Und jetzt Weltmeister? Matthias Blübaum fliegt nach Reykjavik zur 960-WM

Niemand geht schärfer mit Matthias Blübaum ins Gericht als Matthias Blübaum. Wer den amtierenden Europameister und die deutsche Nummer zwei nach seinen Partien fragt, auch nach gewonnenen, der bekommt in der Regel Vokabeln wie “grauenhaft” oder “schrecklich” zu hören. Am Mittwoch stellte Blübaum fest, er habe in manchen Partien schlecht gespielt, in einer sogar wie ein “kompletter Idiot”.

Wie müssen dann erst die anderen sieben Spitzengroßmeister gespielt haben? Aus den acht internationalen Topspielern, die am Dienstag und Mittwoch auf chess.com um einen Platz im Finale der Schach960-WM in Reykjavik rangen, darunter Vincent Keymer und Alexander Donchenko, ging Blübaum als Sieger hervor. Nach Matchsiegen über den Weißrussen Vladislav Kovalev und den Russen Alexei Sarana besiegte Blübaum im Finale die tschechische Nummer eins David Navara. Ende Oktober in Island wird Blübaum unter anderem gegen Titelverteidiger Wesley So und Vizeweltmeister Magnus Carlsen um die 960-WM kämpfen. 20.000 Dollar Preisgeld hat er schon sicher.

Einer kam durch: Matthias Blübaum. | via chess.com/Twitch

Vor knapp zwei Wochen hat die FIDE die zweite 960-Weltmeisterschaft nach 2019 angekündigt. Das Format ist auch hinsichtlich der aktuellen Debatte um den WM-Modus interessant: Gespielt wird in Vorrunden auf chess.com und Lichess, offen für alle (die letzten Vorrunden auf Lichess laufen noch bis zum 2. September). Danach wird das Feld bis in die K.o.-Phase heruntergespielt.

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Am Ende qualifizieren sich jeweils zwei Spieler auf chess.com und zwei auf Lichess für die das Finale, in dem vom 25. bis 30. Oktober in Reykjavik der Titel ausgespielt wird (eine Referenz an das WM-Match 1972 ebendort). Die vier anderen der acht Spieler im mit 400.000 Dollar dotierten Finale sind vorberechtigt: der Titelverteidiger Wesley So, dessen Herausforderer von 2019 Magnus Carlsen, der beste Isländer, Hjorvar Steinn Gretarsson. Welchen Spieler die FIDE einlädt, ist noch nicht bekannt. Über chess.com sind jetzt der Russe Vladimir Fedoseev und der Deutsche Matthias Blübaum qualifiziert.

Navara vs. Blübaum, die vierte und entscheidende Matchpartie, wahrscheinlich die höchstdotierte Schachpartie, die beide Kontrahenten je gespielt haben: Wer gewinnt, bekommt 20.000 Dollar (und die Aussicht auf viel mehr), wer verliert, bekommt 500.

Das Finale in Island wird nach einem ähnlichen System wie die Grand-Prix-Turniere gespielt, beginnend mit zwei Vorrundengruppen aus jeweils vier Spielern. Die ersten beiden jeder Gruppe kommen ins Halbfinale, danach das Finale. Der Sieger des Final-Matches ist Weltmeister. Bedenkzeit: 25 Minuten pro Spieler für die ersten 30 Züge, danach erhält jeder Spieler zusätzliche 5 Minuten auf der Uhr und einen Zuschlag von 5 Sekunden pro Zug.

Vor drei Jahren hat die FIDE beschlossen, eine offizielle 960-Weltmeisterschaft auszurichten, allerdings unter dem anderen Namen des Spiels: “Fischer Random”. Ideal ist das nicht, “Schach960” wäre der bessere, einleuchtendere Name (siehe unten verlinkter Text), aber es scheint offiziell vorerst beim Fischerschen Zufallsschach zu bleiben.

