Nicht umzustimmen: Magnus ist raus

Fangen wir mit dem an, was wir wissen. 1: Magnus Carlsen hat sich nach der dritten Runde aus dem Sinquefield-Cup zurückgezogen. Das Turnier wird mit neun Teilnehmern zuende gespielt. 2: Vor der vierten Runde sind die Anti-Cheating-Vorkehrungen beim Sinquefield-Cup verschärft worden.

Ob das eine mit dem anderen zusammenhängt? Es liegt nahe, aber nicht einmal das wissen wir.

Zum Rundenbeginn um Punkt 20 Uhr mitteleuropäischer Zeit am Montag erklärte Magnus Carlsen via Twitter seinen Rückzug.

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Warum er sich zurückzieht, wissen wir nicht. Sicher ist, mit seinem mourinhoartigen Rückzug hat Magnus Carlsen anderen größeren “trouble” beschert, als ihn jemals ereilen könnte.

Offenbar keine spontane Entscheidung. Schon am Montagmorgen hatten Passanten Carlsen in Begleitung seines Vaters auf dem Weg zur Maryland Avenue gesehen, wo der “Saint Louis Chess Club” mit seinem Schachzentrum beheimatet ist. David Sedgwick, Schiedsrichter beim Sinquefield-Cup, hat durchblicken lassen, dass Carlsens Entscheidung eine Debatte mit den Organisatoren vorausging. Der Versuch, den Weltmeister im Turnier zu halten, scheiterte:

Bild

In der gestern zum ersten Mal 15 Minuten zeitversetzten Liveübertragung führte das Ausscheiden Carlsens in letzter Minute zur einer bizarren Sprachlosigkeit. Die Moderatoren waren über die Entwicklung hinter den Kulissen nicht informiert. Als feststand, Carlsen scheidet aus, wussten weder Peter Svidler und Yasser Seirawan noch Alejandro Ramirez, wie sie damit umgehen sollten.

Wie immer sich die Geschichte entwickeln mag, welcher Grund Carlsens sich offenbaren mag, für das Schach war der Montag, 5. September 2022, ein schlechter Tag. Nicht so für den Twitter-Account @ChessRumors, der eine halbe Stunde vor Carlsens Verkündung dem weiteren Verlauf der Geschichte den Weg bereitete. Um 19.30 mitteleuropäischer Zeit twitterte @ChessRumors:

Binnen eines Abends sollte sich danach die Followerzahl des neuen, bis dahin kaum beachteten Accounts etwa verzwanzigfachen. Und die Schachgemeinde hatte ein Objekt ihrer Spekulation gefunden: Schach-Aufsteiger Hans Moke Niemann, der am Tag zuvor mit den schwarzen Steinen Magnus Carlsen überzeugend geschlagen hatte.

Eine halbe Stunde später Carlsens Erklärung, dann nahm die Angelegenheit Fahrt auf, anfangs befeuert von Hikaru Nakamura, der im Stream sogleich suggerierte, Carlsen könne seinen Rückzug erklärt habe, weil Niemann betrogen haben könnte. Wenig später legte Nakamura nach – und strich alle Konjunktive: Der US-Großmeister nimmt jetzt ganz offiziell an, Magnus habe wegen eines Cheating-Verdachts gegen Niemann zurückgezogen. Nakamura bekräftigt, Niemann sei in der Vergangenheit auf chess.com wegen Cheatings gesperrt worden. Die US-Schachseite äußert sich dazu in ihrer eigenen Berichterstattung nicht.

Nakamura ist nicht der einzige, der Niemann beim Onlineschach für einen Cheater hält. Ian Nepomniachtchi hat das in einem seiner Streams ebenfalls in aller Deutlichkeit gesagt. Nach der vierten Runde in Saint Louis drückt sich Nepo zum Niemann am Brett verklausuliert, aber nicht minder deutlich aus: “Mehr als beeindruckend” sei Niemanns Sieg über Carlsen gewesen:

Eher keine Mehrheitsmeinung. Gerade zum Schwarzsieg Niemanns über Carlsen scheint unter Großmeistern eher die Auffassung verbreitet, dieses sei eine beiderseits sehr menschliche Partie gewesen.

Großmeister Rafael Leitao hat die Siege Niemanns über Shakriyar Mamedyarov und Magnus Carlsen unter die Lupe genommen, unterstützt von zwei starken Engines. “Ich habe keinen Hinweis auf Hilfe von außen gefunden.”. Niemann habe mit seinen Entscheidungen an Stellen falsch gelegen, “wo Menschen falsch liegen würden”.

Niemanns Sieg über Shakhriyar Mamedyarov.

