reicher. 44 Züge waren zwischen den US-Großmeistern Hans Niemann und Samuel Sevian gespielt, Niemann grübelte über seinem 45. Zug, da ragte Sevian aufs Brett, griff nach Niemanns König – und enthauptete den Monarchen seines Gegenspielers.

Regelgerecht kann das nicht gewesen sein. Ohnehin ist das Zerbrechen der gegnerischen Figuren beim Schach nicht vorgesehen. Darüber hinaus haben die Hände eines Spielers, der nicht am Zug ist, auf dem Brett nichts zu suchen. Zurechtrücken darf nur, wer dran ist, muss das aber vorher ankündigen (“j’adoube“). Ansonsten würde “berührt-geführt” gelten.

“Hey, Sam, gib’ mir meinen König zurück.” | via US Chess

Ein 2700-Elo-Großmeister wie der 21-jährige Sevian weiß das natürlich. Trotzdem hatte den ehemaligen U12-Weltmeister das lose Kreuz auf dem Kopf von Niemanns König auf b3 offenbar so gestört, dass er nicht an sich halten konnte. Sevian griff kurzerhand nach der Figur – und hatte sogleich zwei Einzelteile in der Hand.

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Während der perplex dreinschauende Niemann seinen König zurückverlangte, präsentierte ihm Sevian den zweigeteilten Monarchen – und stellte ihn, ohne Kreuz auf dem Kopf, auf einem anderen Feld ab, als das, von dem er ihn genommen hatte, zwischen b6 und b7. Niemann stoppte seine laufende Uhr.

Schließlich nahm Sevian den enthaupteten schwarzen König erneut in die Hand und stellte ihn dort ab, von wo er gekommen war, auf b3. Dann versuchte er, das abgetrennte Kreuz wieder auf dem König zu befestigen. Im kleinen Dialog, der sich während dieser Angegenheit zwischen den Spielern entspann, deutete Sevian mehrfach zur Tür, als ob er die Angelegenheit draußen (und handgreiflich?) klären wolle.

Bald trat der Schiedsrichter hinzu, setzte die Uhr wieder in Gang und bedeutete den Spielern, ihre Partie fortzusetzen. Vergeblich. Es bedurfte einer zweiten Aufforderung des Unparteiischen, bevor Sevian und Niemann sich wieder dem zuwandten, wozu sie gekommen waren: ihrer Begegnung in der zwölften, vorletzten Runde der US-Meisterschaft.

Was, bitteschön, war da los? “Kein Drama”, erklärte Niemann nach der Partie, im Angesicht der Carlsen-Niemann-Affäre erkennbar bemüht, die Angelegenheit abzumoderieren. Keinesfalls habe sich Sevian im Streit mit ihm vor die Tür begeben wollen. Stattdessen sei das Anliegen seines Gegenspielers gewesen, gemeinsam den kaputten König zu kleben. Zwischen ihm und Sevian sei alles gut.

Viel lieber wollte Niemann über die Partie sprechen, in der er ein trickreiches Endspiel trotz zwischenzeitlichen Strauchelns doch noch zum Sieg geführt hatte. Nach einer zwischenzeitlichen Serie von drei Niederlagen hat sich Niemann nun ins obere Mittelfeld zurückgekämpft. Der 19-Jährige steht vor der 13. und letzten Runde am heutigen Mittwoch ab 20 Uhr bei 6,5 Punkten.

Mit dem Titel hat er nichts mehr zu tun, ebenso wie Samuel Sevian, der Niemann hätte bezwingen müssen, um am führenden Fabiano Caruana dranzubleiben. Auch die (potenziellen) Top-10-Spieler Lenier Dominguez, Wesley So und Levon Aronian waren nicht in der Lage, mit Caruana mitzuhalten.

“Kein Drama”: Als Sevian und Niemann schließlich gemeinsam vor die Tür traten, ging es harmonisch zu. Das Gespräch kreiste um die Partie, nicht um den kaputten König. | Foto: Lennart Ootes/US Chess

Der Spitzenreiter war anfangs dem Feld davongezogen, dann nahm er ein wenig Tempo raus. Caruanas Remis am Dienstag gegen Sam Shankland war sein fünftes in Folge – genug, um mit 8/12 weiter alleine vorne zu stehen, einen halben Punkt vor Ray Robson. Ob er den Titel gewinnt, entscheidet sich heute. Vorab steht fest, dass Caruana aus dem Formtief geklettert ist, das ihn mit der frustrierenden zweiten Hälfte des Kandidatenturniers ereilt hatte.

Im der vorletzten Runde der US-Frauenmeisterschaft gelang der achtfachen US-Meisterin Irina Krush ein Big Point gegen die bis dahin führende Jennifer Yu. Vor der letzten Runde führt nun Krush mit 8,5 Punkten aus 12 Partien, einen halben Zähler vor Yu und Thalia Cervantes.

Mit der Kraft der zwei Schnittchen: Irina Krush steht vor ihrem neunten Titelgewinn. | Foto: Lennart Ootes/US Chess
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capa50
capa50
1 Jahr zuvor

Wenn das eine ernste Partie war – hat Sevian klar aufgegeben also O:1.
-siehe Video bei twitter, sein Verhalten zeigt dies klar .
Einzig denkbar er hätte noch j adoube gesagt , sonst greift Fide 11.5 !
Wenn das alle machen brauchen wir kein ernstes Schach mehr zu spielen.
Gens una sumus aber nicht so!

Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

Kleine Randbemerkung zu Hans Moke Niemann : Wollte mir gerade die Videos auf “Twitch” von ihm zuführen, auch um herauszufinden, ob Niemann wie ein sehr sehr guter Schachspieler eben über Schach reden <em>kann</em>. Was vielleicht relevant ist. Der Versuch, ich habe jetzt ein wenig Zeit, ging so aus : -> https://www.twitch.tv/gmhansn/videos Angeblich hat Hans Moke Niemann auf “Twitch” publiziert, vergleiche : -> https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Moke_Niemann (‘Da ihm infolge der COVID-19-Pandemie Einnahmen durch Schachtraining verloren gingen, konzentrierte Niemann sich mehr auf Online-Blitzschach und darauf, via Twitch Schach-Streams zu veranstalten.’ – die Textauszeichnungen sind von der bekannten Online-Enzyklopädie übernommen) Was ist da los, wo finde ich audiovisuelles Material mit… Weiterlesen »

Christian Hittinger
Christian Hittinger
1 Jahr zuvor

Man muss mal festhalten, dass Sevian den König nicht “zerbrochen” hat. Das Kreuz steckt bei diesen Figuren in einer Bohrung und ist dort festgeklebt. Bei Hans´ König war das Kreuz locker und schief gestanden, was Sam aufgefallen war. Deshalb gab es auch keinen Stress zwischen den beiden. Warum man den gegnerischen König allerdings während der Partie in die Hand nimmt, um ihn zu checken, bleibt Sams Geheimnis.
Gruß,
Chris H.

capa50
capa50
1 Jahr zuvor

Hi Schachfans

gilt berührt geführt nicht mehr ? mit allen Konsequenzen
Es war nicht von j`adoube die Rede!!