Die Variante sei von Profis wie Zuschauern gleichermaßen geschätzt, die FIDE werde sich deswegen weiter um sie bemühen, erklärte jetzt FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich nach der Corona-Zwangspause, die erst drei Jahre später die zweite WM möglich gemacht habe. “Wir sind aber entschlossen, das Spiel weiter zu fördern”, sagt Dvorkovich, der sich über das Interesse des norwegischen wie des isländischen Fernsehens freut. Hier wie dort wird die 960-WM live im TV übertragen.

Das Finale der Vorrundengruppe mit drei Deutschen am Mittwoch war auf vier Partien angesetzt, “High-Stakes-Schach” und ein Nervenspiel, wie Kommentator Daniel Naroditsky anmerkte. Während der Verlierer des Finales der mit 2500 Dollar Preisgeld dotierten Vorrundengruppe sich mit ein paar hundert Dollar würde begnügen müssen, waren dem Gewinner des Matches 20.000 Dollar schon sicher.

https://twitter.com/ChesscomLive/status/1564956287762575360
https://twitter.com/ChesscomLive/status/1564965602162315264

Die ersten drei Partien gingen nach einigem Hin und Her remis aus. Auch in der vierten stand ein Remis zur Debatte, aber Blübaum wich möglichen Zugwiederholungen aus. “Ich hatte die bessere Zeit, meine Stellung war in Ordnung. Also wollte ich das Glücksspiel Armageddon vermeiden.”

Ein entscheidender Moment der entscheidenden vierten Partie ergab sich nach 13 Zügen:

Blübaum mit Schwarz, Stellung nach 13…b6.

Während die (exzellenten!) Kommentatoren Jon-Ludvig Hammer und Naroditsky noch debattierten, ob Weiß denn hier rochieren dürfe (natürlich darf er) und ob sich David Navara dessen bewusst sei, entschied sich der Tscheche trotz knapper Zeit für das aggressive 14.a4. Damit wollte er seinen Turm ins Spiel bringen und Ärger auf der a-Linie anzetteln.

“Ich hatte mit der Rochade gerechnet, dann tauschen wir auf der d-Linie, und es wird wahrscheinlich remis”, erklärte Blübaum nach der Partie. Mit 14.a4 habe Navara klar angezeigt, dass er gewinnen will. “Ich hatte ihm ja schließlich auf b6 ein Ziel angeboten.”

Endgültig zugunsten des Deutschen neigte sich die Waagschale nach 28.Sa4:

Schwarz nimmt den Springer, danach …cxb4, und dann ist egal, ob Weiß die Damen vom Brett nimmt oder nicht. Die weiße Stellung ist nicht mehr zu halten. Elf Züge später gab sich Navara geschlagen.

Das komplette Match im Video.

Nun wird Matthias Blübaum in Reykjavik unter anderem auf Magnus Carlsen treffen, eine Begegnung, die es schon am vergangenen Dienstag im Titled Tuesday auf chess.com gegeben hat. Blübaum nutzte die Gelegenheit, um sogleich den psychologischen Kampf zu eröffnen: “Da hat er mich total überspielt” (“crushed me”), log (?) Blübaum. Aber es sei immer eine schöne Erfahrung, sich mit solchen Spielern messen zu dürfen.

Total überspielt? Wir können an dieser Stelle natürlich nicht ausschließen, dass der im Schach minderbegabte Schreiber dieser Zeilen das Geschehen am vergangenen Dienstag misinterpretiert hat. Wahrscheinlicher erscheint aber, dass Blübaum Carlsen in Sicherheit wiegen möchte. Oder ist er seinem Selbstgeißelungsreflex erlegen?

Mögen sich die Lesenden selbst ein Urteil bilden:

https://youtu.be/8uh7ZDQZdVI
Magnus Carlsen vs. Matthias Blübaum.

Sieht so “total überspielt” aus?

Bericht über Blübaums Sieg auf chess.com

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