Levon Aronian bietet eine andere Perspektive an: „Wenn junge Spieler sehr gut spielen, kommt es ziemlich oft vor, dass ihnen Vorwürfe gemacht werden. Alle meine Kollegen sind ziemlich paranoid. Oft war ich derjenige, der ihnen gesagt hat, kommt schon, Leute. Ich gehe immer erstmal davon aus, dass junge Spieler sehr gut spielen können.”

Verpasste Chance: Der vor der Partie gründlichst gefilzte Niemann war in der vierten Runde gegen Alireza Firouzja nahe am dritten Sieg.

Im St.-Louis-Schach-TV hatte sich derweil Alejandro Ramirez vorgenommen, Niemann nach dessen Remis in der vierten Runde zu grillen. Bei ausgeschalteter Engine sollte Niemann Varianten und Einschätzungen zum vorangegangenen Gefecht liefern. Überzeugend gelang ihm das nicht, eher im Gegenteil. Die auf Twitch live zuschauenden und kommentierenden Nakamura und der kanadische Großmeister Eric Hansen fielen sogleich über den 19-Jährigen her: “Inkohärent” sei Niemanns Vortrag gewesen, so Hansen.

Hikaru Nakamura amüsiert sich.

Nach allem, was sichtbar ist, blickt Niemann auf eine unrühmliche Vergangenheit beim Online-Schach zurück (“Deswegen spreche ich nicht mehr mit ihm“, US-Großmeister und Bullet-Spezialist Andrew Tang). Verdachtsmomente für Betrug beim Schach am Brett sind allenfalls vage, aber in Kombination mit der Online-Vergangenheit ausreichend, um die Hyänen zu wecken, angeführt von den Onlineschachspielern und Klickjägern Nakamura und Hansen.

Allemal ist Niemanns Aufstieg am Brett, seitdem er sich gegen eine Twitch-Karriere entschieden hat, erstaunlich. Die Seite Pawnalyze hat die größten Elo-Aufsteiger von Januar 2021 bis September 2022 miteinander verglichen:

NameCurrent EloRating Change
Niemann, Hans Moke2688204
Mishra, Abhimanyu2549192
Pranav, V2530182
Erigaisi Arjun2725166
Gukesh D2726163
Svane, Frederik2566145

Eigentlich liest sich Niemanns Geschichte wie die eines Aufsteigers, der sich in einem früheren Leben in einer anderen Welt so oft unbeliebt gemacht hat, dass andere nun die Chance wahrnehmen, ihn zurechtzustutzen, seine Karriere zu zerstören womöglich. Eigentlich. Nur hat die aktuelle Affäre jemand ausgelöst, der kaum seine eigene Reputation mit unbegründeten Anschuldigungen gefährden wird, um jemandem sein falsches Spiel beim Online-Bullet heimzuzahlen.

Und das führt zurück zur eingangs gestellten Frage:

Warum hat Magnus Carlsen aus dem Sinquefield-Cup zurückgezogen? Mit Sicherheit gibt es dafür einen substanziellen Grund, aber den kennen wir nicht. Kann sein, dass es etwas mit Hans Moke Niemann zu tun hat.


Nachtrag, 6. September:

Ein Eröffnungsleak? Sollte wirklich jemand Niemann gesteckt haben, was Magnus gegen Nimzo-Indisch plant? Wer soll das gewesen sein? Und das war dann der Grund, warum Niemann bestens präpariert war? Wegen “unvorstellbar” kommt dieses Szenario im Text oben nicht vor, aber der geschätzte Leonard Barden stellt es in der “Financial Times” in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Also sei es hier nachgetragen:

Nachtrag II, 6. September:

Jacob Agaard über seine Zusammenarbeit mit Hans Moke Niemann:

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Neandertaler
Neandertaler
1 Jahr zuvor

Ich möchte über drei Menschen schreiben: Hans Moke Niemanns Erfolge mögen einen gewissen Verdacht erwecken, seine mindestens mal merkwürdigen Analysen nachher mögen diesen erhärten und Vorfälle auf einer Online-Plattform ein gewisses Bild abrunden: Erwiesen ist gar nichts, und solange das so ist, sollte man Vorsicht walten lassen. Mehr Vorsicht, als einigen anscheinend zumutbar ist. Hikaru Nakamura ist, man verzeihe mir dieses Urteil, ein Widerling. Er lebt von Klicks, was keine Schande ist, aber er heimst diese mit allen Mitteln ein. Alles an seinen Beiträgen zum Thema ekelt mich an, vom gekünstelten Lachen bis hin zu Ankündigungen, nichts weiter zu sagen,… Weiterlesen »

Taktikfuchs2000
Taktikfuchs2000
1 Jahr zuvor

Den Text, den Herr Aagaard verfasst hat, muss man mit Vorsicht genießen. Er ist offensichtlich persönlich intensiv mit Hans Niemann bekannt und hat Sympathien für den Jungen. Seine Meinung dürfte nicht sonderlich objektiv sein. Ein paar Beobachtungen: Dass Niemann ein Cheater ist, scheint unter Topspielern eine erhärtete und verbreitete Vermutung zu sein. Nepo, So, Naka, Carlsen sind nur ein paar Beispiele. Was mich wundert: Einige sind offenbar der Meinung, dass, wenn jemand keine absolut perfekte Partie abliefert, es keine Cheaterpartie sein kann. Das ist nicht der Fall. Viele Cheater bauen absichtlich kleine Fehler ein, um es nicht zu auffällig zu… Weiterlesen »

Wolfgang Kuechle
Wolfgang Kuechle
1 Jahr zuvor

Vielen Dank für diesen Artikel, insbesondere der Artikel von Aagaard im Anhang stellt doch einiges klar. Ich bleibe mehr denn je bei meiner Meinung, dass hier ein unsportliches Verhalten von Magnus Carlsen vorliegt. Wenn er Beweise für irreguläres Verhalten seines Gegners hat, kann er offiziellen Protest gegen die Wertung der Partie einlegen. Ein bloßer Verdacht ist kein Grund für den Rückzug aus einem Turnier und die Verunglimpfung des Gegners.

Markus Schirmbeck
1 Jahr zuvor

Ich habe begründete Zweifel an der Schuld Niemanns und finde das Verhalten von Carlsen sehr fragwürdig. Sein “Gefühl” reicht mir da bei weitem nicht aus. Entweder gibt es da noch mehr, dann soll er sofort damit rausrücken. Derzeit bewegt er sich durch seine Andeutungen im Bereich der Rufschädigung.

Micha
Micha
1 Jahr zuvor

schöner Artikel. Auch wenn es keine Beweise zu den Vorwürfen gibt, ist es gut zusammengetragen was die derzeitige Lage so hergibt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Carlsen vielleicht auch einfach abwarten möchte wie die verschärften Anti-Cheating-Regeln wirken. Ob Niemann das hohe Level halten kann oder bricht er ein? Ich persönlich finde Niemanns Werdegang sehr bemerkenswert. Er war bis vor 2 Jahren nahezu unbekannt. Mit 17 Jahren und einer Elo unter 2500 fällt man im Spitzenschach eben nicht besonders auf. Großmeister wurde er erst als er fast 18 Jahre alt war. Ganz anders als die anderen aufstrebenden Youngster, die mit… Weiterlesen »

Fernando Offermann
1 Jahr zuvor

Etwas ernüchternd zu sehen, wie autoritätsgläubig doch so viele auf den Zuschauerbänken sind. Wenn ein Weltklassespieler wie Nakamura etwas sagt/glaubt/tut, dann beruft man sich gern darauf. Dass solche Leute, die ihr Leben dem Schach gewidmet haben, ohne eigene Familie leben und sozial häufig eher weniger kompentent sind, in der Krise ihre Schwächen zeigen, ist für mich eher normal und erwartbar, für andere aber undenkbar. Nakamura zeigt die gleiche Inkompetenz wie viele andere Menschen auch, die den Umgang mit Lästereien nicht erlernt haben. Schade nur, dass niemand Nakamura berät oder schützt, denn Beratung und Schutz (vor sich selbst) könnte er gut… Weiterlesen »

chessseb
chessseb
1 Jahr zuvor

Rumors are carried by haters, spread by fools, and accepted by idiots.

Matthias Ruf
1 Jahr zuvor

Was mich in dem Interview von Hans Niemann nach seinem Sieg gegen Magnus Carlsen gestört hat war, wie überheblich er sofort nach der Weltmeisterkrone getrachtet hat. Es reichte ihm als Ziel nicht aus, lediglich Top 10 Spieler zu werden. Woher kommt dieser Hochmut und diese Siegesgewissheit? Die Manipulation beim Schach hat etwas von Zauberei. Die Menschen sehen beim Tricksen zu, aber sie verstehen nicht die verborgene Übermittlung der besten oder zweitbesten Züge. Hans Moke ist ein großer Magier in seinen Auftritten, der trotzdem bei der Partieanalyse seine Schwächen offenbart. Die bisherige Geschichte der Chess Cheater untersuchend fällt auf, dass diese… Weiterlesen »

trackback

[…] in der Partie gegen Carlsen gewonnenen Elopunkte wird Niemann behalten. Zwar zählt die Partie nach Carlsens Rücktritt nicht für den Sinquefield-Cup, aber für die Elozahl ausgewertet wird sie […]

Manfred Menacher
Manfred Menacher
1 Jahr zuvor

Solange die Schuld nicht bewiesen ist, ist er wie ein Unschuldiger zu behandeln und jede Spekulation ist unseriös, wenn auch menschlich. Man muss aufpassen die Psyche eines Unschuldigen nicht zu zerstören, weil man es aufregend findet ihn verdächtig erscheinen zu lassen. Er führt das Turnier an und wurde schon gefilzt. Ich hoffe er wird Weltmeister und zeigt es Allen. Großspurig daher zu reden ist im Boxgeschäft völlig normal und sogar von den Fans gewünscht. Auch das darf ein selbstbewusster junger Mann mit ehrgeizigen Zielen!

Manfred Menacher
Manfred Menacher
1 Jahr zuvor

Ich empfehle diesen Beitrag von gothamchess. https://www.youtube.com/watch?v=x-q64bPo0J0 Wie um alles in der Welt könnte einer bei einem Live-Turnier am Brett betrügen? Die Anschuldigungen sind auch meines Erachtens völlig haltlos und absurd.
Carlsen hat schlicht und einfach eine schlechte Partie gespielt.

Last edited 1 Jahr zuvor by Manfred Menacher
Ludger Keitlinghaus
Ludger Keitlinghaus
1 Jahr zuvor

Sehr schön zusammengefasst, der aktuelle Stand zum Carlsen-Rückzug ist gemeint, danke.
Hans Niemann macht auf mich einen guten Eindruck, die kleinen Betrügereien online sind verachtenswert und vielleicht entschuldbar, beim Turnierschach müsste anders vorgegangen worden sein, betrügerisch, es müssten sich da Indizien im oder beim Turniersaal finden lassen.
Mitarbeiter zum Beispiel.

MFG
LK

Chris
Chris
1 Jahr zuvor

Gestern hat sich Niemann nach der Partei ausführlich zum Geschehen geäußert. Ich mag nicht darüber spektulieren. Hoffe es ist in Ordnung den Link hier reinzusetzten. Sehr gefallen hat mir am Schluss die Reaktion von Hr. Svidler.

https://www.youtube.com/watch?v=CJZuT-_kij0

trackback

[…] Nicht umzustimmen: Magnus ist raus6. September 2022: als das Carlsen-Niemann-Drama begann und der DSB einen Wettkampf Keymer-Niemann absagte, für den Fördergeld geflossen war. […]

Bernd Schneider
Bernd Schneider
1 Jahr zuvor

Ich halte die ganze Angelegenheit für ein absolut unfaires Spiel von Magnus Carlsen. Gibt es einen begründeten Verdacht, dann muss dieser auch klar benannt werden. Er schwafelte zwar etwas davon, es nicht benennen zu können, aber dies macht die Sache noch unangenehmer, noch ekeliger. Leider war ich in der Vergangenheit 2x Opfer von Betrügern am Brett und am Computer. Selbstverständlich habe ich jeweils meinen begründeten Verdacht öffentlich gemacht, bzw. den Turnierorganisatoren / verantwortlichen Funktionären zur Kenntnis gebracht. Auch wenn ich aus dem Umfeld der “Unschuldslämmer” viel Kritik ertragen musste, die Wahrheit siegte in beiden Fällen. Magnus Carlsen hat einen anderen… Weiterlesen »

Matthias Ruf
1 Jahr zuvor

Im Interview von Hans Moke Niemann gestand er ein, einmal als 12-Jähriger und einmal als 16-Jähriger bei Online-Schach Computerhilfe benutzt zu haben. Dazu möchte ich anmerken, dass wenn jemand beim Ladendiebstahl zweimal vom Kaufhausdetektiv ertappt wird, es umso wahrscheinlicher ist, dass er an anderen Tagen noch mehr Ware entwendet hat. Als Ratschlag für das Leben sollte man Menschen, die schon mehrfach betrogen und gelogen haben, eher meiden und keinesfalls vertrauen. In unserer Gesellschaft spielt das aber immer weniger eine Rolle. Da ChessBase und Bundestrainer Jan Gustaffson passend aus Hamburg stammen sei ein anderes Beispiel zum Cheating im Sport angeführt. Es… Weiterlesen »

Martin Rieger
Martin Rieger
1 Jahr zuvor

Das jetzt mit den nachträglichen Analysen ist schon krass. Am Brett sieht er fast alles und in der Analyse wie ein IM. Mag auch Zufall sein aber das gepaart mit seinen Aussagen und seinem Verhalten ergibt schon ein sonderbares Bild. Ich habe seine Partien mit diversen Engines gecheckt und jeder der sich halbwegs mit Cheating auskennt wird darin zweifelsfrei die Handschrift des 2./3. Zuges erkennen. Mehr sage ich dazu nicht mehr.